Leitartikel

Vom Lockdown zum Diabetes

Der Herbst mit steigenden Coronazahlen steht bevor. Doch nicht nur das Virus, sondern auch die schweren Krankheitsverläufe durch Volkskrankheiten wie Diabetes belasten die Intensivstationen. Es wird Zeit für mehr Prävention, finden die beiden Internisten Dr. Arthur Grünerbel und Prof. Dr. Helene von Bibra.

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Herr Dr. Grünerbel, welche Auswirkungen hatte der vergangene Coronawinter auf Diabetes?

Grünerbel: Wie schon beim ersten Lockdown kamen danach viele stoffwechselentgleiste Patient*innen zu uns, die entweder aus Angst oder mangels Möglichkeiten Arztbesuche aufgeschoben hatten. So hatten wir eine Unmenge an Diabetes-Neudiagnosen. Und viele Patient*innen mit bekanntem Diabetes hatten sich deutlich verschlechtert, weil sie sich z.B. nicht mehr aus dem Haus getraut haben oder aufgrund der Vorgaben ihre übliche Sportaktivität nicht mehr ausüben durften. Gleichzeitig wurde die Ernährung nicht reduziert, sondern es wurde im Gegenteil, oft aus Langeweile, noch mehr gegessen.

Aber spazieren gehen war doch ausdrücklich erlaubt?

Grünerbel: Ja, aber viele, Ältere und leider auch viele Jüngere, haben uns gesagt, dass sie sich nicht getraut haben – das war wohl nicht nur vorgeschoben. Besonders lang hat das Problem bei denen gedauert, die gern Schwimmen oder ins Fitnessstudio gegangen sind, was ja bis in den Sommer hinein schwierig oder gar nicht möglich war. Nach rund 1,5 Jahren ohne oder mit zu wenig Sport hatten daher viele wieder eine wesentlich stärkere Insulinresistenz.

Von Bibra: Die Süddeutsche Zeitung hat im Juni über eine Studie der TU berichtet: Von rund 1.000 quer durch alle Altersgruppen befragten Menschen haben 40 Prozent während des Lockdowns im Mittel 5 Kilo zugenommen, und rund 50 Prozent gaben an, sich weniger bewegt zu haben. Leider betraf dies gerade Jüngere, die vorher schon mit ihrem Gewicht gekämpft hatten. Diabetesprävention ist jetzt nötiger denn je.

Welche Möglichkeiten gibt es?

Von Bibra: Bisher hatten die Krankenkassen Ernährungsberatung nur für Menschen erstattet, die bereits einen Diabetes hatten. Neuerdings können Hausärzt*innen aber ihren übergewichtigen diabetesgefährdeten Patient*innen auch einen Online-Präventionskurs verschreiben. Wir haben z.B. ein Online-Ernährungsprogramm (s. Kasten) zur Diabetesvorbeugung entwickelt, das von der Zentralen Prüfstelle Prävention (ZPP) zertifiziert worden ist und diese Versorgungslücke füllt: Die Kursgebühr wird von den gesetzlichen Krankenkassen nach erfolgreichem Kursabschluss bis zu 100 Prozent übernommen. Der Kurs vermittelt Ernährung nach dem Flexicarb-Prinzip. Dabei werden Blutzucker- bzw. Insulinspitzen vermieden, so dass die Stoffwechsellage Insulinresistenz mit ihren überhöhten Insulinspiegeln vermieden oder geheilt werden kann.

Wie lässt sich das erreichen?

Von Bibra: Man kann eigentlich alles weiter essen – nur die Mengenverhältnisse ändern sich. Indem man den Teller z.B. schon halb mit Gemüse füllt, enthält die andere Hälfte automatisch weniger Kalorien in Form von Fett und Kohlenhydraten. Bei Kohlenhydraten sollte man solche mit niedriger glykämischer Last bzw. Index wählen. Im Kurs werden auch Tipps für den Alltag gegeben, z.B. wie man beim Einkaufen Gesundes auswählt. In Kochrezepten zeigen wir dann, wie man das Gemüse schmackhaft zubereitet. Leider haben wir hier in Bayern eine Null-Kultur bei Gemüse, das nach langem Kochen in Wasser oft langweilig schmeckt. Ganz anders als in Frankreich oder Italien: Die mediterrane Küche weiß einfach um schmackhafte Zubereitung.

Müssen sich Übergewichtige oder Prädiabetiker*innen anders ernähren als Normalgewichtige?

Grünerbel: Grundsätzlich kann man die kalorienreduzierte mediterrane Mischkost allen empfehlen. Wer aber Sport treibt, insbesondere Leistungssport, muss sich natürlich anders ernähren als jemand, der täglich viele Stunden sitzt. Außerdem genügt eine generelle Empfehlung meist nicht, weil sich die Einzelnen oft mit der Umsetzung schwer tun. Diabetiker*innen sollten unbedingt die Möglichkeit bekommen, eine Gruppenschulung zu besuchen. Je nach Diabetes-Typ wird darin eine andere Ernährung empfohlen.

Von Bibra: In unserem Online-Ernährungskurs z.B. gibt es deswegen alle Rezepte in drei Mengenangaben – für die, die abnehmen sollen und ihre Insulinresistenz heilen müssen, für die leicht Übergewichtigen, die ein bisschen vorsichtig sein sollten und für die Schlanken, Fitten, die viel Sport treiben. Laut der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) sollen Kohlehydrate mehr als 50 Prozent der Energiezufuhr ausmachen, aber einige Expert*innen raten (Prä-) Diabetiker*innen eher zu Protein und Fetten.

Was ist richtig?

Von Bibra: Das Ergebnis dessen, was wir in Deutschland jahrzehntelang glaubten zu wissen, ist eine Gesellschaft von Übergewichtigen. Die Empfehlung der DGE muss man historisch sehen: Nach dem Krieg gab es wenig zu essen, aber viel Arbeit – zu der man sich aus eigener Kraft bewegen musste. Erst Anfang der 1990er Jahre kamen Statistiken zum besorgniserregenden Übergewicht der Deutschen heraus. Trotzdem hat die DGE weiter ihre Empfehlung für die „Gesunden“ ausgesprochen und dabei außer Acht gelassen, dass sie nur noch eine Minderheit anspricht. Es gibt seit mindestens zehn Jahren klare Evidenzen, dass man bei Insulinresistenz und Übergewicht mit Kohlenhydraten sparen muss.

Grünerbel: Es kommt grundsätzlich auf die Ausgewogenheit der Ernährung an. Wenn Sie schnell Gewicht abnehmen möchten, können Sie eine Weile dem Prinzip „Low Carb“ folgen. Auf die Dauer halten das allerdings die wenigsten durch, genauso wenig wie „Low Fat“. In unseren Patientenschulungen stellen wir daher in den Vordergrund, dass jede*r für sich eine kalorienreduzierte Ernährungsform mit weniger resorbierbaren Kohlenhydraten finden muss, die auch langfristig durchgehalten werden kann.

Welche Evidenz gibt es für die kohlenhydratreduzierte Ernährung?

Von Bibra: Es gibt dafür jede Menge Meta-Analysen zu Diabetes und auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und ich bin schon enttäuscht, dass das in unserem Gesundheitssystem so wenig zur Kenntnis genommen und umgesetzt wird. Im Ausland ist das anders. Die American Diabetes Association (ADA) hat schon im März 2018 neue Therapieempfehlungen für die Ernährung bei Typ-II-Diabetes veröffentlicht, die eindeutig Low Carb enthalten.

Grünerbel: Mittlerweile steht aber auch in unseren neuesten Leitlinien zum Typ-II-Diabetes, dass mit Low Carb der HbA1c-Wert und das Körpergewicht am wirksamsten gesenkt werden. Gerade für den Einstieg ist Low Carb gut, bei längerer Anwendung gleicht sich der Effekt allerdings an Low Fat an. Um eine Diabetes-Remission zu erreichen, kann man jedoch viel bewirken, wie z.B. die Meta-Analyse von Joshua Goldenberg et al. 2021 zeigt: Mit Low Carb erreichten nach sechs Monaten signifikant mehr Menschen einen HbA1c unter 6,5 Prozent als ohne. Bei Medikationsfreiheit waren die Unterschiede nicht signifikant, aber sechs Monate sind dafür auch eine zu kurze Zeitspanne. Entscheidend, um den Sättigungseffekt zu erreichen, ist eine ausreichende Proteinzufuhr (1,2g/kg Körpergewicht/Tag bei Nierengesunden, 0,8g bei Nierenkranken).

Ist Honig genauso schlecht wie Zucker, Reis wie Schokolade?

Grünerbel: Alles, wo Zucker zugesetzt ist, sollte man vermeiden, insbesondere bei Getränken. Aber auch Reis und Honig lassen den Blutzucker ansteigen. Wenn man den Reis aber an einem Tag kocht und erst am nächsten Tag isst, modifiziert sich die Stärke, sodass der Reiskonsum dann günstiger ist. Bei allen Übergewichtigen müssen leider die Portionen reduziert werden. Natürlich braucht es aber noch eine Lebensqualität für die Betroffenen: ein Vollkornbrot mit Honig ist also hin und wieder durchaus erlaubt.

Von Bibra: Die Verbindung zwischen Übergewicht und den daraus resultierenden Krankheiten wie Diabetes, Herzinfarkt und Herzversagen ist die Insulinresistenz. Diese Stoffwechselstörung kann man aber in den Griff kriegen und oft sogar heilen. Bei einem deutlich bauchbetonten Übergewicht sollte man anfangs bei der Auswahl und Menge der Kohlenhydrate richtig vorsichtig sein. Sobald man die Insulinresistenz im Griff hat, kann man wieder zu einer maßvollen Menge von Kohlenhydraten zurückkommen. In den Niederlanden gibt es für die Insulinresistenz eine ärztliche Leitlinie, die ganz klar eine Kohlenhydratrestriktion vorsieht.

Müssen Übergewichtige auf jedes Stück Kuchen verzichten?

Grünerbel: Man möchte keinesfalls der älteren Dame das Stück Kuchen am Sonntag versagen, weil das auch zum geselligen Miteinander beiträgt. Die schlechtesten Kohlenhydrate sind aber nach wie vor die aus prozessiertem Weißmehl. Die weiße Semmel, das Baguette, die Breze sollte man öfter weglassen bzw. gegen Roggen- oder Vollkornprodukte austauschen. Wenn überhaupt eine Breze, dann mit Butter, weil dadurch die Resorption langsamer ist. Vollkorn ist gut, solange es nicht verarbeitet ist. Hafer ist ein besonders gutes Mittel, um Insulinresistenz zu bekämpfen. Daher empfehlen wir unseren Insulinresistenten, mindestens einen Hafertag in der Woche einzulegen.

Also besser ein Hafermüsli als das Frühstück ganz weglassen?

Grünerbel: Letztlich muss das jede*r für sich entscheiden. Es gibt eine Arbeit, die zeigt, dass das Frühstück wichtig ist, weil die insulinausschüttenden Beta-Zellen für den Tag „programmiert“ werden. Gegen ein Haferflockenmüsli mit Nüssen am Morgen spricht nichts, es sollte aber nicht fertig gekauft, sondern selbst gemischt sein. Für andere kann es gut passen, erst mittags um 12 Uhr mit dem Essen zu beginnen. Wichtig ist die Diabetesschulung – mit den Menschen darüber zu reden, wie ihr Leben abläuft. Egal, welche Maßnahmen man empfiehlt – sie müssen dem persönlichen Alltag entsprechen, um umgesetzt zu werden. Bewegung und Sport gehören immer auch dazu.

Von Bibra: Typ-II-Diabetes ist die Pandemie vor, während und nach Corona und erschwert den Krankheitsverlauf bei Infektion mit Covid-19. Prävention ist daher dringend angesagt und evidenzbasiert machbar mit klügerer, bewusster Ernährung und mehr Bewegung. Die nun von den Krankenkassen unterstützten Präventions-Online-Kurse können dazu einen Anschub geben.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 20 vom 24.09.2021