Leitartikel

Zwei Jahre Pandemie in Altenheimen. Menschenrecht Kontakt

Angst, Unsicherheit und Einsamkeit in den Altenheimen – darüber sprachen die MÄA vor zwei Jahren zum ersten Mal mit Georg Sigl-Lehner, dem Heimleiter und Präsidenten der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB). Zwei Jahre später hat sich vieles verändert. Normalität aber sieht anders aus, findet Sigl-Lehner.
Zwei Jahre Pandemie in Altenheimen, Menschenrecht Kontakt
Zwei Jahre Pandemie in Altenheimen, Menschenrecht Kontakt

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Herr Sigl-Lehner, hätten Sie vor fast zwei Jahren, im Mai 2020 gedacht, dass wir zwei Jahre später immer noch über die Pandemie sprechen würden (s. MÄA 12/2020)?

Ehrlich gesagt habe ich das damals nicht gedacht, oder ich habe es verdrängt. Wobei es war klar, dass das Virus nicht so schnell vorübergehen würde und dass es uns vor ganz andere Herausforderungen stellen würde als bisher. Die Dimension war aber trotzdem nicht absehbar.

Damals waren die Altenheime Brennpunkte der Pandemie. Wie ist die momentane Situation?

Wir haben nach wie vor eine angespannte Lage, aber die Gründe sind andere. Wir haben weniger schwere Verläufe in den Einrichtungen. Nur eine Bewohnerin hat sich aktuell über ihren Ehemann mit Omikron infiziert. Hätten wir sie nicht getestet, wäre es gar nicht aufgefallen. Fast alle, auch Kliniken und ambulante Dienste, haben jedoch massive Personalausfälle, weil die Omikron-Variante so hoch ansteckend ist. Zum Glück hatten wir in unserem Heim nur in der vierten Welle einen sehr kleinen und kontrollierten Ausbruch, ohne Todesfälle. Wir konnten das Virus von unseren Bewohner*innen weitgehend fernhalten. Momentan stecken sich aber viele Mitarbeiter*innen außerhalb der Einrichtungen an, vor allem in der häuslichen Umgebung über die Kinder, und das in einer anderen Schlagzahl, als wir das bisher kannten. Es vergeht kein Tag ohne eine neue Nachricht über einen Kontakt oder sogar einen Positivfall. Diese Mitarbeiter*innen stehen uns nicht mehr für den Dienst zur Verfügung. Das ist unsere ganz große Herausforderung, die eigentlich schon keine*r mehr verkraftet.

Damals wurde noch kaum in den Altenheimen getestet, weil es nicht bezahlt wurde. Wie ist das heute?

Wir sind inzwischen sozusagen ein Testzentrum. Ich allein habe bestimmt schon 1.000 bis 2.000 Tests durchgeführt. Wir waren mit die ersten, die damals Schnelltests gekauft haben, als sie auf den Markt kamen. Danach wurden sie uns vom Freistaat zur Verfügung gestellt. Im Rahmen unserer Teststrategie testen wir derzeit jede*n Mitarbeiter*in vor Dienstantritt und jede*n Besucher*in, egal, ob geimpft, genesen oder nicht geimpft. Testen ist für uns Alltag. Es macht keinen Spaß, aber wir hatten dadurch unsere Treffer. Und diese Treffer haben uns mit Sicherheit immer wieder vor schweren Situationen bewahrt, weil wir so sehr frühzeitig positive, aber noch unsymptomatische Kolleg*innen oder auch Besucher*innen identifizieren konnten. Wir wissen zwar, dass die Tests bei Omikron nicht die Zuverlässigkeit haben wie bei vorherigen Varianten – aber noch immer fischen wir infizierte Menschen heraus.

Ein wichtiges Thema damals waren auch die sich ständig ändernden Verordnungen. Wie sieht es damit heute aus?

Wir haben eine große Übung in der Umsetzung und Ausführung von Verordnungen. Es ist tatsächlich unglaublich, was wir seit zwei Jahren über den Bund, das Land, das RKI, die Gesundheitsämter und andere regionale Stellen umsetzen müssen. Gerade geht es darum, wie lange zweifach Geimpfte und danach Infizierte und Genesene als geboostert gelten. Trotz vieler Verordnungen tun wir uns oft schwer, die richtigen Antworten zu finden. Auf jede Verordnung folgt außerdem eine Anpassung der einrichtungsinternen Prozesse. Es bedarf einer regen und guten Zusammenarbeit mit allen Verantwortlichen, um all dies an die Basis zu kommunizieren.

Thema Basis und Verordnungen. Wie stehen Sie zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht? Wie sehen das Ihre Mitarbeiter*innen?

Als Vereinigung der Pflegenden in Bayern haben wir uns sehr früh und deutlich für das Impfen ausgesprochen. Von Anfang an haben wir eine einrichtungsbezogene Impfpflicht aber kritisch gesehen. Anfangs, in 2021, waren wir auch gegen eine allgemeine Impfpflicht. Als aber klar wurde, dass sich ein gewisser Anteil der Bevölkerung aus unterschiedlichen Gründen einfach nicht impfen lassen möchte, haben wir uns sehr deutlich für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Eine rein einrichtungsbezogene Impfpflicht hingegen bringt aus unserer Sicht aber mehr Probleme als Vorteile. In unserer Einrichtung haben wir zwar bei Bewohner*innen, Besucher*innen und Mitarbeiter*innen eine überdurchschnittlich hohe Impfquote. Nur drei von 100 Mitarbeiter*innen sind ungeimpft, und zwei davon wollen sich mit dem neuen Impfstoff von Novavax impfen lassen. Aber ich möchte auch nicht auf diese drei verzichten müssen. Das Problem haben alle Kliniken, Altenheime, und – nicht zu vergessen – Behinderteneinrichtungen sowie ambulanten Pflegedienste.

Wir alle fragen uns: Was passiert nach dem 16. März, wenn die Impfpflicht gilt? Unabhängig vom Bundesland und der Einrichtung können wir uns den Verlust dieser Mitarbeiter*innen nicht leisten. Es wird schon systemkritisch, wenn nur fünf Prozent ausfallen, weil das Personalbudget in allen Einrichtungen auf Kante genäht ist. Bei der derzeitigen, eigentlich recht hohen, Impfquote im Gesundheitsbereich von 86 Prozent in Bayern könnten jedoch 14 Prozent nicht mehr arbeiten. Das kann keine Einrichtung verkraften.

Gibt es auch Kolleg*innen, die sagen: Dann verlasse ich eben diesen Beruf?

Ja, diese Aussagen kommen, und zwar nicht nur von den Ungeimpften. Wenn bei einer Einrichtung 14 Prozent der Mitarbeiter*innen aufgrund nicht vorhandener Impfung aufhören müssen, löst das natürlich etwas aus. Diese Menschen arbeiten seit zwei Jahren am absoluten Limit, und auch vorher schon hatten wir immer mit dem Thema Personal zu kämpfen. Jetzt solidarisieren sich auch geimpfte Kolleg*innen mit den ungeimpften. Dass ausgerechnet bei uns mit unserer hohen Impfquote eine Impfpflicht gelten soll, sehen viele nicht ein. Schließlich ist kein Bewohner zur Impfung verpflichtet, und kein Patient im Krankenhaus, obwohl diese Menschen die Intensivstationen bis zur vierten Welle fast zum Überlaufen gebracht haben.

Beim letzten Interview mussten Sie Bewohner*innen voneinander absondern. Ist das immer noch der Fall?

Nein, während der dritten, spätestens aber der vierten Welle konnten wir vieles wieder zulassen. Auch hier haben wir viel gelernt. Wir können unsere Schutzkonzepte jetzt anders zur Wirkung bringen – u.a. aufgrund der hohen Impfquote unter Mitarbeiter*innen wie Bewohner*innen und der Testungen. In der Normalität angekommen sind wir aber immer noch nicht, und darunter leiden die Bewohner*innen. Uns fehlt die Offenheit, die wir in dieser Einrichtung immer gelebt haben. In unserem Haus ist die Alzheimer-Gesellschaft genauso zu Hause wie der Hospizverein und Mutter-Kind-Gruppen. Das hat ein Alltagsleben in unsere Einrichtung gebracht. Feste und Feiern finden nach wie vor nicht statt, viele Aktivitäten sind nur in Kleingruppen möglich.

Wie geht es den Demenzkranken heute?

Seit der ersten Welle wissen wir, dass das veränderte Alltagsleben eine Auswirkung auf demenziell veränderte Menschen hat. Menschen mit Demenz verstehen auch heute noch nicht, warum sie eine Maske tragen sollen. Außerdem brauchen sie meist viel Nähe und Kontakt. Sie spüren unbewusst, dass etwas anders ist und dass sie etwas nicht bekommen, was sie eigentlich brauchen würden. Das wiederum führt zu anderen Auswirkungen der Demenz.

Wie sieht die Lage bei den Besucher*innen aus? Darf jede*r kommen?

Unter den Voraussetzungen von 3G darf jede*r kommen, auch Ungeimpfte. Alle werden getestet. Grundsätzlich ist bei uns sieben Tage die Woche ein Besuch möglich. In der ersten Welle standen wir alle nackt und hilflos vor dieser Pandemie und hatten nichts – noch nicht einmal das Richtige zum Anziehen. Das alles hat sich zum Glück größtenteils nach und nach geregelt, auch das Besuchsverbot der ersten Welle ist zum Glück verschwunden. Denn das war für uns das Schlimmste, das wir in der Pandemie erlebt haben. Man hat uns zu einer Anstalt gemacht, und das führte zu massiven Auswirkungen bei allen – den Bewohner*innen, aber auch den Mitarbeiter*innen, die bewohnerorientiert arbeiten und denken. Fensterbesuche und Skype konnten persönliche Kontakte nicht ersetzen. Das Besuchsverbot wird hoffentlich nie wieder kommen. Wir haben gelernt, dass Besuche nicht eingeschränkt werden dürfen.

Aber muss man die alten Menschen nicht durch Beschränkungen und Kontrolle schützen?

Natürlich sind wir auch ein Stück weit verpflichtet, Kontrolle auszuüben. Ich stelle die Kontrolle aber nicht so in den Vordergrund, sondern vertraue auf die Besucher*innen. Auch sie haben ein großes Interesse, niemanden anzustecken – weder uns noch ihre Angehörigen. Damit sind wir sehr gut gefahren. Wenn wir alle zusammenarbeiten und uns gegenseitig unterstützen, kann und soll bei uns jede*r kommen und gehen können, wie er oder sie will. Zeitliche „Besuchskorridore“ gab es bei uns nie. Ich dachte mir immer: Damit werden wir wirklich zum Gefängnis, und das sind wir nicht. Besucher*innen und auch Kinder durften nach Ende des allgemeinen Besuchsverbots zu jeder Zeit zu ihren Angehörigen ins Zimmer. Die Menschen, die bei uns leben, haben ein Recht auf Privatheit und Zuhause.

Können Sie verstehen, dass es in Kliniken noch immer Besuchsverbote gibt, während in Bayern bis zu 10.000 Menschen in Fußballstadien feiern dürfen?

Man sollte genauer hinschauen, und die Verantwortlichen sollten sich die Situation vergegenwärtigen. Natürlich gibt es in Kliniken ein hohes Schutzbedürfnis für die Patient*innen. Aber diese Gruppe ist sehr heterogen. Junge Patient*innen, die über ihr Mobiltelefon mit der ganzen Welt verbunden sind, leiden unter dieser Situation weniger als ältere auf einer geriatrischen Station. Wir haben immer gesagt: Wir brauchen diesen sozialen Bezug. Angehörige sind keine Störfaktoren, sondern wichtige Partner*innen in der Versorgung der Menschen. Das Gleiche gilt aus meiner Sicht für Kliniken. Stellen Sie sich vor: Ein älterer, demenziell veränderter Mensch wird über Wochen von seinen engsten Bezugspersonen getrennt. Die Verantwortlichen sollten aus meiner Sicht sehr selbstkritisch hinschauen, ob das in dieser Form gerechtfertigt ist oder ob es nicht doch Wege für einen gesicherten Kontakt zu Angehörigen gibt.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 6 vom 12.03.2022