Leitartikel

Suizidprävention bei älteren Männern. Darüber reden

Jeder Mensch hat das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das schließt auch die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und sich dabei auch von anderen helfen zu lassen. Das hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 entschieden. Doch ist der Suizid immer der einzige Ausweg? Michael Beckenbauer, ärztlicher Berater bei der ARCHE e.V., erklärte den MÄA, warum Gespräche trotzdem oft nützlich sind – besonders bei Männern.
Suizidprävention bei älteren Männern. Darüber reden
Suizidprävention bei älteren Männern. Darüber reden

Foto: Shutterstock

Herr Beckenbauer, was besagen die aktuellen Zahlen zum Suizid?

Erfreulicherweise hatten sie sich über die letzten 20 Jahre hinweg bis 2021 von circa 20.000 auf etwa 9.000 bis 9.500 reduziert. Im Jahr 2022 allerdings gab es einen großen Anstieg um fast 10 Prozent – von 9.215 in 2021 auf 10.119 in 2022, und um weitere 1,8 Prozent im Jahr 2023 auf 10.304. Eine Erklärung dafür ist, dass die Statistik auch assistierte Suizide erfasst und diese in Deutschland zugenommen haben. Genau lässt sich dies aber nicht sagen, denn für die assistierten Suizide gibt es noch keine eigene Ziffer auf den Todesbescheinigungen. Natürlich könnten auch die Krisen (wie Kriege, Migration, Klima, Inflation) der letzten Jahre dazu beigetragen haben. Aktuelle Zahlen weisen jedoch darauf hin, dass die Suizidrate zu Anfang der Corona-Pandemie eher abgenommen hat – vielleicht, weil die anfängliche Solidarität der Menschen untereinander einen präventiven Charakter hatte. Als diese Einschränkungen länger angehalten haben, war dies aber nicht mehr messbar.

Wie besorgniserregend ist für Sie der Anstieg des assistierten Suizids?

Laut Gesetzgeber darf der Mensch selbst über sein Lebensende bestimmen (wenn er dies „freiverantwortlich“ tun kann), und auch eine Assistenz zum Suizid ist nicht strafbar. Gleichzeitig gibt es Sterbehilfevereine. Es gibt zwar eine Nationale Suizidpräventionsstrategie des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), aber leider noch kein Suizidpräventionsgesetz. Damit die Sterbehilfe nicht zum Geschäft wird, plädieren wir bei der ARCHE zusätzlich für eine gesetzliche Regelung des assistierten Suizids. Denn die Frage ist immer: Wie frei verantwortlich ist diese Entscheidung, gerade bei älteren, schwerkranken Menschen? Vielleicht liegt doch noch ein anderer, behandelbarer Grund für den Wunsch zu sterben vor – zum Beispiel eine Depression im Alter. In der ARCHE hatten wir in den letzten zwölf Monaten häufiger Anmeldungen von Menschen mit schweren Erkrankungen, die zwar selbst entscheiden wollten, wann und wie sie aus dem Leben gehen, aber gleichzeitig nicht vorschnell handeln wollten. Viele davon sind schon bei Sterbehilfevereinen angemeldet. Wir reden ihnen das auch nicht aus, möchten aber einen beratungsoffenen Kontext schaffen: Vielleicht finden sich doch noch eine gewisse Sinhaftigkeit oder Ziele, um weiterzuleben? Interessanterweise hat sich während dieser zwölf Monate von denjenigen, die sich bei uns angemeldet hatten, niemand das Leben genommen. Zum Beispiel hatten und haben wir eine hochaltrige Klientin, die eine Krebserkrankung und auch ein späteres Rezidiv überwunden hat, sich aber lebenssatt fühlte, als sie zu uns kam. Dass sie selbst über ihr Lebensende bestimmen will, hatte sie auch ihren Freundinnen und Freunden mitgeteilt. Trotzdem wollte sie nochmal jemand draufschauen lassen: Gab es bei dieser Entscheidung eventuell Aspekte, die ihr selbst nicht bewusst waren?

Wie gehen Sie in so einem Fall vor?

Zunächst versuchen wir, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen und einen emotionalen Kontakt aufzubauen. Inzwischen war unsere Klientin schon mehrfach hier und hat auch vor, weiterhin zu kommen. Bei ihr liegt keine relevante psychiatrische Störung vor – sie könnte also frei verantwortlich diese Entscheidung treffen. Sie möchte aber noch einige Dinge in ihrer Biographie klären und dazu Gespräche mit Angehörigen führen. Zudem verstehen ihre engen Freundinnen und Freunde ihre Suizidankündigung nicht, weil sie derzeit keine Krankheitssymptome hat. Sie möchte diese gern entlasten, damit die Qualität der Freundschaften weiterhin so bleibt wie bisher. Man darf nicht vergessen: Wenn jemand aus dem Leben scheiden will, muss man als Angehörige*r erst einmal damit fertig werden. Jeder Suizid hinterlässt mindestens sechs bis acht davon betroffene Menschen – bei rund 10.000 Suiziden sind das 60.000 bis 80.000 Menschen. Für sie gibt es bis jetzt zu wenige Anlaufstellen. Daher ist neben der Prävention auch die Arbeit mit Hinterbliebenen eine unserer Aufgaben.

Gibt es Bevölkerungsgruppen, die besonders häufig Suizid verüben?

Die Suizidrate liegt in Deutschland derzeit bei 12,2 pro 100.000 Einwohner*innen. Im Laufe des Lebens nimmt sie stetig ein bisschen zu. Frauen unternehmen zwar deutlich häufiger Suizidversuche, aber bei Männern ist die Zahl der vollzogenen Suizide deutlich höher. Auch das Alter spielt eine Rolle: Im jüngeren Alter kommen auf jeden Suizid im Schnitt 10 bis 15 Suizidversuche. Bei älteren Menschen sind es nur noch zwei. Das Zahlenverhältnis von Männern zu Frauen beträgt bei den vollzogenen Suiziden über einen Großteil der Lebensspanne hinweg etwa drei zu eins. Ab dem Alter von 75 Jahren steigt dies nochmal auf bis zu sechs zu eins bei den über 90-Jährigen. Bei älteren Männern ist der vollzogene Suizid also die Regel.

Warum nehmen sich gerade ältere Männer so häufig das Leben?

Männer tun sich oft viel schwerer damit, wenn alters- oder krankheitsbedingt die Autonomie abnimmt. Sie erleben dies oft als Kränkung und können Verlusterlebnisse schlechter kompensieren. Hinzu kommt der im Alter einsetzende Sinnverlust. Ältere Frauen haben in der Familie und der Gesellschaft oft noch wichtige Funktionen, z.B. als Großmütter, was bei Männern nicht so oft der Fall ist. Und Männer reden oft weniger. Sie holen sich seltener Hilfe. Auch wenn sich die Rollenbilder inzwischen verändern: Die traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit – „Männer zeigen keine Schwächen und lösen ihre Probleme selber“– sind noch vorhanden und bereits bei Jugendlichen fest in den Köpfen verankert. Deshalb ist die männliche Depression auch häufig unterdiagnostiziert. Einige Forschungsansätze zielen daher darauf, schon in Schulen Präventionsmaßnahmen anzubieten.

Wie bringen Sie als Berater die Männer zum Reden?

Viele berichten mir gleich: „Meine Frau hat mich hergeschickt, aber ich bin skeptisch“. Wir versuchen dann im Gespräch trotzdem einen Kontakt aufzubauen. Einige geben danach zu, dass es ihnen doch gutgetan und sie entlastet hat. Andere versprechen, sich wieder zu melden, tun das aber nicht. Bei starken Krisen fragen wir in solchen Fällen telefonisch nach, erhalten aber leider häufig die Antwort: „Reden bringt bei mir nichts“. Ein Klient sagte neulich zu mir: „Sie können aber gern zum Abendessen vorbeikommen, ich koche gerade.“ Das hat den Sozialpsychiater in mir geweckt. In Australien gibt es den Spruch: “Women talk together face to face, men talk shoulder to shoulder”. Männer haben gern ein Thema, über das sie reden. Inzwischen gibt es daher in Australien bereits 2.600 sogenannte „Männerschuppen“ für Männer ab 55 Jahren. Dort gibt es z.B. Werkzeug, und die Männer grillen gemeinsam. Sie können kommen und gehen, wann sie wollen. Die Gesundheit, auch die körperliche, hat sich bei den Teilnehmern an den Männerschuppen deutlich verbessert. Denn wenn dort einer z.B. sagt: „Ich war jetzt doch mal beim Urologen und habe meine Prostata anschauen lassen“, ist das vielleicht ein Modell für die anderen. Außerdem laden sie dort häufig Referent*innen zu bestimmten Gesundheitsthemen ein. Auch in Irland z.B. gibt es inzwischen solche Einrichtungen.

Lässt sich dieses Modell auch auf Deutschland übertragen?

An der Universität Bremen gibt es ein vom BMG gefördertes Modellprojekt mit acht „Männerschuppen“, die über drei Jahre hinweg analysiert werden. Ich selbst habe drei davon besucht. Erst dachte ich, dass die Männer dort nur sägen oder basteln, aber tatsächlich sitzen sie dort auch viel zusammen und reden – Klön- schnacken nennen sie das in Bremen. „Uns ist noch nie langweilig geworden“, sagten sie zu mir. Ich bin gespannt auf die Projektergebnisse, die für Ende März 2025 erwartet werden, und hoffe, dass sie nicht in den Schubladen verschwinden. Auch in Bayern wäre ein solches Projekt denkbar: Man könnte es z.B. in München an die inzwischen 33 gut ausgestatteten Alten- und Servicezentren anbinden.

Was können Sie in der ARCHE tun?

Wir sind ein multiprofessionelles Team, in dem alle Mitarbeitenden eine abgeschlossene Therapieausbildung haben bzw. langjährig geschult und erfahren sind. Hier in der Beratung werden die Männer von uns bestärkt, wenn sie sich öffnen und z.B. auch mal weinen. Viele kommen auch als Hinterbliebene, weil sie jemanden durch Suizid verloren haben. Wir versuchen, das wertzuschätzen und zu fördern, damit sie weiter in ihrem Beratungs- oder Trauerprozess unterstützt werden. Wir haben allerdings keine aufsuchende Krisenberatung. Zur Depression bei Älteren befinden wir uns im Austausch mit dem psychotherapeutischen Ausbildungsinstitut VFKV hier in München, das gerade aufsuchende Psychotherapie bei alten Menschen erprobt und prüft, ob die Kassen bereit sind, das zu finanzieren. Wir sind gut vernetzt mit vielen anderen wichtigen Einrichtungen wie dem Krisendienst Bayern und den Kriseninterventionsteams (KIT). Zusätzlich kann ich die von Universitäten in Berlin (Medical School), Leipzig und Bielefeld ins Leben gerufene Website „Männer stärken“ empfehlen, die z.B. mit kurzen Videos zu bestimmten Symptomen oder Verhaltensweisen speziell Männer anspricht. Empfehlen kann ich auch die Website www.hilfe-fuer- angehoerige.de. Sie hilft Angehörigen, Lehrer*innen, Polizei und natürlich Ärzt*innen dabei, Sensibilität für Menschen in Krisen zu entwickeln, damit sie aktiv werden und im Zweifel suizidgefährdete Menschen ansprechen. Leider besteht hier oft noch gewisse Unsicherheit.

Was können Kolleginnen und Kollegen tun?

Fast alle Studien belegen, dass man keine Scheu haben sollte, einen Verdacht auf Depression oder Suizidgefahr anzusprechen – natürlich mit einer gewissen Empathie: „Ich sehe, Sie sind gerade recht verzweifelt oder grübeln viel. Ich kann mir vorstellen, dass bei so vielen Belastungsfaktoren manchmal auch lebensmüde Gedanken auftauchen. Ist das bei Ihnen der Fall? Wie war es in den letzten Tagen oder in den letzten zwei Wochen?“ Wenn der Mensch merkt, dass man sich wirklich für sie interessiert, ist die Chance größer, dass er sich öffnet und ehrlich antwortet. Ich empfehle auch nachzufragen, wie oft sie solche Gedanken haben und ob es bereits Vorbereitungen für einen Suizid oder Suizidversuche gab. Solche Fragen sind in der Regel eine Entlastung für die Patient*innen. Der Therapeut oder die Ärztin kann dann sehr gerne hier anrufen, uns die Situation schildern und die Patient*innen evtl. selbst kurz ans Telefon holen. Wir sind an Werktagen von 9:00 bis 17:00 Uhr erreichbar – mittags über den Anrufbeantworter. Oft können wir dann zeitnah Termine vermitteln.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 22 vom 19.10.2024