Leitartikel

Corona aus Sicht der Soziologie. Alles wie im Krieg?

Die medizinischen Folgen der Corona-Pandemie stehen uns allen vor Augen. Doch was macht die gegenwärtige Krise eigentlich mit unserer Gesellschaft? Antworten auf diese Frage gab Privatdozent Dr. Jens Greve, Soziologe mit den Schwerpunkten gesellschaftliche Differenzierung und politische Soziologie.
Corona aus Sicht der Soziologie. Alles wie im Krieg?
Corona aus Sicht der Soziologie. Alles wie im Krieg?

Foto: Shutterstock

 

Was macht es mit einer Gesellschaft, wenn auf einmal „Social Distancing“ die Norm ist? Werden wir dann zu Monstern?

Social Distancing spielt sich in dem Bereich ab, den die Soziologie als die Mikro-Ebene der Gesellschaft bezeichnet: den Face-to-face-Interaktionen zwischen Personen, also der Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Die Effekte der Distanzierung lassen sich zum einen sozialpsychologisch beschreiben. Ganz sicher ist eine Verschärfung der negativen Effekte von sozialer Isolation zu erwarten. Zum anderen hat die Soziologie sich intensiv mit der Frage beschäftigt, in welchem Maße Face-to-face-Interaktionen durch indirekte Formen der Kommunikation ersetzbar sind – wie Telefon oder internetbasierte Kommunikation. Diese indirekten Formen bemühen sich ja darum, unmittelbare soziale Interaktionen möglichst weit nachzubilden. Skype und ähnliche Online-Plattformen sind so näher an direkten Interaktionen als das Telefon. Doch sie sind nicht in der Lage, diese zu ersetzen. Für den Nahbereich sozialer Beziehungen wie Partnerschaft und Familie leuchtet das unmittelbar ein. Es gilt aber auch für andere Bereiche wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, in denen Menschen sich bei Gipfeltreffen und Konferenzen regelmäßig von Angesicht zu Angesicht begegnen. Denn medial vermittelte Interaktionen können immer nur Teile der Informationen aus Face-to-face-Interaktionen transportieren. Ein wichtiger Bestandteil dort sind z.B. Veränderungen der Mimik, die wichtig für den Vertrauensaufbau sind: Nimmt der andere mich ernst? Oder ist er mit anderem beschäftigt? Trotz aller Medien sind Face-to-face-Interaktionen also nicht ersetzbar und Social Distancing wird daher aus meiner Sicht eher nicht die Norm werden.

Welche Folgen drohen Einzelnen durch die Vereinzelung?

Vereinzelung erhöht signifikant das Risiko psychischer und körperlicher Erkrankungen und nicht zuletzt die Selbstmordneigung. Im Alter verstärken sich diese Effekte noch. Ebenso steigt die Selbstmordneigung in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, wie sich zuletzt an der Finanzkrise belegen ließ. Auch die häusliche Gewalt wird zunehmen. Bereits jetzt melden Frauenhäuser einen gestiegenen Bedarf an Plätzen für Betroffene. Wie gravierend diese negativen Effekte ausfallen, hängt von der Dauer und im Hinblick auf die die wirtschaftlichen Folgen von Ausgleichszahlungen ab.

Was für Folgen entstehen, wenn ein demokratischer Staat plötzlich die Freiheitsrechte seiner Bürger einschränkt?

Könnte das künftig gesellschaftsfähig werden? Die Zustimmung zu den beschlossenen Maßnahmen ist gegenwärtig erstaunlich hoch. Obwohl eine Gegenöffentlichkeit – nicht zuletzt oft auf der Basis von falschen Annahmen – die Notwendigkeit der gewählten drastischen Mittel in Frage stellt, ist es noch nicht zu einem breiten Unmut gekommen. Eine temporäre Einschränkung wird offensichtlich hingenommen. Demokratische und offene Gesellschaften sind jedoch durch einen hohen Legitimitätsbedarf gekennzeichnet, und so stehen derartige Maßnahmen dort immer unter einem massiven Rechtfertigungsdruck. Ich rechne eher damit, dass die Einschränkungen schnell wieder rückgängig gemacht werden müssen, auch dann, wenn sie eine nur geringe Wirkung zeigen. Denn dann wird die Frage aufkommen, ob die massiven Einschränkungen überhaupt das geeignete Mittel sind. In Demokratien, die schon durch autoritative Regime beschädigt sind wie in der Türkei, Polen, Ungarn oder Russland, mag das natürlich anders aussehen.

Verschiedene Politiker haben Kriegsmetaphern benutzt, darunter Olaf Scholz das Wort von der „Bazooka“ als Instrument gegen eine drohende Wirtschaftskrise. Inwiefern ähnelt die momentane Krise einem Krieg?

Viele haben den Vergleich dieser Krise mit einem Krieg zu Recht kritisiert. Nicht die Gleichsetzung, aber der Vergleich, ist allerdings lehrreich. Wenn man genau hinsieht, zeigen sich aktuell ja durchaus Anzeichen dessen, was sich auch in Kriegsgesellschaften findet: Die ausgeprägteste Parallele ist natürlich die Einschränkung der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit. Es gibt aber auch andere Momente, z.B. Rationierungen bestimmter Lebensmittel im Supermarkt oder Eingriffe in Eigentumsrechte wie der Beschluss, dass Mietschulden nicht zur Kündigung führen dürfen. Auch zeigt sich bereits, dass wirtschaftliche Erwägungen einem politischen Ziel untergeordnet werden, etwa bei der Bazooka, von der Scholz gesprochen hat. An diesem Punkt haben wir eine klare Parallele zur Finanzkrise. Im Gegensatz zum „normalen“ Krieg findet derzeit aber keine großflächige Zerstörung der Infrastruktur statt – von der zu erwartenden vergleichsweise geringeren Zahl an Toten und Verletzten ganz zu schweigen. Ein Vergleich mit der Finanzkrise ist daher angemessener als beispielsweise mit dem zweiten Weltkrieg.

Welche Analyse der jetzigen Situation bietet die Gesellschaftstheorie an?

Von Niklas Luhmann gibt es einen Gedanken, der für die Analyse der jetzigen Krise gut geeignet ist. In der modernen Gesellschaft, meint Luhmann, dominieren diejenigen Teilbereiche, die am wenigsten ihre Funktionen erfüllen können, die anderen Bereiche. Das passt nun ausgezeichnet zur jetzigen Lage. Denn schließlich ist es das drohende Versagen des Gesundheitssystems, das die Krise bestimmt. Hier zeigt sich im Übrigen eine Diskrepanz: Viele Politiker beschreiben unser Gesundheitssystem aktuell als „exzellent“, gleichzeitig gibt es aber offensichtlich Knappheiten. Hinzu kommt, dass andere Länder offenbar besser auf diese Krise vorbereitet waren. Südkorea ist ein wunderbares Beispiel. Dieses Beispiel macht aber auch Hoffnung, denn Gesellschaften sind ja durchaus lernfähig.

Welche Folgen drohen in einer globalisierten Welt?

Wir alle identifizieren Gesellschaften gerne mit Nationalstaaten. Diese Gleichsetzung ist nicht nur von Luhmann, sondern mittlerweile auch von vielen anderen Soziologen und Politikwissenschaftlern kritisiert worden. Corona, aber auch andere Gefährdungen, zeigen, dass wir in einem bestimmten Sinne in einer einzigen Gesellschaft leben. Luhmann sprach von der Weltgesellschaft, Ulrich Beck von der Weltrisikogesellschaft. Im Gegensatz zu Klimaveränderungen oder nuklearen Katastrophen lassen sich Viren jedoch räumlich durchaus „festhalten“. Ob nationale Grenzen dafür wirklich geeignete Einheiten sind, ist allerdings zu Recht in Frage gestellt worden. Die jetzigen Maßnahmen zeigen aus meiner Sicht, dass unsere Nationalstaaten aller Globalisierungs- und Weltgesellschaftsrhetorik zum Trotz noch immer die Träger der politischen Systeme sind. Das galt ja im Übrigen schon für die Phase der Globalisierungseuphorie seit den 1990er Jahren: Nicht nur waren es ja Staaten, die diese vorangetrieben haben, sondern das Gewaltmonopol bleibt bis heute im Wesentlichen bei den Staaten. Nur sie können die weitreichenden Beschränkungen durchsetzen, denen wir gerade unterliegen

Welche Auswirkungen hat die jetzige Krise auf schon bestehende Aspekte der sozialen Ungleichheit?

Ulrich Becks These von der Risikogesellschaft verweist auf die Frage nach den Folgen für soziale Ungleichheit. „Natürliche“ Katastrophen haben darauf einen vielschichtigen Effekt: Einerseits treffen sie potentiell alle, und zwar unabhängig von ihrem sozialen Status, Einkommen oder Vermögen. Andererseits heben sie diese Unterschiede – abgesehen von ganz unmittelbaren Bedrohungen – nicht auf: Vermögende Personen können sich besser schützen und sind mobiler. Das Musterbeispiel für diesen Ungleichheitseffekt hat der Hurrican „Katrina“ geliefert. Auf die aktuelle Krise übertragen sehen wir: Die unmittelbare Bedrohung, an Corona zu erkranken, ist zunächst schichtunabhängig. Betroffen sind wir vielmehr in Abhängigkeit von unserer beruflichen Tätigkeit: Kassiererinnen und Kassierer, Krankenschwestern und -pfleger sowie Ärztinnen und Ärzte sind gefährdeter als andere Berufsgruppen. Finanzielle Folgen wirken sich aber vor allem auf diejenigen aus, die sich in prekären beruflichen Situationen befinden. In Deutschland haben wir es mit einer dauerhaften und schon seit Jahren umstrittenen Verschärfung von Ungleichheitslagen zu tun. Ob dies langfristig strukturelle Folgen für Politik und Gesellschaft hat, wird ganz entscheidend davon abhängen, ob wir geeignete, als legitim empfundene Ausgleichsmechanismen finden.

Wie kann es nach der jetzigen Krise weitergehen?

Gehen wir von einem überschaubaren zeitlichen Verlauf aus – die Entwicklung in China legt das ja nahe – dürften die Effekte zumindest für die wohlhabenden Länder eher gering sein. Auch die Finanzkrise hat die Grundstrukturen der Gesellschaft ja nicht erschüttert. Die Krise könnte allerdings die schon zuvor beobachtbaren Trends in der Gesellschaft weitertragen oder gar verstärken: die Rückkehr zu nationalen Lösungen oder die Verdrängung des Einzelhandels. Da sich ein Land nicht dauerhaft stillstellen lässt, ist es äußerst wahrscheinlich, dass selbst bei nicht hinreichend sinkenden Fallzahlen eine Rückkehr zum gewohnten sozialen Leben stattfinden muss und eine Abwägung zwischen Erkrankungsfolgen und Maßnahmenfolgen nötig wird. Es kommt dann auf eine geschickte Kommunikation seitens der Politik an, damit dies nicht zynisch und unmenschlich erscheint.