Leitartikel

Ukrainische Kinder in München, kein Friede nach dem Krieg

Krieg geht an niemandem spurlos vorüber, besonders nicht an Kindern. Refugio München bietet ukrainischen Kindern Schutz und psychosoziale Betreuung. Die MÄA sprachen darüber mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Guido Terlinden und der ukrainischstämmigen Psychologin Jewgenija Korman.
Ukrainische Kinder in München, Kein Friede nach dem Krieg
Ukrainische Kinder in München, Kein Friede nach dem Krieg

Foto: shutterstock

 

Frau Korman, Herr Terlinden, wie haben Sie als Refugio München auf diesen unfassbaren Krieg in Europa reagiert?

Korman: Ich habe sowohl Verwandte in der Ukraine als auch in Russland. Keiner hat dort damit gerechnet, dass es zu einem Krieg solchen Ausmaßes kommen würde. In der Ostukraine sind seit 2014 bereits an die 10.000 Soldat*innen im Krieg gestorben. Daher war allen klar, dass es Konflikte gibt. Aber die Zivilbevölkerung dachte immer, es ginge konkret um Luhansk, Donezk und die Krim. Genauso überrascht waren wir hier bei Refugio München.

Terlinden: Bereits vor dem Ukraine-Krieg konnten wir bei Refugio München nicht alle Anfragen zur Behandlung von geflüchteten Menschen aus Kriegsgebieten bedienen. Wir wollten aber sofort unterstützen und haben daher ein Kompetenzteam aus allen Fachbereichen unter Leitung von Frau Korman eingerichtet. Wir wissen leider, dass viele Geflüchtete mittel- oder längerfristig Depressionen oder auch eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. Darauf müssen wir uns einstellen. Diese Menschen werden in einem halben Jahr noch nicht gut genug Deutsch sprechen, um zu deutschsprachigen Ärzt*innen oder Psychotherapeut*innen in Behandlung zu gehen. Zudem braucht es Fachkräfte, die sich mit Krieg und Flucht auskennen und das Arbeiten mit Dolmetscher*innen gewohnt sind.

Was bieten Sie als Refugio München derzeit an?

Terlinden: Unmittelbar nach Großschadensereignissen geht es vor allem darum, den Menschen wieder eine Tagesstruktur zu geben, ihnen Sicherheit und Handlungsfähigkeit zu vermitteln. Dazu nutzen wir weniger therapeutische als pädagogische oder sozialpädagogische Interventionen, z.B. unsere Refugio Kunstwerkstatt für Kinder. Von heute auf Morgen haben wir im Hotel REGENT am Hauptbahnhof eine Kinderbetreuung mit kunstpädagogischem Angebot aus dem Boden gestampft. Den Kindern tut es sehr gut, dort malen, spielen und sich ablenken zu können. Unsere Sozialpädagog*innen achten dabei darauf, welche Kinder stärker als „normal“ belastet wirken. Diese vermitteln sie an uns in den therapeutischen Bereich.

Wie viele Kinder betreuen Sie in der Kunstwerkstatt?

Terlinden: Eine genaue Zahl kann ich Ihnen leider gerade nicht nennen, aber wir sind voll. Die Kolleg*innen berichten mir, dass die Eltern ihre Kinder sehr gern dort hinbringen und dass die Kinder oft mehrere Stunden bleiben.

Korman: Die Menschen können nach ihrer Ankunft in der Regel eine Nacht im Hotel REGENT schlafen, bevor sie weiter verteilt werden. Dort gibt es ein Kinderzimmer, indem wir sie mit ukrainisch- und russischsprachigem Personal betreuen. Wir planen gerade, dieses Angebot auch an anderen Orten zu machen, brauchen dafür aber mehr Geld und Personal. Zum Beispiel benötigen wir dringend hauptamtliche, ausgebildete Dolmetscher*innen und Therapeut*innen.

Was erzählen die Kinder und Jugendlichen?

Terlinden: Sie haben viel mehr Ängste als früher, zeigen depressive Symptome, Stimmungsveränderungen und -schwankungen. Viele sind sehr schreckempfindlich und zucken bei lauten Geräuschen zusammen, weil sie Bombenangriffe miterlebt haben. Sie haben Sorgen und Ängste, um ihre Familie vor Ort und sind sehr traurig, weil sie ihre Freunde, ihre Schule, ihr ganzes Lebensumfeld verloren haben. Gleichzeitig machen sie sich Sorgen um die Zukunft. Wir fragen sie allerdings nicht gezielt nach den traumatischen Ereignissen, weil dies schädlich sein kann.

Wie viele Kinder mit welchen Symptomen behandeln Sie aktuell therapeutisch?

Terlinden: Noch haben wir nur einzelne Anmeldungen. Es ist einfach noch zu früh. In dieser Phase sind, wie gesagt, eher sozialpädagogische Maßnahmen und Stabilisierung wichtig. Wir sagen immer: Menschen, die etwas Ungewöhnliches erleben, brauchen gewöhnliche Dinge. Manche Kinder reagieren mit depressiven Verstimmungen, andere fühlen sich gefühlsarm oder legen ein aggressives Verhalten an den Tag. Viele Kinder spielen oder zeichnen zunächst auch Kriegsszenen nach. Das sind normale Symptome, die man nicht unterbinden sollte, weil sie für die Verarbeitung notwendig sind. Wir bleiben aber möglichst in Kontakt, falls die Symptome stärker werden oder nicht weggehen. Einzelne Jugendliche müssen wir aber schon jetzt im Rahmen einer Krisenintervention behandeln. Vor Kurzem hatten wir zum Beispiel ein 17-jähriges Mädchen hier, das wegen ihrer Panikattacken mehrfach mit dem Krankenwagen abgeholt werden musste. Dahinter stecken oft Todesängste, die man unterbrechen kann – durch Psychoedukation, aber auch durch Einübung bestimmter Skills oder Techniken. Dieses Mädchen hatte vorher nie solche Belastungen erlebt. Wir konnten sie durch die Psychoedukation gut erreichen und ihr mit „psychologischer Erster Hilfe“ helfen.

Sind Sie bei Refugio München ausschließlich auf die Betreuung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen fokussiert?

Korman: Derzeit konzentrierten wir uns tatsächlich sehr stark auf die Kinder. Gleichzeitig achten wir aber auch auf die Eltern, weil Kinder ja nicht unabhängig von ihren Bezugspersonen gedacht werden können. Wir haben zwei Videos in ukrainischer Sprache mit deutschen Untertiteln auf unserer Website veröffentlicht – eines speziell für Eltern, ein anderes für alle Erwachsene. Dazu haben wir viele gute Rückmeldungen erhalten. Wir versuchen derzeit auch, betroffene Eltern über unser Beratungstelefon zu informieren und beraten.

Terlinden: Wir bereiten uns darauf vor, künftig stärker als bisher auch Erwachsene zu behandeln und unser Ukraine-Angebot auszuweiten. Wir dürfen nicht vergessen, dass einige Menschen bereits vor dem Krieg psychisch erkrankt waren. Sie dürfen keine Lücken in der Behandlung erfahren, da sie derzeit besonders krisenanfällig sind.

Von welchen Problemen berichten die Erwachsenen?

Terlinden: Viele leiden unter Ängsten, Schlafstörungen etc. In vielen Fällen können wir sie zunächst beruhigen, indem wir ihnen sagen, dass dies in dieser Phase normal ist. Wir wissen, dass die Akutphase nach einem katastrophalen Ereignis in der Regel etwa vier bis sechs Wochen andauert. Vielen genügt die Information, dass ihre Beschwerden wahrscheinlich wieder weg gehen und sich selbst regulieren. Wir raten ihnen dazu, sich eine Tagesstruktur zu schaffen, viel an die frische Luft zu gehen, gut zu essen. Soziale Kontakte, auch in der Muttersprache, sind in dieser Phase sehr wichtig. Nachrichten sind erlaubt, gerade wenn Väter, Brüder, Großväter oder Söhne noch in der Ukraine sind. Am Abend jedoch sollten sie nur dosiert angeschaut werden.

Bieten Sie auch Beratung für ehrenamtliche Helfer*innen?

Terlinden: Wir haben FAQ für Ehrenamtliche auf unserer Website, z.B. zu Symptomen und Ansprechpartner*innen. Auch bei unserem Beratungstelefon rufen viele Menschen an, die helfen möchten. Nicht allen können wir direkt antworten, aber wir versuchen immer, sie weiterzuvermitteln. Wichtig ist, sich beraten zu lassen, z.B. wenn man Geflüchtete aufgenommen hat, es aber nicht so passt.

Korman: Wir planen derzeit auch ein neues Video für Ehrenamtliche, weil viele sich fragen, ob sie alles richtig machen. Gleichzeitig haben wir eine Fortbildungsabteilung bei Refugio München, über die wir immer wieder Seminare zum Umgang mit Geflüchteten anbieten, auch für Fachkräfte.

Was können Münchner Ärzt*innen tun, damit die Menschen gut versorgt werden?

Terlinden: Wichtig ist zu wissen, dass bestimmte Symptome in den ersten paar Wochen normal sind und die Menschen nicht gleich zu Psychotherapeut*innen zu schicken. Man sollte aber wachsam sein und eine Wiedervorstellung in drei Monaten anstreben. Schon kranke Personen sollten großzügig einbestellt werden, damit sie medikamentös eingestellt werden können und nicht alle in den Kliniken landen. Bei allen anderen sollte man mit Medikamenten sehr vorsichtig sein. Verarbeitungsprozesse sind wichtig und sollten nicht unterdrückt werden. Kontraindiziert sind Benzodiazepine, z.B. Tavor. Wenn Menschen stark belastet sind und gar nicht schlafen können, kann mal ein niederpotentes Neuroleptikum helfen, aber das sollten nur Fachärzt*innen verschreiben.

Was könnten die Stadt und der Freistaat tun, um niedergelassene Therapeut*innen zu unterstützen?

Terlinden: Ärzt*innen sollten z.B. über eine spezielle Telefonnummer erfahren, wie sie an Dolmetscher*innen kommen und ob bzw. wie die Dolmetscherkosten übernommen werden. Solche Unklarheiten halten aus meiner Sicht viele Kolleg*innen davon ab, Patient*innen anzunehmen.
 

Korman: Es gibt noch keinen rechtlichen Anspruch auf die Übernahme von Dolmetscherkosten, auch nicht über die Krankenkassen. Das ist ein großes Problem. Nicht alle können ihre eigenen Dolmetscher mitbringen, und das ist oft auch nicht erstrebenswert.

Die Versorgung von traumatisierten Menschen in München ist derzeit nicht ideal. Was könnte man tun, um sie zu verbessern?

Terlinden: Wir haben bereits einige Anfragen von hierher geflüchteten ukrainischen Psychotherapeut*innen, die gerne mitarbeiten würden. Das sind oft sehr gut ausgebildete Leute mit viel Erfahrung bei der Behandlung von Patient*innen mit Kriegserlebnissen. Es wäre wichtig, dass deren Qualifikation möglichst schnell anerkannt wird. Allerdings sprechen leider viele nur Englisch.

Korman: Viele geflüchtete Menschen wünschen sich sehr, aktiv zu werden. Sie möchten nicht nur zu Hause zu sitzen, sondern ihre dringend gebrauchten Kompetenzen
einbringen.
 

Terlinden: Wir arbeiten gern mit Gremien wie ÄKBV, BLÄK und KVB zusammen. Besonders schlecht ist die Versorgung derzeit im teilstationären und stationären Bereich. Die Wartezeiten für eine elektive (teil-) stationäre Behandlung betragen derzeit ein bis eineinhalb Jahre. Zudem werden dafür Deutschkenntnisse mit mindestens B1-Niveau vorausgesetzt. Daran scheitern viele unserer Patient*innen. Dabei würde es sich langfristig sehr lohnen, in diesen Bereich zu investieren, weil die Menschen dadurch besser integrierbar und arbeitsfähig wären.

 

Das Interview führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 8 vom 09.04.2022