Leitartikel

Robotik-Hoffnung für Querschnittsgelähmte, Schlicht ergreifen(d)

Künstliche Intelligenz macht Vielen Angst. Doch sie ist auch eine Chance, z.B. für Menschen mit Behinderung. Die MÄA sprachen mit Prof. Dr. Bernhard Meyer, Prof. Dr. Simon Jacob und Prof. Dr. ing. Sami Haddadin von der Technischen Universität München über eine wegweisende Studie am Klinikum rechts der Isar. Ihr ambitioniertes Ziel: ein selbstbestimmteres Leben für Menschen, die ihre Arme und Hände nicht mehr bewegen können.

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Um was geht es bei Ihrer Studie und wie sind Sie auf die Projektidee gekommen?

Haddadin: Vereinfacht gesagt geht es darum, dass wir über die Implantation einer Hirnschnittstelle z.B. Menschen mit einer hohen Querschnittslähmung irgendwann ermöglichen möchten, einen Roboterarm zu steuern und so unabhängiger zu werden. Die Grundidee und das Pionierexperiment entstanden während meiner Tätigkeit vor ca. 15 Jahren am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Mitte der 2000er fand man heraus, dass sich eine Computermaus über ein Hirnimplantat bewegen lässt. Ich fragte mich schon früh, wie Roboter übers Gehirn so gesteuert werden können, dass Menschen mit einer Behinderung zum Beispiel ein Glas Wasser zum Mund führen können. Unsere erste Studie dazu wurde bereits vor über zehn Jahren publiziert, aber damals verfügten wir nur über sehr einfache Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI), und es fehlten mir auch noch Mitstreiter*innen in Deutschland von medizinischer Seite. Als ich im Jahr 2018 an die Technische Universität München berufen wurde, wusste Bernhard Meyer bereits von der Berufung von Simon Jacob. Zu dritt sind wir ein einmaliges Team, um unser Projekt irgendwann in die Klinik zu bringen.

Meyer: Ich wollte schon immer ein solches Projekt starten und war sehr glücklich, dass an der TUM München nun drei geeignete Partner aus der Robotik (Prof. Haddadin), der Neurophysiologie (Prof. Jacob) und mit mir aus der Neurochirurgie zusammenkamen. Mittlerweile haben wir in allen drei Wissenschaftszweigen einen Quantensprung nach vorne gemacht.

Jakob: Als Neurophysiologe geht es in meinem Fach um das mikroskopisch feine Verständnis der Hirnfunktionen. Wir messen mit Sonden die elektrische Aktivität von einzelnen Hirnzellen und wissen, wie man Signal und Rauschen voneinander trennt, sodass die Datenqualität top ist. Mit diesen Daten kann Prof. Haddadin dann die Roboter steuern. Unsere Arbeit ist wie ein Dreiklang. Alle drei Wissenschaftsgebiete sind nötig, damit ein gutes Ergebnis entsteht.

Wie weit sind Sie mit der Forschung?

Meyer: Wir sind bereits in der Lage, die Forschung auf Patient*innen zu übertragen und befinden uns damit am Beginn einer klinischen Anwendung. Noch gibt es ein paar mühselige Vorarbeiten, aber wenn erstmals ein Patient oder eine Patientin einen Roboterarm steuern kann, können wir das Konzept auf weitere Patient*innen übertragen.

Jacob: Wir verwenden dieselbe Schnittstelle, die etwa auch bei unserer Studie zur Aphasie (s. MÄA 05/21 auf www.aerztliche-anzeigen. de) zum Einsatz kommt und die diese Patientin bereits seit einem Jahr beschwerdefrei trägt. Es gibt ein seit 20 Jahren gut validiertes Sicherheitsprofil, und unsere Erfahrungen etwa aus der Aphasieforschung fließen direkt in diese nächste Studie ein.

Haddadin: Die Roboterarme sind fertig und einsatzbereit. Derzeit fragen wir uns: Wo wird das Implantat optimalerweise angebracht? Wie sehen gute Daten aus, um Signale für den Roboter zu generieren und in Methoden der künstlichen Intelligenz umzusetzen? Wie schaffen wir den Ringschluss zwischen den neuronalen Daten der Menschen, den Roboterkontrollsignalen, der Messung des Roboters und seiner Rückkopplung? Wie bei Gliedmaßen von Menschen kann unser Roboter über seinen „Tastsinn“, seine interne Messung oder über seine Kameradaten wichtige Informationen geben, um z.B. den Prozess des Greifens zu steuern.

Was macht die künstliche Intelligenz in diesem Zusammenhang?

Haddadin: Wenn Sie neuronale Daten messen, haben Sie noch keine Bewegungsdaten, sondern zunächst nur Hirndaten. Unser Ziel ist, dass der Roboterarm irgendwann verzögerungsfrei, genau, sicher und möglichst natürlich arbeitet. Die Patient*innen sollen in der Lage sein, die Maschine so zu steuern als wäre sie ihr Arm. Das muss über die KI gelernt werden. Dazu testen wir seit vielen Jahren motorische Muster von verschiedenen Menschen und bauen dieses Wissen in die KI ein.

Für welche Patient*innen kommt die Teilnahme an der Studie in Frage?

Meyer: Aktuell suchen wir exemplarisch einen Patienten oder eine Patientin, der oder die zum Beispiel aufgrund eines Unfalls in jungen Jahren vom Hals abwärts querschnittsgelähmt, aber ansonsten relativ gesund ist. Die Person sollte körperlich wie geistig in der Lage sein, unsere Experimente durchzuführen und muss motiviert sein, denn die Sitzungen können langwierig sein und erfordern Geduld. Wer mitmachen möchte, muss außerdem zustimmen, dass wir bei einem chirurgischen Eingriff Elektroden direkt an der Gehirnoberfläche implantieren – an einer vorher von uns dafür kartografierte Stelle. Das Implantat muss außerdem von den Angehörigen bzw. allen, die in die Pflege involviert sind, regelmäßig gepflegt werden.

Was ist das Ziel dieser Studie?

Jacob: Zum einen möchten wir Hoch-Querschnittsgelähmten irgendwann mehr Mobilität, Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Lebensqualität ermöglichen. Als Forscher möchten wir aber auch unsere Daten zum Ansteuern des Roboters zu einer Hypothesen-Validierung nutzen: Stimmen unsere Theorien zur Arbeit des Gehirns? Bei der Forschung zum motorischen Akt des Sprechens gab es in den letzten beiden Jahren vielversprechende Fortschritte. Schon heute können Menschen mit Aphasie, deren sprechmotorischer Apparat und Kortex aber noch intakt sind, mit hoher Präzision einen Sprachcomputer steuern und so ein passendes akustisches Sprachsignal erzeugen. Dieses Vorgehen streben wir jetzt auch für die Bewegung von Extremitäten an.

Was für Risiken gehen die Pat ent*innen ein, die sich bei Ihnen melden?

Meyer: Kein neurochirurgischer Eingriff ist komplett ungefährlich. Aber das Risiko ist sehr überschaubar, wie wir an unserer Patientin mit Aphasie sehen konnten. Wir haben die Elektroden auch immer wieder während verschiedener neurochirurgischer Operationen testweise implantiert und dann wieder entfernt. Wer mitmachen möchte, muss aber bereit sein, mehrmals pro Woche mit uns zusammenzuarbeiten. Es ist eben auch ein wenig Pionierarbeit von Seiten der Patient*innen.

Haddadin: Wir hoffen, dass der Roboter – im Rahmen der Studie würde ich zunächst eher von einer Neuroprothese sprechen – irgend - wann mit Patient*innen interagieren kann. Daher muss die Maschine absolut sicher sein. Nicht nur unser Prozess, sondern ihr ganzes Design ist extrem sicherheitsorientiert: mit Ultraleichtbauweise, feinfühliger Sensorik, die in Millisekunden Kontakte erkennt, extrem weicher Oberfläche. Wir haben uns bei der Entwicklung jahrelang damit beschäftigt, diese Sicherheit zu garantieren, selbst wenn der Patient oder die Patientin mal nicht aufpasst.

Was müssen die Patient*innen schließlich tun, die sich bei Ihnen bewerben?

Meyer: Zunächst werden wir ihre Hirnfunktionen nicht invasiv messen. Dann wird die Implantation geplant und durchgeführt. Danach beginnen die ersten Ableitungen und dann erst der Anschluss an das System. Zwischen den einzelnen Schritten wird viel Zeit vergehen, weil wir zunächst eine Unmenge von Daten bekommen werden, aus denen wir dann die eigentliche Information konstruieren müssen. Wir rechnen mit ca. fünf Jahren Studiendauer. Da wir Neuland betreten, kann der Prozess noch nicht komplett vorhergesehen werden, aber alles wird sehr kontrolliert ablaufen. Und sollte irgendwann der Eindruck entstehen, dass die Patientensicherheit gefährdet ist, ist die Implantation auch wieder reversibel.

Haddadin: Es wird so sein als würde man über Jahre hinweg neue motorische Fähigkeiten lernen, sie erweitern und auf neue Kontexte anwenden. Zunächst wird man versuchen, zielgerichtete und dynamische Bewegungen zu steuern. Danach wird es um Greif- und eventuell auch Manipulationsvorgänge gehen. Es erhöhen sich also Komplexitätsstufen und Anforderungen. Wir hoffen, dass auch die Fähigkeiten der Testperson an den Systemen mit der Zeit wachsen, damit wir die Algorithmen so „trainieren“ können, dass eine immer bessere Prothese entsteht.

Welche Herausforderungen gab und gibt es bei der Studie?

Haddadin: Wir erhoffen uns einen weiteren Quantensprung, weil wir diese einmalige Situation mit unseren drei Expertisen hier in München haben und weil dies gepaart ist mit weltweiten großen Fortschritten in der KI. Diese Fortschritte basieren allerdings auf vielen, vielen Daten, also auf Big Data. Ein großes Anliegen von mir ist, mit einer abzählbaren Anzahl an Patient*innen diese Methoden so zu erweitern, dass sie mit beliebigen Mengen von Daten zurechtkommen. Die gute Nachricht ist, dass wir hier in München Methoden der KI, des maschinellen Lernens, entwickelt haben, die diese Art der Dateneffizienz bereits eingebaut haben.

Wann können Menschen mit starker Querschnittlähmung mit dieser Neuroprothese selbstständig leben?

Meyer: Das kann ich nicht sagen, und es ist sehr schwer, hier in die Zukunft zu schauen. Unsere Arbeit bringt sicher nicht sofort einen schnellen Erfolg. Ich rechne aber damit, dass es nach den fünf Jahren mit dieser Studie deutlich schneller vorangeht.

Jacob: Damit die Menschen das System irgendwann eigenständig anwenden können, wird es noch andere technologische Entwicklungen brauchen, die nicht in unserem Fokus liegen. Die derzeitigen Systeme sind an ein klinisches Laborsetting gebunden. Man kann die Messapparaturen und Konnektoren nicht einfach mit nach Hause nehmen und sich dann dort z.B. die Zähne putzen. Aber nach unserer hoffentlich erfolgreichen Studie wird es sicher ein paar ingenieurtechnische Durchbrüche geben, um das System für den Heimgebrauch zu etablieren.

Was haben die Patient*innen davon, wenn sie mitmachen, und wie können sie Kontakt zu Ihnen aufnehmen?

Haddadin: Dieses Projekt existiert so europaweit noch nirgends, und auch in den USA arbeiten nur wenige Kolleg*innen an solchen Lösungen. Neue Systeme werden natürlich nur dann entwickelt, wenn es auch Patient*innen gibt, die bei der Entwicklung mithelfen möchten. Sie sind als Proband nicht Konsument, sondern Teil der Entwicklung einer Technologie, die vielleicht in der Zukunft vielen Menschen helfen kann. Wer Interesse hat, schreibt uns einfach eine Email an

aid-studie@mri.tum.de.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr,. 24 vom 18.11.2023