Attentate und psychische Krankheit. "Wir brauchen mehr Prävention"

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Herr Professor Brieger, wie erkennen Sie als Psychiater, ob jemand die Tendenz hat, gewalttätig zu werden?
Es ist zunächst nicht die primäre Aufgabe von Psychiater*innen, Fremdgefährlichkeit einzuschätzen und danach aktiv zu werden. Wir sind dazu da, Menschen mit einer psychischen Erkrankung zu behandeln. Bestimmte Phasen mancher psychschen Erkrankungen können allerdings in seltenen Fällen einen Faktor beim Auftreten von Fremdgefahr darstellen – wenn z.B. wahnhafte Befürchtungen von hoher Dynamik mit sozialen Problemen und aktuellen Belastungen zusammentreffen. Diese Symptome und Situationen kann und muss man auch im Rahmen der psychiatrischen Behandlung bewerten, und daraus erwächst unter Umständen ein gewisses „ordnungspolitisches Mandat“ der Psychiatrie. Das Thema Gefahrenabwehr als solches ist aber nicht der vorrangige Auftrag der Psychiatrie, sondern der Polizei und der Sicherheitsbehörden.
Viele Politiker*innen haben zuletzt über Migration gesprochen, aber nur wenige über psychische Erkrankungen.
Unter anderem Carsten Linnemann von der CDU hat ein zentrales Register von psychisch Kranken gefordert, wie auch einige bayerische Politiker. Aus meiner Sicht werden hier aber oft die Themen psychische Krankheit, Flucht, Hintergrund aus einer anderen Kultur und Gefährlichkeit unreflektiert in einen Topf geworfen. Nur eine sehr kleine Minderheit von Menschen mit psychischen Erkrankungen weist eine gewisse Gefährlichkeit auf. Genauso ist auch nur ein kleiner Teil der Menschen mit Migrationshintergrund in irgendeiner Form gefährlich. Ein solches Register würde nicht nur nichts bewirken. Es würde viele Menschen völlig unnötig stigmatisieren.
Laut verschiedenen Studien sind etwa 30 bis 40 Prozent der Geflüchteten psychisch krank, oft aufgrund einer Traumatisierung.
Es könnten sogar mehr sein. Denn auch in der allgemeinen Bevölkerung haben wir eine Grundprävalenz von 30 bis 40 Prozent. Jede*r Dritte wird im Laufe seines Lebens irgendwann mal psychisch krank. Bei Geflüchteten ist diese Zahl wohl höher, weil sie mehr Risikofaktoren haben. Die Diagnose einer psychischen Erkrankung ist aber nicht identisch mit einer Behandlungsbedürftigkeit. Und es gibt keinen kausalen Zusammenhang zur Gefährlichkeit.
Worauf führen Sie die momentane Häufung von Anschlägen zurück?
Ich glaube, hier kommen ungute Strömungen zusammen: Ich erlebe eine aufgeheizte Atmosphäre in der Gesellschaft und eine Berichterstattung, die solche Themen stark in den Fokus nimmt. Dann gibt es Nachahmereffekte. Wir kennen den „Werther-Effekt“ bei Suiziden aufgrund großer Aufmerksamkeit. Zusätzlich haben wir Probleme, adäquate Versorgungsangebote aufzustellen. Wenn sich heute jemand wegen eines psychischen Problems behandeln lassen möchte, bekommt er oder sie kaum einen zeitnahen Termin – obwohl wir heute mehr Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen haben, als je zuvor. Als ich 1990 als Arzt angefangen habe, hatten wir bei 238 000 Ärzt*innen eine Ärzteschwemme. 2023 gab es 428 500 Ärzt*innen, aber trotzdem einen Ärztemangel. Ähnlich ist es bei den Psychotherapeut*innen – hier können wir heute ca. 48 000 approbierte Psychotherapeut*innen zählen. Wir haben einen Mismatch zwischen Bedarf und Inanspruchnahme und keine gute Steuerung.
Außerdem haben wir ein schlechtes Management von schwierigen Fällen. Wenn jemand einen komplexen Hilfebedarf hat, ist es oft nicht einfach, passende ambulante Angebote nach der Klinik zu finden, und niemand betreut diese Menschen dann ambulant weiter, wenn sie sich nicht selbst mit großer Energie erfolgreich um einen Behandlungsplatz bemüht haben. Wir müssten viel mehr Konzepte entwickeln, um sie über die verschiedenen Sektoren hinweg zu begleiten, bei Bedarf zum Beispiel auch durch aufsuchende Hilfen, wie wir das etwa bei der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) tun.
Es fällt auf, dass die Täter häufig jüngere, geflüchtete Männer sind.
Junge Männer schaffen es meistens viel besser zu flüchten als Frauen mit Kindern oder alte Menschen. Aus den Kriminalitätsstatistiken wissen wir außerdem, dass männliches Geschlecht und junges Alter für jede Kriminalität ein Risikofaktor ist – bei Deutschen und bei Geflüchteten, in jeder Kultur. Jose Koussemou hat das bei uns in einer Doktorarbeit untersucht: Wenn wir die Zahlen für Alter und Geschlecht kontrollieren, sind Menschen mit Migrationshintergrund genauso gefährlich oder ungefährlich, einen Übergriff im Kranken- haus zu verüben, wie Menschen aus Deutschland. Der Faktor Flucht hat weniger Einfluss als Lebenssituation, Alter und Geschlecht.
In Magdeburg war der Attentäter ein Kollege, ein Psychiater, um die 50. Warum wurde sein labiler Zustand nicht früher erkannt?
Darüber mache ich mir auch Gedanken. Ich sage das jetzt mal böse: Vielleicht ist der Ärztemangel in manchen Regionen so groß, dass dort auch Menschen mit zweifelhafter Qualifikation eingestellt werden. Es ist allerdings auch nicht unsere Aufgabe, bei Kolleg*innen zu schauen, ob jemand ein potenzieller Gewalttäter ist. Wenn ich den Menschen unter diesem Aspekt begegne, kann ich keine vernünftigen kollegialen Beziehungen zu ihnen aufbauen.
Was könnte man tun, um die Unterversorgung von geflüchteten, oft traumatisierten, Menschen zu lindern?
Aus meiner Sicht werden zu viele einfache oder platte Kausalitäten hergestellt. Ja, viele Menschen haben auf der Flucht traumatische Erlebnisse. Aber deswegen brauchen nicht alle eine Traumatherapie. Oft hilft es erstmal, wenn sie Arbeit finden, einen Lebensinhalt, soziale Beziehungen – das, was uns alle stärkt. In den jüngsten Fällen von Übergriffen waren die Täter aber Männer, die Psychosen entwickelt haben könnten. Das ist eine ganz spezielle Risikogruppe. Wir müssen insgesamt schauen: Wie kommen wir zu einer guten Grundversorgung in dieser Bevölkerungsgruppe? Ich brauche nicht für alle Geflüchteten zehn Stunden Traumatherapie, sondern ich muss z.B. eine Sprechstunde einrichten, damit auffällige Menschen oder Menschen, die dem Betreuungspersonal oder Bezugspersonen als problembeladen erscheinen, sich dort selbst vorstellen können. Das fehlt uns. Es gibt niedergelassene Kolleg*innen, die in Flüchtlingsunterkünfte gehen – und auch das Isar-Amper-Klinikum macht das in einigen Einrichtungen – aber das ist zu wenig.
Wäre eine Art Frühwarnsystem oder ein Gewaltmonitoring denn möglich?
Ja und nein. In unseren jetzigen Sprechstunden und Institutsambulanzen unterstützen wir Menschen, die leiden, die Hilfe brauchen. Es gibt aber Instrumente wie das Bedrohungsmanagement beim Polizeipräsidium München, ein Fallmanagement für Personen mit bestimmten Gefährdungsaspekten. Eingeschlossen werden dort allerdings überwiegend Menschen ohne psychische Störung, denn gefährlich werden Menschen eher durch eine kriminelle Vorgeschichte. In wenigen Fällen bittet uns die Polizei um Unterstützung, und wir arbeiten dann auch vertrauensvoll und eng mit ihr zusammen, müssen aber wegen der ärztlichen Schweigepflicht immer abwägen. Ein grundsätzliches Monitoring geht aus meiner Sicht allerdings am Problem vorbei: Angenommen, der Attentäter in München wäre psychisch krank gewesen und keine*r hätte es erkannt. Dann hätte ein Monitoring trotzdem nicht geholfen, denn er hat nie in einer Unterkunft gelebt und war nach meiner Kenntnis ganz normal als Ladendetektiv tätig. Wo soll da ein Monitoring ansetzen?
Niedergelassene Kolleg*innen beklagen, dass sie Personen einweisen, diese aber oft noch am gleichen Tag wieder entlassen werden. Können Sie sich das erklären?
Es ist nicht die Aufgabe einer psychiatrischen Klinik, auffälliges Verhalten zu behandeln, sondern Krankheit. Wir sind kein verlängerter Arm der Polizei. Die Frage ist oft: Gibt es für Aggressivität oder Fremdgefährlichkeit eine medizinisch behandelbare Grundlage? Es gibt schließlich deutlich häufiger andere Ursachen für kriminelle Handlungsweisen als eine psychische Erkrankung. Auch sehen wir uns als Klinik, die konsequent die Ambulantisierung vorantreibt, da ich persönlich glaube, dass in vielen Situationen eine ambulante Behandlung einer stationären vorzuziehen ist. Die Idee, man könne Menschen einfach mal „nach Haar“ einweisen und dann seien sie dort verräumt, greift zu kurz.
Gibt es Formen der Prävention, die Sie als Psychiater unterstützen würden?
Wir brauchen ganz sicher eine bessere Prävention. In Bayern haben wir die sehr erfolgreichen Krisendienste, damit Menschen in Krisen früher einen Zugang zu Hilfsangeboten finden. Viele Probleme entstehen doch durch die zu langen Wartezeiten und einen zu hochschwelligen Zugang im vertragsärztlichen Bereich und anderen Bereichen des Hilfesystems. Psychotherapeut*innen sollten mehr als bisher in der Behandlung von Menschen mit komplexen Störungen tätig werden. Es gibt gute, auch ambulant durchführbare, psychotherapeutische Programme, aber meines Erachtens zu wenig Behandlungskonzepte und vielleicht auch zu wenig Behandlungsbereitschaft. Ein erfolgreiches Behandlungsangebot sind übrigens die Präventionsstellen. Die Präventionsstellen in Bayern stellen ein spezifisches Vorsorgeangebot für Patientinnen und Patienten mit einem erhöhten Risiko gewalttätigen Verhaltens dar und bieten dieser Patientengruppe eine auf Gewaltprävention spezialisierte Behandlungsmöglichkeit, die es so übrigens ausschließlich in Bayern gibt und die glücklicherweise vom Freistaat finanziert wird.
Einigen Präventionsprojekten wer- den aktuell eher die Gelder gekürzt.
In Zeiten klammer Haushalte im öffentlichen Raum und bei den Krankenkassen steht alles auf dem Prüfstand, z.B. auch die sogenannten freiwilligen kommunalen Leistungen, die aus meiner Sicht sinnvoll sind. Neue Konzepte sind kaum umsetz- bar. Hinzu kommt der Wohnungsmarkt. Die Menschen haben immer größere Schwierigkeiten, bezahlbaren adäquaten Wohnraum zu bekommen. Wenn sie von Wohnungslosigkeit bedroht sind oder sogar wohnungslos werden, verlieren sie aber auch die soziale Einbindung. Dadurch kann es zu Verhaltensweisen kommen, die als störend oder sogar gefährlich erlebt werden.
Müssen wir damit rechnen, dass Gewalttaten und Anschläge jetzt immer wieder vorkommen?
Ich habe die Hoffnung, dass auch wieder ruhigere Zeiten kommen. Wir brauchen aber tatsächlich bessere Präventionskonzepte und -angebote, die die Menschen frühzeitig erreichen, sodass sie sich selbst Hilfe holen können. Denn Prävention kann nicht bedeuten, dass jemand zwangsvorgeführt oder zwangsuntergebracht wird. Wir brauchen mehr passgenaue, schnell verfügbare Angebote für komplex und schwer erkrankte Menschen. Und wir brauchen mehr Verbindlichkeit und eine kontinuierliche Betreuung von stärker beeinträchtigten Menschen.
Was wünschen Sie sich von den Kolleg*innen in der ambulanten Versorgung?
Eine enge Zusammenarbeit. Dass wir uns gut koordinieren und klar ist, wer in schwierigen Fällen den Hut aufhat. Und dass der- oder diejenige sich dann konsequent um diesen Fall kümmert. Dass wir uns darüber austauschen, welche Behandlungen notwendig und sinnvoll sind, wo wir eine Priorisierung vornehmen oder aber sagen müssen: Das kann unser System nicht mehr leisten. Wir brauchen ein besseres Fallmanagement, müssen uns über die Sektorengrenzen hinweg besser vernetzen. Außerdem berücksichtigen wir psychosoziale Umstände wie Arbeit, Wohnen, Finanzen oder soziale Beziehungen zu wenig. Menschen mit Risikofaktoren müssen wir stärker in den Fokus nehmen und über das Sozialgesetzbuch fünf (SGB V) hinaus auch z.B. ins SGB IX schauen – in die Eingliederungshilfe und sogenannte freiwillige kommunale Leistungen – und auch in die Familien einschließlich der evtl. betroffenen Kinder. Und es braucht mehr Gemeinsinn und Vertrauen in der Bürgergesellschaft.
Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA 06 vom 15.03.2025