Leitartikel

Sexualisierte Gewalt und kriminologische Indikation. Das wollte ich nicht!

Immer wieder werden Frauen* Opfer sexualisierter Gewalt – anschließende Schwangerschaft nicht ausgeschlossen. Im Vorfeld der Wiesn und der ÄKBV- Veranstaltung dazu (s. Kasten) sprachen die MÄA mit Dr. Cornelia Baur und Svenja Zölch von pro familia über häusliche Gewalt, K.o.-Tropfen und die kriminologische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch.
Sexualisierte Gewalt und kriminologische Indikation. Das wollte ich nicht!
Sexualisierte Gewalt und kriminologische Indikation. Das wollte ich nicht!

Foto: Shutterstock

Wie häufig ist eine kriminologische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch?

Baur: Die Zahlen beim Statistischen Bundesamt variieren in Deutschland meist zwischen 25 und 35 pro Jahr, aber 2021 sind sie deutlich auf 50 angestiegen. Parallel gab es 2021 auch mehr Fälle von häuslicher Gewalt. Letztes Jahr wurden 35 Frauen* mit kriminologischer Indikation erfasst. Die Dunkelziffer ist vermutlich weit höher. Zum Vergleich: die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche nach Beratungsregelung lag 2021 bei ca. 90.600 und 2023 bei ungefähr 102.000. Das heißt, die kriminologische Indikation kommt statistisch gesehen so gut wie nie vor.

Zölch: Diese niedrigen Zahlen spiegeln unserer Meinung nach nicht die Realität wider. In den Schwangerschafts- konfliktberatungen kommt durchaus immer wieder das Thema auf, inwieweit die Sexualität wirklich einvernehmlich war. Wenn jedoch ein Schwangerschaftsabbruch, bei dem eine kriminologische Indikation vorliegen würde, nach der Beratungsregelung durchgeführt wird, taucht dieser nicht in der Statistik als kriminologische Indikation auf – selbst wenn eindeutig eine Straftat vorliegt. Und in der Beratungsstatistik, die wir ausfüllen, gibt es keine entsprechenden Kriterien.

Woran liegt das?

Zölch: In dem von der Regierung vorgegebenen anonymen Fragebogen, den wir nach jeder Beratung für die Statistik ausfüllen, werden bei Schwangerschaftskonfliktberatungen unter anderem die Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch erfasst. Angeben können wir dort z.B. Schwierigkeiten in der Partnerbeziehung, psychische oder physische Überforderung, das Alter der Schwangeren, Angst vor dem Alleinerziehen, Arbeitslosigkeit, Wohnungsprobleme, Familienplanung abgeschlossen, kein Kinderwunsch. Unfreiwillige Sexualität oder der Ver- dacht auf toxische Substanzen sind als mögliche Gründe nicht gelistet.

Wie erklären Sie sich das?

Baur: Vermutlich geht man davon aus, dass Frauen*, die eine Vergewaltigung erlebt haben, den Übergriff klar für sich einsortieren können und den Weg der kriminologischen Indikation kennen. Frauen* erleiden aber meistens Gewalt durch bekannte Personen. Vor allem in toxischen Beziehungen oder bei häuslicher Gewalt ist vielen Frauen anfangs nicht klar, dass das Verhalten ihres Partners grenzüberschreitend ist. Häusliche Gewalt endet meist nicht bei der Sexualität.

Zölch: Auch gibt es Fälle, bei denen der Verdacht auf toxische Substanzen geäußert wird, z.B. K.o.-Tropfen, und dies der Frau* erst zeitversetzt bzw. in der Beratung nach und nach bewusst wird, was eigentlich geschehen ist.

Wie erklären Sie es sich, dass die Frauen* das Geschehene so oft nicht einordnen können?

Zölch: Bei sexualisierter Gewalt sind, wie schon gesagt, die meisten Täter keine Fremden, und viele Übergriffe geschehen in zunächst harmlosen Situationen. Dadurch sind viele Frauen* erstmal total überrumpelt und extrem verunsichert, das Geschehene überhaupt für sich einzuordnen. Oft fragen sich Frauen* auch: Was habe ich falsch gemacht? Habe ich mich nicht klar genug geäußert, oder habe ich es nicht deutlich genug gemacht? Leider suchen betroffene Frauen* immer wieder auch die Schuld bei sich. Doch sexualisierte Gewalt in jeglicher Form ist Unrecht und eine Menschenrechtsverletzung.

Wer hat bei einer kriminologischen Indikation die Beweislast?

Baur: Es gibt hier keine Beweislast. Für die Feststellung der kriminologischen Indikation ist die Schilderung der Frau* ausschlaggebend. Prinzipiell kann jeder in Deutschland approbierte Arzt* und jede Ärzt*in eine kriminologische Indikation ausstellen, und die Patientin ist nicht verpflichtet, eine Anzeige zu erstatten. Eine Spurensicherung ist ebenfalls freiwillig, doch sie ist natürlich sinnvoll, wenn die Frau* den Täter anzeigen will. Aber für die kriminologische Indikation ist sie nicht erforderlich durch K.o.-Tropfen oder nicht einvernehmlichen Sex schwanger geworden bin, genügt es, einen Arzt* aufzusuchen. Eine zeitliche Begrenzung gibt es nur durch die ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft, innerhalb derer ein Abbruch vorgenommen werden kann.

Zölch: Wenn einer Frau* bewusst ist, was passiert ist, ist der Weg für eine kriminologische Indikation direkt über einen Arzt*. Sie braucht keinen Beratungsnachweis über eine Schwangerenkonfliktberatung, und die Krankenkasse trägt die Kosten für den Schwangerschaftsabbruch. Es kommt aber durchaus vor, dass erst in einem Schwangerenkonfliktgespräch nach und nach klar wird, dass der Sex nicht einvernehmlich war. Häufig entscheiden sich die betroffenen Frauen* am Ende dennoch für einen Abbruch nach der Beratungsregelung, weil sie Sorge haben, dass ihnen niemand glaubt. Sie tun dies, obwohl sie den Abbruch dann selbst bezahlen oder sich bei geringem Ein- kommen um eine Kostenübernahme bemühen müssen.

Am 21. September beginnt die Wiesn. Was raten Sie Frauen*, die sich vor sexualisierten Übergriffen in dieser Zeit schützen möchten? 

Baur: Prinzipiell ist es schon erschütternd, dass man sich darüber Gedanken machen muss. Zur Wiesn gelten dieselben Empfehlungen wie sonst leider auch: Gemeinschaften bilden, aufeinander achten, zusammen bleiben, auf die eignen Getränke achten und bestehende Hilfsangebote vor Ort unbedingt annehmen, z.B. den Wiesn Safe Space (s. QR-Codes auf S. 7). Und es geht auch um Zivilcourage die uns alle angeht. Jede*r sollte auf andere Menschen achten und sich zuständig fühlen, Hilfe zu organisieren.

Zölch: Frauen*, die sich womöglich in einer hilflosen Lage befinden, sollte man ansprechen: „Geht es dir gut?
Brauchst du Hilfe? Ist alles in Ordnung bei dir?“. Ich finde, es ist eine gesellschaftliche Aufgabe und Haltung, sich füreinander einzusetzen und jegliche Form von Gewalt und entsprechendem Verhalten gegenüber anderen Menschen abzulehnen.

Wie häufig sind K.o.-Tropfen bei sexualisierter Gewalt im Spiel? 

Zölch: Das lässt sich sehr schwer sagen. Oft setzt die Wirkung von K.o.-Tropfen zeitverzögert ein und lässt sich kaum von den Wirkungen von Alkohol abgrenzen. Somit ist es äußerst schwierig zu definieren, ob zusätzlich K.o.-Tropfen im Spiel sind.

Baur: GHB (Gamma-Hydroxybutyrat) und GBL (Gamma-Butyrolacton) sind im Urin leider nur etwa zehn bis zwölf Stunden nachweisbar, und im Blut sogar maximal sechs. Bis die Betroffenen aufwachen, sind die Substanzen teilweise schon wieder abgebaut oder verstoffwechselt. Benzodiazepine sind etwas länger nachweisbar. Aber ein negativer Urin- oder Bluttest ist je nach Dosierung kein Beweis, dass keine K.o.-Tropfen im Spiel waren.

Wie offen gehen Frauen* Ihnen gegenüber mit der Tatsache um, dass sie sexualisierte Gewalt erlebt haben?

Zölch: Nach wie vor ist es eher ein tabuisiertes und dadurch auch schambehaftetes Thema. Dennoch kann es sich in den unterschiedlichen Beratungskontexten auftun. Grundsätzlich geht es darum, als Berater*in dafür sensibilisiert zu sein, die Frau* ernst zu nehmen und sie über weitere spezialisierte Angebote aufzuklären. Manche Frauen* äußern sich offener dazu, andere Frauen* wollen (noch) nicht darüber reden oder aber verschweigen das Geschehene.

Wie reagieren Ärzt*innen angemessen, wenn eine Person sagt: Ich habe sexualisierte Gewalt erlebt? 

Baur: Auch hier, denke ich, ist es ebenso wichtig die Betroffenen ernst zu nehmen, hinzuhören, sensibel nachzufragen und sie über weitere Fachstellen zu informieren und ggf. weiter zu verweisen. Dazu zählen z.B. viele Münchner Krankenhäuser (s. MÄA 04/2024), der Frauen*notruf, die Beratungsstelle IMMA für Mädchen* und junge Frauen* oder auch das Frauen*therapiezentrum.

Zölch: Obwohl die Dunkelziffer von Menschen, die von sexualisierter und / oder häuslicher Gewalt betroffen sind, hoch ist, werden diese Gewalterfahrungen in Arztpraxen und Schwangerenberatungsstellen häufig nicht in aller Deutlichkeit benannt. Der Fachtag dient dazu, das Bewusstsein und die Sensibilität diesbezüglich zu schärfen und Fachpersonal sicherer im Umgang mit Betroffenen werden zu lassen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 19 vom 07.09.2024