Evidenz in der Corona-Forschung, Zwischen Glauben und Wissen
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Herr Prof. Antes, wie gut ist die aktuelle Evidenzlage zu SARSCoV-2 bzw. Covid-19 aus Ihrer Sicht?
Katastrophal. Zum Einen, weil die Sachlage objektiv sehr komplex ist, aber auch, weil viele Dinge nicht getan werden. Aus meiner Sicht müsste man erhebliche zusätzliche Anstrengungen unternehmen, um mehr Evidenz zu schaffen. Dass diese fehlt, merkt man schon alleine daran, wie unterschiedlich die Maße und Maßnahmen in den verschiedenen Ländern sind. Wir in Deutschland empfehlen z.B. einen Mindestabstand von 1,5 Metern, Österreich dagegen nur einen Meter. Beides kann nicht richtig sein. Wenn ein Meter reicht, dann ist jede höhere Zahl sozusagen „Verschwendung“. Vielleicht sind aber auch beide Zahlen zu niedrig. Ich könnte Ihnen eine lange Liste völlig verschiedener Fragen zeigen, die noch nicht wissenschaftlich belastbar beantwortet sind.
Welche Fragen sind das?
Zum Beispiel: In welchen Arbeits- und Alltagsbereichen besteht bei uns das höchste Infektionsgeschehen – in Kitas und Schulen, Büros, Fabriken, in der Lebensmittelindustrie? Es wäre ein riesiger Schritt nach vorn, wenn man die Berufe der Infizierten mit erfassen würde. Das hätte man schon im Sommer tun können. Bis jetzt aber geschieht dies nur bei ausgewählten, systemrelevanten Berufen. So könnte man zum Beispiel besser feststellen, ob Lehrer*innen ein höheres Risiko haben, oder nicht, und abhängig davon entscheiden, ob diese ab einem bestimmten Alter oder Vorerkrankungen besser im Homeoffice arbeiten sollten. Das Gleiche gilt für die Geschäfte, z.B. Friseurgeschäfte, die durch Schließungen ökonomisch stark bedroht sind. Wenn man sicher wüsste, dass dort keine Infektionen stattfinden, z.B. weil die Masken zuverlässig getragen werden, müsste man sie nicht schließen. Dies könnte man auf alle Bereiche ausweiten, die derzeit durch eine Schließung massivste Kollateralschäden erleiden. Es fehlen sowohl das Wissen als auch die Transparenz.
Nun ist der Sommer aber schon vorbei.
Man kann immer noch damit beginnen. Man könnte die Berufe der Infizierten erfassen und sie kategorisieren. Dabei ist es natürlich völlig anachronistisch, Daten wie früher mit einem Fahrradboten – ich übertreibe hier ein bisschen – vom Labor zum lokalen Gesundheitsamt, von dort zum Landesgesundheitsamt und dann zum Robert-Koch-Institut nach Berlin zu übermitteln. Dass im Jahr 2020 die Infektionszahlen jeden Montag wegen des dazwischen liegenden Wochenendes nicht stimmen, ist absurd. In Brüssel predigen wir die Digitalisierung und möchten eine weltweite Führungsrolle einnehmen. Dabei sind wir nicht einmal in der Lage, in dieser bedrohlichen Situation für die Gesellschaft wichtige, lebensnotwendige Daten online und hinsichtlich ihrer Qualität so zusammenzufassen, dass wir etwas daraus lernen können.
Sie kritisieren auch, dass aufgrund von Biases in der Forschung viele Daten unzuverlässig sind. Was meinen Sie damit?
Wir haben derzeit eine unglaubliche Zahl von Studien, die weltweit ohne jegliche Koordination begonnen wurden. Eine wichtige Methode der evidenzbasierten Medizin aber ist es, verfügbare Studien weltweit zu sammeln, um die hochwertigen herauszusuchen und daraus ein Ergebnis zu synthetisieren. Aktuell werden in der öffentlichen Diskussion zwar oft die wildesten Behauptungen aufgestellt, doch kaum eine gründet sich auf eine systematische Studienauswertung. Dabei steht die Methodik dafür schon seit über 20 Jahren zur Verfügung. Stattdessen verlassen sich Politiker*innen wie Journalist*innen auf die sogenannten „Preprint-Server“. Weil alles so dringlich ist, werden dort aktuell aber oft unausgereifte Arbeiten hochgeladen, die besser im stillen Kämmerlein nochmal diskutiert worden wären. Das steht dann aber am nächsten Tag in der New York Times.
Wozu gibt es bei SARS-CoV-2 wirklich harte Fakten und Evidenz?
Das Einzige, was wir wissen, ist, dass ich mich nicht infizieren kann, wenn ich 100 Meter Abstand zu einem anderen habe. Wenn wir die deutsche Bevölkerung in der Sahara verteilen würden, wäre das Problem vorübergehend gelöst. Nur bringt uns das nichts, weil wir ja nicht in der Sahara leben. Hinzu kommen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Effekten, z.B. zwischen Abstand und Maske. Es geht dabei um Wahrscheinlichkeiten, sich zu infizieren. Der momentan propagierte Mindestabstand hat meiner Absicht nach in geschlossenen Räumen kaum Bedeutung. Wollte man das Risiko, sich zu infizieren, wirklich minimieren, sind 1,5 Meter wahrscheinlich zu wenig. Aber auch das hängt wieder von den Umständen ab, die darauf Einfluss haben.
Politiker*innen sind aber doch darauf angewiesen, aufgrund bestimmter Daten zu entscheiden?
Ich möchte den Spieß gerne umdrehen: Politiker*innen hätten schon vor zehn Monaten den Startschuss dafür geben müssen, Entscheidungen auf der Basis einer bestimmten Systematik zu treffen. Jetzt ist die Situation vertrackt: Die Daten, die wir bräuchten, haben wir nicht, bis auf das Alter mit einer enormen Risikozunahme. Hinzu kommen bestimmte andere Risikofaktoren wie Vorerkrankungen, wo wir aber weit von einem klaren Bild entfernt sind. Genauso wichtig wäre es, zu wissen, wo man sich infiziert. Da sind wir dann wieder bei den Berufen.
Viele Menschen vermuten hinter Kritikern an den Corona-Maßnahmen Personen, die sich zur Querdenker-Bewegung zählen.
Ja, eindeutig. Neulich im Deutschlandfunk wurde ich als erstes gefragt, ob ich ein „Querdenker“ bin. Davon könnte ich kaum weiter entfernt sein. Für mich würde es bedeuten, die Ärzt*innen auf den Intensivstationen als Lügner*innen zu bezeichnen. Gleichzeitig habe aber auch ich mittlerweile im Freundeskreis völlig normal denkende und agierende Menschen, von denen ich merke, dass sie für die Argumente der Querdenker zunehmend ansprechbar werden – aufgrund der völlig chaotischen Aktionen der Landes- und Bundesregierungen. Wie können 16 Bundesländer alles fundamental verschieden machen, wenn sie wissen, was sie tun? Wenn man genauer wüsste, wo die meisten Infektionen stattfinden, sollte man dort sogar etwas härter vorgehen und dafür an anderen Stellen zurückhaltender. Unsere Gleichmacherei aber zeigt, dass man nicht verstanden hat, was man tut.
Man könnte argumentieren: Leute, die sich nicht treffen können, können sich nicht gegenseitig anstecken, also machen wir einen möglichst harten Lockdown.
Dann haben wir einen Jo-Jo-Effekt, bei dem wir ständig in den Lockdown rein- und wieder rausgehen. Den möchte ja auch der bayerische Ministerpräsident nicht. Ich sage: Wir werden die Zahlen so nicht herunterbringen und dort halten können, weil wir überhaupt nicht wissen, wo wir später ohne Gefahr wieder öffnen können. Das ist ja schon bei der „ersten Welle“ schief gegangen. Allein die Aussage, dass die Zahlen im Herbst völlig überraschend hochgegangen seien, ist absurd. Gleichzeitig ist das Dauer-Bombardement mit absoluten Zahlen aus meiner Sicht sinnlos. Es gibt ein Bonmot: Epidemiologie besteht aus Zähler und Nenner!
Was kann man aber nun tun, um die Zahlen auf den Intensivstationen wieder herunterzubringen?
Man könnte die banalen Dinge tun, die im März getan wurden, auch wenn man nicht quantitativ weiß, was das bringt – eine Einlasskontrolle in den Supermärkten und z.B. die Desinfektion von Einkaufswagen und die Anbringung von Trennwänden. In Berlin z.B. gibt es keine Vorschrift, dass Taxis eine Trennwand brauchen! Oder: Die größte Massenveranstaltung ist der Nah- und Fernverkehr. Auch wenn die Deutsche Bahn behauptet, dass sich dort aufgrund von Lüftungsanlagen niemand anstecken kann: Dazu gibt es keine einzige Studie! Die einzige Studie, die dazu von der Charité durchgeführt wurde (s. Kasten), bezieht sich nur auf das Begleitpersonal, nicht auf die Fahrgäste.
Gruppen um den Virologen Prof. Dr. Hendrik Streeck und den Gesundheitsweisen und Internisten Prof. Dr. Matthias Schrappe fordern einen besseren Schutz der Risikogruppen.
Den brauchen wir natürlich, und es muss entschlossen angegangen werden. Wir dürfen auf keinen Fall in Richtung Herdenimmunität steuern. Aber wir wissen leider auch nicht genau, ob der Lockdown funktioniert. Der leichte scheint jedenfalls nicht zu funktionieren, und ich bin mir, ehrlich gesagt, auch beim harten nicht so sicher. In der Statistik gibt es den Begriff des „Confounders“ für vermengte Effekte: In Untersuchungen ohne Kontrollgruppen sind Kausalzuweisung sehr oft falsch oder zumindest sehr unzuverlässig. Auch im Frühjahr waren mehrere Effekte vermengt: Es gab den Lockdown, und gleichzeitig wurde das Wetter besser und alle haben sich draußen aufgehalten. Welcher Effekt war es denn nun, der die Zahl der Infizierten hat sinken lassen? Das Wetter? Die Temperaturen? Der Lockdown? Auch während des härtesten Lockdowns in Spanien war dort die Situation schlechter als bei uns.
Wird mit Beginn der Impfungen alles besser werden?
Grundsätzlich ja, aber wie genau, wissen wir nicht. Viele gehen derzeit von einem Best-Case-Szenario aus. Dabei können tausend Dinge passieren. Zum Beispiel, dass die Kühlkette durch Lieferschwierigkeiten einmal nicht eingehalten werden kann und die Impfung dann an Wirksamkeit verliert. Was ist mit Firmen, die nach der ersten Zulassung eines wirksamen Impfstoffs selbst noch keine Zulassung haben? Im Prinzip müsste man in diesem Fall alle Placebostudien aus ethischen Gründen stoppen und die Studien so umstellen, dass gegen den bereits zugelassenen Impfstoff getestet wird, nicht gegen Placebo.
Mit welcher Stimmung gehen Sie in das Jahr 2021 und was würden Sie den Politiker*innen im neuen Jahr raten?
Meine Stimmung ist leider nicht besonders gut, denn es werden zu viele Fehler gemacht. Wir bräuchten eine Stelle, an der alle Studien zusammenlaufen. Cochrane Deutschland in Freiburg ist daran beteiligt, unter Leitung des französischen Cochrane Zentrums eine solche Plattform weiterzuentwickeln, ähnlich wie z.B. in Australien (beides s. Kasten). Das wäre ein notwendiger, minimaler erster Schritt, um in diesem Chaos festzustellen, welche Studien noch fehlen und was z.B. in Japan bereits untersucht wurde. Alle Fragen, die von sozialen Faktoren abhängen, sind aus Asien aber nicht übertragbar und müssen daher bei uns untersucht werden. Unseren Politiker*innen und Wissenschaftler*innen kann man nur raten, offene Fragen endlich rational anzugehen. Ignoranz und Entscheidungen nach Gutsherrenart sind angesichts dieser enormen Herausforderungen bei der Corona-Pandemie einfach nicht ausreichend.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler