Leitartikel

Urlaub von der Krankheit Wie Musiktherapie die Onkologie bereichert

Nicht immer braucht es in der Medizin ausschließlich Medikamente. Therapieformen wie die Musiktherapie können zum Beispiel Krebskranken helfen, mit der Erkrankung zu leben, Zugang zu ihren Emotionen zu bekommen und Ressourcen zu aktivieren. Der Münchner Musiktherapeut und Psychoonkologe Richard Löhr arbeitet an mehreren Münchner Kliniken in der kurativen und der palliativen Onkologie.

Herr Löhr, spielt die Musiktherapie in der Medizin aus Ihrer Sicht derzeit die Rolle, die sie verdient?

Sie ist auf jeden Fall eine berechtigte und wichtige Therapiemethodik, die schon zu Zeiten der alten Griechen zur Gesundung der Patienten verwandt wurde. Außer der Musiktherapie gibt es noch die Musikmedizin, in der die funktionale Wirkung von Musik genutzt wird. Besonders als Entspannungsverfahren hat Musik eine sehr
schnelle und unmittelbare Wirkung auf die Patienten. Da jedoch die Finanzierung im derzeitigen Gesundheitssystem oft nur von Fördervereinen getragen wird oder getragen werden kann, ist das Angebot und somit auch die Kenntnis über Musiktherapie und deren Wirkung ausbaufähig.

An welchen Kliniken arbeiten Sie derzeit?

Am Schwabinger Kinderkrankenhaus auf der Onkologie, in Großhadern auf der Knochenmarktransplantationsstation, in der Rotkreuzklinik auf der hämatologischen Station, in der Helios Klinik München West auf der onkologischen und der Palliativstation und in München-Harlaching auf der Palliativstation. Insgesamt drei Tage pro Woche bin ich in den verschiedenen Kliniken tätig.

Wie und in welcher Form behandeln Sie Ihre Patienten in den Kliniken?

In der Musiktherapie wird zwischen der rezeptiven und der aktiven Musiktherapie unterschieden. Zur rezeptiven Musiktherapie zählen Klangreisen oder -meditationen. Ich biete auch ein sogenanntes Stationssingen an, das zur aktiven Musiktherapie zählt. Es hilft den Patienten, aus der durch die Krankheit verursachten Isolation herauszukommen, mit anderen in Kontakt zu treten und die Krankheit gemeinsam zu tragen. Besonders in der Kinderonkologie arbeite ich viel aktiv: Dort vertonen wir zum Beispiel mit Trommeln wie der Ocean Drum Phantasiebilder und -geschichten. So können wir in Gedanken schnell eine Reise ans Meer unternehmen.

Was kann Musiktherapie speziell im onkologischen Bereich bewirken?

Sie dient der Stärkung von Ressourcen und der generellen Stabilisierung wie auch der psychoonkologischen Begleitung. Gegenüber der rein sprachlichen Psychoonkologie hat die Musiktherapie aber zusätzliche Möglichkeiten, weil sie auch nonverbal wirkt. Ähnlich wie etwa das autogene Training oder die progressive Muskelentspannung hat sie oft sehr schnell einen entspannenden Effekt- ohne, dass die Patienten aktiv etwas tun müssen. Außerdem können zum Beispiel Ängste, Ohnmacht und Verzweiflung beim Musikmachen nonverbal ausgedrückt und erlebbar gemacht werden.

Warum dann nicht lieber gleich mit autogenem Training oder progressiver Muskelentspannung arbeiten?

Manche Patienten lehnen es ab, aktiv an etwas Neuem, ihnen Unbekannten teilzunehmen. Musik hingegen ist oft ein
vertrauter Lebensbegleiter. Fast alle Menschen haben Erfahrung damit – egal, ob sie selbst schon einmal aktiv Musik gemacht haben oder sie nur konsumiert haben. Musik wird in der Regel als etwas Positives erlebt. Sie ist ein Spiegel der aktuellen Befindlichkeit und wirkt funktional-unterstützend. Wir alle kennen Musik, mit der es uns besonders leicht fällt zu entspannen bzw. einzuschlafen oder andersherum Musik, die uns zum Beispiel beim
Autofahren genau daran hindert. Man sagt, dass Musik die Sprache der Gefühle ist, weil sich unsere Emotionalität dort am schnellsten und direktesten ausdrückt und für andere spürbar wird. Außerdem ist sie international. Jeder kann Musik sofort als fröhlich oder traurig klassifizieren, auch wenn man die Sprache nicht spricht.

Was für Instrumente außer Trommeln nutzen Sie noch für Ihre Arbeit?

Sehr wichtig sind die Gitarre oder ein Akku-Klavier, damit ich Lieder begleiten kann. Ein spezifisches Instrument der Musiktherapie ist das Monochord. Dieses sehr alte Instrument hat bereits Pythagoras erfunden. Neben dem Grundton verfügt es über viele Obertöne, die eine besonders beruhigende und entspannende Wirkung haben. Gerade onkologische Patienten nehmen es als sehr angenehm wahr, weil es einen sehr leisen, sanften Klang hat, der
zum Träumen einlädt. Wenn ich das Instrument für die Patienten spiele, passiert es zuweilen, dass sie dabei einschlafen. Das Angebot ist sehr niederschwellig, und die Patienten lassen sich daher sehr gern darauf ein.

Dürfen die Patienten auch selbst Instrumente spielen? 

Viele Patienten erleben es in der Musiktherapie zum ersten Mal, dass jemand für sie spielt und genießen es daher sehr. Für diejenigen, die Lust haben, selbst zu spielen, stehen meine Instrumente zur Verfügung. Und für Leute, die glauben Sie können kein Musikinstrument spielen, ist das aus insgesamt drei verschiedenen Instrumenten
bestehende KoTaMo interessant. Auf der einen Seite ist es ein Monochord, auf einer anderen eine sogenannte Ko-To. Das ist ein japanisches Saiteninstrument, mit dem ich für die Patienten eine Melodie spielen oder improvisieren kann. Als drittes Instrument ist eine Tanpura integriert – ein indisches Saiteninstrument, das nur vier Saiten hat, die in Quinten gestimmt sind. Auch dieses Instrument hat eine beruhigende, harmonisierende Wirkung. Das gesamte Instrument nennt sich Ko-Ta-Mo – Ko für Ko-To, Ta für Tanpura und Mo für Monochord. Die Patienten können auch Klangröhren, Klangschlitztrommeln, die Meerestrommel oder zum Beispiel einen Regenmacher ausprobieren. Außerdem habe ich ein Didgeridoo dabei.

Was machen Sie mit dem Didgeridoo?

Viele Patienten freuen sich sehr über dessen tiefen, sonoren Klang. Mit den Kindern scherze ich oft, dass es aussieht wie ein Elefantenrüssel und Geräusche macht wie ein Elefanten-Pups. Darüber lachen sie. Für manche der kleinen Patienten mache ich damit eine „Fuß-Pups-Massage“, indem ich das Didgeridoo an deren Fuß halte und dann darauf spiele. Sogar ältere Patienten, von denen man das nicht erwarten würde, werden oft neugierig, wenn ich ihnen davon erzähle. Über das Spielen und den Atem werden die Wärme und die Schwingungen auf die Füße übertragen, was viele – unabhängig vom Alter – sehr angenehm finden. Dies ist spürbare Musik, wie eine Berührung.

Welche Patienten profitieren von der Musiktherapie?

Im Prinzip alle onkologischen Patienten und manchmal sogar deren mitmusizierende Angehörige. Bei denjenigen, die gern singen oder selbst Musik machen, habe ich einen besonders schnellen Zugang. Aber auch diejenigen, die wenig eigene Erfahrung mit Musik haben, sind sehr aufgeschlossen. Wenn ich für sie auf der Ko-Ta-Mo eine Musik zum Träumen spiele, berichten mir viele anschließend, dass sie an ihren letzten Urlaub gedacht habe oder erzählen mir von anderen angenehmen Erlebnissen.

Könnte man alternativ nicht einfach eine CD mit Entspannungsmusik einlegen?

Als Musiktherapeut und Psychoonkologe geht es mir auch darum, Zugang zu den Patienten über ein Gespräch zusätzlich zur Musik zu bekommen und ihre Ressourcen zu stärken. Das geht meines Erachtens nur im persönlichen Miteinander. Außerdem erhebe ich im Gespräch eine musiktherapeutische Anamnese, um zu erfragen, in welcher Form die Patienten Musik in ihrem Leben bisher genutzt haben. So kann ich die Erkrankten therapeutisch „dort abholen, wo sie stehen“.

Ist Musiktherapie für alle Krankheitsphasen geeignet?

Im Prinzip ja. Auf den Palliativstationen wünschen sich die meisten vor allem Entspannungsmusik und Klangmeditationen. Selbst aktiv Musik zu machen steht dort meist nicht mehr so im Vordergrund, wobei auch dies durch das Ko-Ta-Mo- Instrument möglich ist. Gut angenommen wird dort auch das Stationssingen, zu dem manche Patienten sogar im Bett gebracht werden. Dabei singen wir gemeinsam Wunschlieder. Häufig kommen dann Geschichten und Erinnerungen von früher auf. Manchmal wird geweint, wenn die aktuelle Situation des Abschied-nehmenmüssens zum Thema wird, die in vielen Volksliedern vorkommt. Dann sprechen wir darüber, ob wir Angst vor dem Sterben und Nicht-mehr-Sein haben oder vor dem Leiden. Zum Schluss singen wir oft das Lied „Von guten Mächten treu und still umgeben“ von Dietrich Bonhoeffer. Auch wenn es oft traurig wird, fühlen sich viele durch die Musik, aber natürlich auch durch die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte, der Pflegekräfte, Hospizhelfer, Atemtherapeuten
etc. unterstützt und begleitet – egal, ob sie nun gläubig sind, oder nicht.

Gibt es auf der Palliativstation auch Platz für Fröhlichkeit und gute Laune?

Natürlich. Wir singen auch viele lustige Lieder, etwa das vom Dr. Eisenbarth. Die Patientinnen und Patienten dürfen aus über 500 Liedern wählen. Darunter befinden sich auch bekannte Lieder wie „Über den Wolken“ von Reinhard Mey oder „Mein kleiner grüner Kaktus“. Patienten, die sich zu schwach zum Teilnehmen fühlen, bitten oft darum, die Tür des Krankenzimmers aufzulassen, damit sie zuhören können. Es ist interessant, dass sich die Atmosphäre auf der Palliativstation durch das Stationssingen verändert. Auch an den Tagen danach sprechen mich oft noch
viele Patienten auf die Lieder an – selbst, wenn sie nicht aktiv mitsingen konnten.

Lassen sich die Erfolge der Musiktherapie messen?

Der Erfolg zeigt sich daran, dass Patienten, die vorher unruhig waren, einschlafen können oder ruhiger werden. Zur Monochord- Musik gibt es Studien, dass das Schmerzempfinden dadurch herabgesetzt und eine Entspannung erreicht wird. Die Musik hat eine physiologische und eine psychologische Wirkung. Einige Patienten werden dadurch animiert, ihre Zimmer zu verlassen und beim Stationssingen mitzumachen. Dadurch gewinnen sie an Lebensqualität und werden auch offener für Gespräche. Manche nehmen wieder Kontakt zu Familienmitgliedern auf, zu denen der Kontakt abgebrochen war oder von denen sie sich entfernt hatten.

Wodurch wirkt die Musik?

Es entsteht eine Beziehung zwischen Patient und Therapeut, die als positiv erlebt wird. Weil Musik als künstlerischer Ausdruck fast ausschließlich positiv besetzt ist, denken viele Patienten, dass sie weniger weniger schnell als psychotherapeutisch bedürftig stigmatisiert werden. Durch diese Öffnung ist dann die psychoonkologische Begleitung möglich. Zum Musikhören muss sich keiner etwas trauen oder einen intellektuellen Zugang finden. Und wer auf den pentatonischen Instrumenten spielt, hat oft schon nach zehn Sekunden ein Erfolgserlebnis. Auch diejenigen, denen als Kind gesagt wurde, dass sie nicht singen können oder beim Klavierspielen unbegabt seien, können sich so künstlerisch-kreativ ausdrücken. 

Gibt es auch im niedergelassenen Bereich Musiktherapie?

Es gibt auch musiktherapeutische Praxen. Bei der deutschen Gesellschaft für Musiktherapie gibt es Informationen zu den verschiedenen Arbeits- und Therapiebereichen und eine Liste mit Angeboten
zur ambulanten Musiktherapie. Ich selbst kann leider keine ambulante Musiktherapie mehr anbieten, da ich das zeitlich einfach nicht mehr schaffe. Auch zum niedergelassenen Bereich gibt es aktuelle Studien, etwa zur Behandlung von Tinnitus- Patienten. Das Deutsche Zentrum für
Musiktherapieforschung (Viktor Dulger Institut) in Heidelberg etwa informiert über große Erfolge dabei. Auch bei den meisten psycho-pathologischen Krankheitsbildern ist Musiktherapie ein attraktives psychotherapeutisches Angebot. Je nach Krankenkasse können dafür sogar
die Kosten übernommen werden. 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler