Zwischen Schutz und Ethik, Brennpunkt Altersheim
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Herr Sigl-Lehner, wie ist aus Ihrer Sicht die derzeitige Situation in bayerischen Alten- und Pflege- heimen?
Alten- und Pflegeheime haben sich in den letzten Wochen auch hier in Bayern zu einem der Brennpunkte entwickelt. Im Verhältnis zu anderen Institutionen haben wir die meisten Todesfälle zu beklagen. Das liegt daran, dass Pflegebedürftige besonders gefährdet sind und sich das Coronavirus in Heimen schnell ausbreiten kann, weil hier viele Menschen auf engem Raum leben. Wir wissen ja, dass Neuinfektionen mit Covid-19 oft schon stattfinden, wenn der ursprüngliche Virusträger noch gar keine Symptome hat. Entsprechend angespannt ist daher die Situation bei unseren Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen.
Was tun die Kolleg*innen, um sich und die Bewohner*innen zu schützen?
Drei behördliche Stellen machen uns dazu Vorgaben: das Robert Koch-Institut, das bayerische Gesundheitsministerium und die örtlichen Behörden auf Landkreisebene. Entsprechend oft wurden die Maßnahmen in den letzten Wochen angepasst. Wir mussten individuelle, hauseigene Pandemiekonzepte schaffen – etwa zur Eigenhygiene und jeweils nötigen Schutzausrüstung und dazu, was bei einem Verdacht auf eine Infektion passieren muss. Jede mögliche Situation wurde standardisiert, damit sie in der Praxis funktionieren kann. Wir hier in Altötting haben ein eigenes Team mit eigenen Räumlichkeiten in der zur Zeit geschlossenen Tagespflege geschaffen. Bis heute sind wir zum Glück infektionsfrei, aber im Fall der Fälle könnte dieses Team mit spezieller Schutzkleidung, eigenem Ruhebereich und eigenen Sanitärräumen bis zu zehn Bewohner unter Isolationsbedingungen versorgen.
Werden die Bewohner*innen und Mitarbeiter*innen regelmäßig getestet?
Bis jetzt noch nicht. Wir von der Vereinigung der Pflegenden in Bayern fordern dringend ein Konzept für eine regelmäßige Reihentestung aller Mitarbeiter*innen und Bewohner*innen! Dieser Forderung haben sich mittlerweile auch das Bayerische Rote Kreuz und die Bayerische Krankenhausgesellschaft angeschlossen. Eine einmalige Testung genügt nicht! Zunächst braucht es eine Auftakttestung, verbunden mit einem Antikörpertest, damit wir die Ausgangslage kennen. Abhängig vom Ergebnis müssen dann regelmäßig weitere Tests stattfinden. Doch noch ist nicht geklärt, wer das bezahlen soll. Wir haben unser Anliegen mehrfach an das bayerische Gesundheitsministerium herangetragen, und ich habe darüber auch schon zweimal Ministerin Huml gesprochen. Offenbar ist aber der Bund für die Klärung der Kostenfrage zuständig
In Baden-Württemberg wird bereits in den Heimen getestet. Könnten Sie als Heim nicht die Kosten übernehmen?
Das werden wir vorübergehend auch tun. Doch ein einziger Test kostet derzeit zwischen 120 und 150 Euro. Bei 100 Mitarbeiter*innen und zwei Testungen pro Monat kommt man also schnell in einen fünfstelligen Bereich. Für bayerische Einrichtungen, die ohnehin schon durch den staatlich verfügten Aufnahmestopp enorme Einbußen haben, ist das ein Problem. Als gemeinnützige Einrichtung streben wir in Altötting zwar lediglich die Deckung unserer Kosten an. Das aber gelingt uns schon seit Wochen nicht mehr. Denn wir können unser Haus nicht mehr voll belegen – wegen des Aufnahmestopps und weil wir aus Doppelzimmern sukzessive Einzelzimmer machen müssen. Außerdem möchten wir auf keinen Fall das Personal in Kurzarbeit schicken. Diese Krise darf nicht dazu führen, dass Mitarbeiter aus der Pflege keine Arbeit mehr haben! Das sage ich als Heimleiter und als Präsident des VdPB.
Wie ist die derzeitige Stimmung in Ihrem Heim und bei den Pflegenden in der Vereinigung?
Bereits vor der Krise war die Lage in der Pflege prekär. Ich erinnere an die Rothgang-Studie zur Personalbedarfsmessung in der Altenpflege, deren Ergebnisse erst kurz vor der Krise bekannt geworden sind: Es gab damals schon deutlich zu wenig Personal, gemessen am Aufwand. Und jetzt haben wir seit vielen Wochen eine absolute Ausnahmesituation. Das zehrt natürlich an den Kräften und an den Nerven. Wir als VdPB bieten Pflegenden eine Corona Krisenberatung bei Fragen und Gesprächsbedarf an. Dort und in unseren eigenen beruflichen Kontexten sehen wir: Die meisten Pflegekräfte arbeiten aus voller Überzeugung, aber sie sind an den Grenzen ihrer Kräfte. Und eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht.
In den Kliniken wurden zunächst elektive Eingriffe ausgesetzt, um eine stille Reserve an Ärzten zu haben, falls die Fallzahlen zu stark steigen. Ist ein vergleichbares Konzept für die Altenpflege denkbar?
Nein, denn es gibt durch die Infektionserkrankung ja nicht weniger Pflegebedürftige. Wir können nicht einfach weniger pflegen, um mehr Ressourcen zu schaffen, und das tun die Kolleg*innen auch nicht. Sie versorgen alle weiter, denn die Bedarfe und die Nachfrage sind nach wie vor hoch. Wir haben daher keine Puffer, auf die wir zurückgreifen könnten.
Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die wichtigsten Herausforderungen
Die psychische Belastung ist sehr hoch – schon allein deshalb, weil wir nie wissen, was morgen geschieht. Auch dort, wo noch niemand infiziert ist, kann sich die Situation über Nacht ändern. Viele Pflegemitarbeiter*innen haben zudem große Sorge, sich selbst anzustecken. Wir wissen ja aus vielen Erhebungen, dass Pflegende, genauso wie Ärzt*innen, stärker ansteckungsgefährdet sind. Hinzu kommen noch die enormen Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte, die uns staatlich aufgegeben sind. Denken Sie etwa an das noch immer stark eingeschränkte Besuchsrecht bei den Bewohner*innen. Und erklären Sie mal einem demenziell eingeschränkten Menschen, warum er Abstand halten soll, warum er nicht mehr das Haus verlassen darf und warum keine Gruppenaktivitäten stattfinden!
Mittlerweile befinden wir uns auch in einer ethischen Krise. Jahrelang haben wir darum gekämpft, dass freiheitsentziehende Maßnahmen aus den Einrichtungen verschwinden. Und nun müssen wir diskutieren, was wir mit erkrankten Menschen tun, die sich nicht an die Vorgaben halten, weil sie sie nicht verstehen. Manche Behördenmitarbeiter antworten auf diese Frage: „Dann müssen Sie sie halt ruhigstellen!“ Das aber ist genau das, was wir nicht mehr tun wollten! Hinzu kommen rechtliche Dilemmata: Was passiert, wenn ich mich falsch verhalte und dadurch z.B. aus Versehen jemanden infiziere? Wie reagiert die Außenwelt, wenn während meiner Tätigkeit ein Fehler passiert, den man mir anlastet? Es gibt sehr viel Unsicherheit unter den Pflegenden.
Ist fehlende Schutzkleidung noch ein Thema?
Ich dachte eigentlich, es wäre kein Thema mehr, aber beim Tag der Pflege am 12. Mai wurde ich eines Besseren belehrt. Beim gemeinsamen Gespräch mit Ministerin Huml berichteten uns Mitarbeiter*innen aus verschiedensten Pflegebereichen, ambulant und stationär, dass noch immer Schutzkleidung fehlt. Dafür habe ich als Verantwortlicher unserer Einrichtung wenig Verständnis. Am Anfang der Pandemie war es natürlich nicht leicht, aber heute kann man ausreichend Schutzkleidung bekommen – auch wenn sie teilweise überteuert ist. Zum Schutz aller Pflegenden müssen zumindest FFP2-Masken zur Verfügung stehen! Ich appelliere daher an alle Träger und Verantwortlichen, sich darum zu kümmern!
Wie steht es um die ärztliche Versorgung und z.B. die Arbeit von Physiotherapeuten oder Logopäden im Heim?
In unserem Haus war die ärztliche Versorgung selbst während der Komplettschließung immer gegeben, denn mit den meisten Hausärzten funktioniert die Zusammenarbeit einwandfrei. Therapeuten und „sonstige Dienstleister“ dürfen offiziell seit dem 11.5. wieder zu uns kommen. Auch für sie mussten wir ein Konzept erarbeiten – vor allem hinsichtlich der Schutzausrüstung. Mittlerweile klappt alles sehr gut, denn es handelt sich ja um medizinisch gut ausgebildetes Personal, dem ich nicht erklären muss, was Hygiene ist. Es ist aus meiner Sicht auch unbedingt notwendig, dass Therapeuten kommen können.
Prof. Jauch hat uns in der Ausgabe 09/2020 von Schwierigkeiten bei der Verlegung von Heimen ins Krankenhaus oder zurück berichtet. Deckt sich das mit Ihrer Erfahrung?
Ja, das ist noch immer nicht einfach. In den letzten sieben Wochen hatten wir überaschenderweise nur wenig medizinische Auffälligkeiten bei unseren Bewohner*innen. Nur zwei Menschen mussten in die Klinik gebracht werden – einmal wegen eines Sturzes und einmal wegen einer medikamentösen Neueinstellung. Doch noch immer sind viele Kliniken mit stationären Aufnahmen sehr zurückhaltend und versuchen zuerst, die Patienten ambulant zu versorgen. Wird jemand stationär aufgenommen oder entlassen, gibt es dafür klare Vorgaben, die natürlich auch Hürden darstellen. Heute etwa werden wir eine Bewohnerin wieder zurück übernehmen, die daher nun für zwei Wochen ihr Zimmer nicht mehr verlassen darf und vom Personal nur mit Schutzausrüstung betreut wird. Das Monitoring ist in dieser Zeit auch ein anderes. Obwohl wir ihr Zimmer natürlich nicht zuschließen, ist sie sozusagen „eingesperrt“. Das wird schwierig für sie und für uns, denn sie ist demenziell verändert und kann das nicht verstehen.
Wie reagieren die Bewohner*innen allgemein auf die Maßnahmen?
Sie verändern sich, und viele leiden sehr darunter. Auch die Menschen mit Demenz spüren, dass der Ablauf und das Leben völlig anders sind als früher. Statt auf Gemeinschaft zu setzen mussten wir unser Wohngruppenkonzept wieder auf eine Funktionspflege umstellen. Pflegerisch machen wir also sozusagen „einen alten Hut“. Für die Bewohner*innen ist das sehr schwierig, weil sie es gewohnt waren, sich zum Frühstück zu treffen, dass Präsenzkräfte tagsüber für sie da waren und dass es Unterhaltung in Kleingruppen gab. Dass all das nun nicht mehr stattfinden kann, darunter leiden sie genauso wie unter dem Besuchsverbot. Wir haben zwar Fensterbesuche und Skype-Gespräche ermöglicht, um möglichst viel zu kompensieren. Das war eine schöne Erfahrung. Doch das kann das vorherige Leben nicht ersetzen.