Update HIV: Neuinfektionen verhindern
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Dr. Jäger, das letzte Interview in den MÄA war 2017. Was gibt es seither Neues im Bereich HIV?
Die Schlagzeilen derzeit werden bestimmt durch einen weiteren HIV-Patienten mit einer Remission – den sogenannten „London-Patienten“. Es ist relativ genau zehn Jahre her, dass im New England Journal of Medicine der erste, sogenannte „Berlin-Patient“ beschrieben wurde. Beide Patienten brauchen heute keine Medikamente mehr, und es ist kein Virus mehr nachweisbar. Beide hatten aber zusätzlich zu HIV eine zweite, schwere HIV-unabhängige Krankheit – der erste eine Leukämie, der zweite ein Hodgkin-Lymphom. Zur Behandlung der zweiten Erkrankung haben beide eine Stammzell-Transplantation von Spendern mit einem CCR5-Delta32-Gendefekt erhalten, die dazu führt, dass sich der Spender selbst nicht mit HIV anstecken kann. Nach zehn Jahren weiterer Forschung wurde der London-Patient durch die nötige Stammzelltransplantation allerdings deutlich weniger gesundheitlich beeinträchtigt als der Berlin-Patient, der fast daran gestorben wäre. Der London-Patient brauchte keine Bestrahlung und ist jetzt schon 19 Monate ohne Medikamente virusfrei.
Was bedeutet diese Remission oder Heilung für die weitere HIV-Behandlung?
Sie ist psychologisch wichtig, denn sie bedeutet: Das Konzept einer Remission kann weiter verfolgt werden. Natürlich kann man aber auch fragen: Warum sind in zehn Jahren nicht noch mehr Patienten geheilt worden? Wir fragen uns allerdings, ob wir überhaupt eine Heilung brauchen, wenn wir mit einer gut verträglichen Tablette am Tag die allermeisten Patienten gut behandeln können? Auch viele Brustkrebspatientinnen nehmen ja ihr Anti-Hormon-Medikament weiter ein, obwohl sie bereits als geheilt oder in Remission befindlich gelten. Die Heilung müsste sehr viel einfacher vonstatten gehen. Bis jetzt sind knapp 40 Stammzelltransplantationen an HIV-Patienten vorgenommen worden, sechs davon ohne diese Mutation bzw. Deletion, die anderen mit dieser Deletion – ohne Erfolg. Wir wissen noch nicht, warum es beim London- und Berlin-Patienten geklappt hat, und bei den anderen nicht.
Wäre eine Heilung mit einer solch belastenden Therapiemethode für einen Großteil der Patienten überhaupt denkbar?
Nein, außer die Patienten haben selbst eine zweite schwere Erkrankung. Die Frage ist aber: Können wir zum Beispiel mit einer Genschere eine Art Mimicry der Stammzelltransplantation durchführen und damit eine Delta32-Deletion erreichen? Eine solche genetische Beeinflussung wäre ein großer Schritt in Richtung Heilung – aber auch nur dann, wenn das Virus überwiegend den CCR5-Rezeptor, und nicht z.B. den CXCR4-Rezeptor nutzt. Zudem sind Verfahren wie CRISPR/CAS ethisch sehr umstritten und u.a. durch das chinesische Experiment an Embryos in Verruf geraten.
Was halten Sie vom Selbsttest, den man mittlerweile in Apotheken erwerben kann?
In Deutschland haben wir derzeit 78.000 HIV-Patienten. Hinzu kommen jährlich etwa 3.000 plusminus zehn Prozent. Jede Neuinfektion ist eine zu viel. Wir möchten daher die derzeitige Dunkelziffer von rund 12.000 Patienten verkleinern, um zu verhindern, dass sich Menschen neu infizieren bzw. dass andere sie unwissentlich infizieren. Ein Weg dazu ist der Selbsttest für zu Hause, der ähnlich wie ein Schwangerschaftstest funktioniert. Bei HIV ist in der medizinischen Versorgung mittlerweile eine Normalisierung eingetreten, die zu einer größeren Angstfreiheit vor der Infektion geführt hat. Insbesondere Risikogruppen wie schwule Männer bzw. MSM (Men who have sex with men) überlegen häufig, ob sie HIV-infiziert sein könnten. Für sie kommt dieser relativ sichere Test aus dem Internet oder der Apotheke in Frage.
Immer mehr Patienten kommen nach einem Selbsttest zu uns, um das Testergebnis zu bestätigen und eine Therapie zu beginnen. Die Tests sollten allerdings ein CE-Siegel haben.
Hatten Sie Patienten, die das Testergebnis psychologisch stark aus der Bahn geworfen hat?
Die Patienten, die hierherkamen, waren überwiegend sehr bewusst lebende Menschen. Sie hatten sich vorher gefragt, wie sie bei einem positiven Ergebnis reagieren würden und mit wem sie außer mit einem Arzt darüber sprechen würden. Wir haben also keine Katastrophenreaktionen gesehen.
Relativ neu sind auch die Präexpositions-(PREP)Tabletten zur Einnahme vor einem sexuellen Kontakt. Sind sie eine gute Alternative zum Safer Sex mit Kondom?
Wir haben keine Impfung und erwarten auch nicht, dass es bald eine geben wird. Die einzigen irgendwie erfolgreichen Impfungen wurden in Thailand vorgenommen – mit einer 30-prozentigen Erfolgschance, die natürlich nicht ausreicht. Daher brauchen wir eine andere medizinische Schutzmöglichkeit. Bisher war der Schutz vor allem verhaltensgesteuert: durch Safer Sex oder Enthaltung, was übrigens gar nicht so selten vorkommt. Es ist viel von Hypersexualität die Rede, aber kaum vom Mangel an Sex.
Wie funktioniert die PREP?
Bei Studien in Afrika und Europa hat sich herausgestellt, dass man, ähnlich wie bei der Malariaprophylaxe, mit einer eigentlich zur Therapie vorgesehenen Tablette einen über
90-prozentigen Schutz vor einer Infektion erreichen kann. MSM sind die Hauptgruppe, denen wir die Medikamente verordnen. Die Generika herstellenden Unternehmen verkaufen sie mittlerweile zu einem erschwinglichen Preis von etwa 60 Euro pro Monat, und die gesetzlichen Kassen übernehmen dem- nächst die Kosten. Das macht auch ökonomisch Sinn, da die Kosten der Behandlung eines HIV-Patienten sehr hoch sein können. 60 Euro monatlich bieten dem gegenüber ein erhebliches Einsparungspotential.
Wie effektiv ist die PREP?
Bei richtiger Anwendung werden Infektionen damit sehr erfolgreich verhindert. Die meisten Menschen nehmen die PREP täglich ein, es ist aber auch eine anlassbezogene Anwendung möglich – zwei Tage vor der Exposition und einige Tage hinterher. Meine Meinung ist: Wir brauchen Harm Reduction, und das bedeutet, dass wir, wenn irgend möglich, eine HIV-Infektion verhindern müssen. Die PREP schützt zwar nur vor HIV, und nicht vor anderen Infektionen. Siphylis und Chlamydien z.B. kann man aber sehr viel einfacher behandeln.
Sind die Tabletten verträglich genug für die tägliche Anwendung? Gibt es Kontraindikationen?
Bevor erneut verschrieben wird, wird alle drei Monate festgestellt, ob sich die Nierenwerte im Blut verändert haben. Wenn das der Fall wäre, müssten wir das mit dem Patienten besprechen. Wer eine PREP möchte, bekommt sie in der Regel auch. Manche Patienten überschätzen ihr Risiko allerdings. Wenn z.B. ein HIV-Infi- zierter erfolgreich behandelt wird – und das ist bei über 90 Prozent der Fall – ist er nicht mehr infektiös, und wir haben es z.B. bei einer Paarbeziehung mit einem Nichtinfizierten nicht mit einer PREP-Situation zu tun. Das wissen erstaunlicherweise auch viele Kollegen nicht. Auch wenn man sie als Arzt operiert und sich dabei schneidet sind diese Patienten nicht infektiös.
Gewährt eine PREP einen hundertprozentigen Schutz?
Bis jetzt haben wir noch keine Patienten gesehen, die sich trotz PREP angesteckt haben. Damit ist aber dennoch zu rechnen, wenn Menschen sie nicht richtig einnehmen. Wenn man also z.B. mehrere Tage Pause gemacht hat und die PREP dann gerade vor dem Wochenende, an dem es darauf ankommt, vergisst, hilft auch keine PREP mehr. Das sind dann aber Compliance- bzw. Einnahmefehler, die anhand der Blutspiegel nachweisbar sind.
Ist die PREP auch etwas für bereits infizierte Menschen?
Nein, für die Behandlung ist sie zu schwach, und es besteht außerdem die Gefahr von Resistenzen. Die heute übliche und vor Resistenzen schützende Therapie ist eine Dreifachtherapie. Man kann sie auch mal ein oder zwei Tage lang vergessen, ohne dass sie ihre Wirkung verliert. Neuerdings kommt man bei vielen Patienten sogar mit einer Zweifachtherapie (Dualen Therapie) aus, die bei einer Behandlung über viele Jahre Leber und Nieren der Patienten schont.
Man könnte Patienten heute auch schon mit einer zweimonatlichen Depot-Spritze schützen. Bis jetzt ist diese Behandlung aber nur im Rahmen von weltweiten Studien möglich, an denen auch wir teilnehmen. Diese Patienten haben zwar oft Schmerzen an der Einstichstelle, wollen aber nie wieder zurück zu den Tabletten, weil sie so nicht täglich an ihre Erkrankung erinnert werden. Wahrscheinlich wird das Medikament in ca. einem Jahr in den Apotheken verfügbar sein.
Was würden Sie Ihren ärztlichen Kolleginnen und Kollegen gerne mitteilen?
Sie sollten bei Menschen mit einer Epstein-Barr-Virus-Infektion oder einem anderen schweren Virus immer an HIV denken und ihre Patienten fragen, ob sie mit einem Test einverstanden sind, vor allem wenn es sich bei ihnen um MSM handeln könnte. In einem bundesweiten Forschungsprojekt haben wir festgestellt, dass viele Patienten wahre Odysseen hinter sich haben. Ich denke dabei etwa an einen bisexuellen Patienten, der an einer atypischen Pneumonie litt. Die Antibiotika schlugen bei ihm nicht an, und er wurde schließlich beatmungspflichtig, ohne dass die Kollegen im Krankenhaus an HIV dachten. Mit einem der ältesten Antibiotika hätte man das verhindern können.
Ist das Thema HIV und Flüchtlinge noch ein aktuell?
Absolut. Migranten und Flüchtlinge sind die zweitgrößte Gruppe in unserer Praxis. In Bayern wird bei Flüchtlingen sehr schnell ein HIV-Test durchgeführt, und das ist auch gut so. So können wir ihnen viel schnel- ler helfen. Unter den Infizierten befinden sich viele Frauen mit Kindern oder Kinderwunsch, daher ist oft das ganze Familiensysteme betroffen. Sie kommen meist aus dem südlichen Afrika, weniger aus dem Maghreb, Syrien oder Afghanistan. Häufig leben sie auf engem Raum in Ankerzentren und werden oft aufgrund ihrer Erkrankung auch unter Landsleuten diskriminiert. Im Rückblick können wir aber in Frau Merkels Worten sagen: Hier haben wir schon viel geschafft.
Gibt es etwas Neues zum Thema Kinderwunsch und Schwangerschaft?
Ja, lange wurden schwangere, HIV-infizierte Frauen im ersten Trimenon nicht behandelt. Auch wenn die Hauptansteckungsgefahr gegen Ende der Schwangerschaft und perinatal droht: Das ist mittlerweile in den Leitlinien geändert worden. Zudem durften HIV-infizierte Mütter lange nicht stillen, und ihr Kind erhielt vier bis sechs Wochen lang nach der Geburt eine Art PREP oder PEP (Postexpositionsprophylaxe). Immer mehr Frauen mit Kinderwunsch möchten aber stillen. Wir denken, dass eine erfolgreich behandelte, HIV-infizierte Mutter das auch kann. So steht es in den Schweizer Leitlinien. In der Muttermilch sind nur etwa zehn Prozent der Medikamentendosis enthalten wie im Blut. Zudem werden die gleichen Medikamente auch in der Pädiatrie bei HIV-infizierten Kindern eingesetzt. Auch bei der Prophylaxe sind wir mittlerweile der Meinung, dass dies bei einer suffizienten Behandlung der Mutter während Schwangerschaft und Geburt nicht mehr in jedem Fall nötig ist. Längst ist zudem bei der Geburt die vaginale, und nicht die Kaiserschnittentbindung, Standard. Es hat sich also viel getan.