Leitartikel

Sterbehilfe. Selbstbestimmt gehen können

Das Bundesverfassungsgericht hat am 26. Februar 2020 allen Menschen ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben zugesprochen. Über juristische und ethisch-theologische Aspekte sprachen die MÄA mit Pfarrer Dr. phil. Michael Frieß, langjähriger Notfallsanitäter, heute beim Krisendienst Psychiatrie und der Diakonie in München und Oberbayern.
Sterbehilfe. Selbstbestimmt gehen können
Sterbehilfe. Selbstbestimmt gehen können

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Herr Dr. Frieß, „Assistierter Suizid als Kassenleistung – Ärzt*in sein im liberalsten Sterbehilfeland der Welt“ – dieser Titel Ihres Vortrags bei der ÄKBV-Delegiertenversammlung löst doch irgendwie Erstaunen aus.

Tatsächlich sind wir seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 26. Februar 2020 das liberalste Sterbehilfeland der Welt. Selbstbestimmtes Sterben und hierzu bei Dritten Hilfe zu suchen sind demnach Grundrechte. Sie hängen von nichts ab – weder von Krankheit noch vom Alter.

In den Niederlanden zum Beispiel dürfen ausschließlich Ärzt*innen beim Sterben helfen, die Patient*innen müssen subjektiv unerträglich leiden, und mildere Therapiemittel müssen ausgeschöpft sein. In Deutschland muss nur jemand feststellen, dass ich geschäftsfähig bin, dass ich getragen von einem freien Willen eine feste Entscheidung getroffen habe. Diese krasse Freiheit ist in dieser Klarheit einmalig auf der Welt. Natürlich besteht dann noch das Problem: Wie komme ich an die richtigen Medikamente? Deshalb sind auch hierzulande meistens Ärzt*innen involviert. Eine kassenärztliche Abrechnungsziffer wird es in Deutschland wahrscheinlich nicht geben. Dann wären Ärzti*nnen verpflichtet, diese Leistung auch zu erbringen. Eine Pflicht darf es hier jedoch nicht geben. In manchen, noch nicht verabschiedeten, Gesetzesentwürfen stehen allerdings schon konkrete Vergütungsrahmenbedingungen.

Wir sprechen hier vom assistierten Suizid, denn aktive Sterbehilfe bleibt ja weiter verboten.

Richtig. In der Schweiz werden die Medikamente im Rahmen eines assistierten Suizids selbst geschluckt. Ärzt*innen in den Niederlanden finden es sicherer, das Medikament direkt in die Vene zu applizieren – und leisten damit aktive Sterbehilfe. Das ist in Deutschland noch verboten. Allerdings hat der Bundesgerichtshof am 28. Juni 2022 erstmals eine Ehefrau freigesprochen, die ihrem Mann auf seinen Wunsch hin eine tödliche Dosis Insulin gespritzt hat. Der Fall ist zu komplex, um ihn zu verallgemeinern. Und natürlich ist aktive Sterbehilfe nach den Verbrechen des Holocaust für viele eine Horrorvorstellung. Trotzdem müssen wir darüber diskutieren – damit Menschen mit einer Behinderung nicht benachteiligt werden: Stellen Sie sich ein Zimmer vor, in dem zwei Menschen assistiert Suizid begehen möchten. Der eine kann seinen Arm bewegen und schlucken, der andere nicht. Wenn der Sterbehelfer beiden einen Becher mit tödlichen Substanzen auf den Nachttisch stellt, kann nur die eine Person ihr Grundrecht ausüben, die andere kann den Becher nur anschauen. Natürlich ist das ein brachiales Beispiel. Aber wir können Menschen mit Behinderung ja nicht ihr Grundrecht verweigern. Auch ein mit der Nase bedienbarer Perfusor ist juristisch und ethisch keine Lösung.

Gibt es nicht noch andere Ungerechtigkeiten? Assistierter Suizid ist aktuell doch nur etwas für Menschen, die sich eine Sterbehilfeorganisation leisten können.

Nicht ganz. Die beiden bekanntesten Organisationen hierzulande sind die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) und der Verein Sterbehilfe e.V. des ehemaligen Hamburger Justizsenators Roger Kusch. Dort gibt es ein Vereinsmitgliedschaftsmodell. Eine Lebensmitgliedschaft kostet einmalig nur 500 Euro, wenn ich mich rechtzeitig anmelde. Wenn ich akut Hilfe beim Suizid brauche, verlangen beide Gesellschaften ungefähr zwischen 3.000 und 5.000 Euro – eine Zuzahlung für ein Pflegeheim kostet pro Monat schnell mehr als 3.000 Euro. Aber natürlich ist auch das viel Geld. Deshalb ist die jetzige, nicht gesetzlich geregelte Situation auch nicht gut.

Aber vielleicht verüben am Ende manche nur deshalb einen assistierten Suizid, um ihre Angehörigen nicht finanziell zu belasten oder deren Erbe aufzubrauchen?

Das ist das einzige noch funktionierende Argument gegen Sterbehilfe: Entsteht so nicht ein zu großer gesellschaftlicher Druck, sich das Leben zu nehmen, um niemandem zur Last zu fallen oder Kosten zu sparen? In der Praxis können wir das empirisch zumindest nicht feststellen. Keine einzige europäische Studie erhärtet dieses Argument. In mehreren Jahrzehnten hat auch keine Studie gezeigt, dass die Schweiz oder die Niederlande alters- oder behindertenfeindliche Systeme wurden oder dass die Sterbehilfe dort die Gesundheitssysteme besonders entlastet und damit Kosten gespart hätte. Denn wer sie dort in Anspruch nimmt, hat in der Regel sowieso eine sehr niedrige Lebenserwartung.

Hinzu kommt eine dritte, vielleicht provokante Frage: Wie weit geht das Selbstbestimmungsrecht des Menschen? Hat man das Recht zu sagen: „Ich möchte einem anderen nicht zur Last fallen“? Ich glaube schon. Denken Sie an den medial begleiteten Fall eines jüngeren, an ALS erkrankten Mannes aus Bayern, der sich bei rektaler Inkontinenz nicht mehr von seiner Mutter waschen lassen wollte. Er fand, dies sei mit seiner Menschenwürde unvereinbar und hat daher, als seine Krankheit entsprechend fortgeschritten war, in der Schweiz assistierten Suizid verübt. Und was ist mit der Nachkriegsgeneration, die ihr ganzes Leben lang gespart hat, weder mit dem Taxi noch in den Urlaub gefahren ist, damit die Kinder es einmal besser haben? Dürfen wir diesen Menschen ihr Recht auf Selbstbestimmung verweigern, weil sie nicht 3.000 Euro pro Monat für ein Pflegeheim ausgeben möchten?

Müssten Sie als Theologe nicht eher für den Erhalt des Lebens argumentieren?

Ich lebe gern. Und wir in der Diakonie stehen für das Leben. Ich arbeite seit 30 Jahren im Rettungsdienst und setzte mich als Leitung im Krisendienstdienst Psychiatrie dafür ein, Leben zu fördern und zu erhalten.

Es war toll, dass ich mich während meiner Doktorarbeit so intensiv mit dem Thema beschäftigen durfte.
Denn es gibt in der Bibel zwar keine einzige Stelle, die zu Suizid aufruft, aber auch keine, in der er verurteilt wird. Im Alten Testament ist Suizid oft eine Heldentat oder der Ausweg aus hoffnungsloser Situation, etwa wenn der Gesalbte Gottes in die Hände der Feinde fällt. Im Neuen Testament verübt Judas Suizid, nachdem er Jesus verraten hat. Es ist interessant, warum die Kirche über Jahrhunderte von einer derart krassen suizidfeindlichen Stimmung und Theologie dominiert war. Erst die gesellschaftlichen Diskussionen und Kämpfe in den Niederlanden und der Schweiz in den 1980er und 1990er Jahren haben in der Theologie zur Einstellung geführt, dass Suizid nicht immer eine Sünde sein muss, sondern auch im Einklang mit der Beziehung zu Gott geschehen kann.

Kann Beihilfe zum Suizid denn christlich sein?

Die Debatte in der Theologie hängt davon ab, wie man menschliches bzw. irdisches Leid bewertet. Einige „Hardcore-Theolog*innen“ finden, dass Leid trotz aller Grausamkeit eine wertvolle Phase ist, in der der Mensch sich weiterentwickelt und viel Klarheit bekommt. Auch Christus habe schließlich wie ein Mensch gelitten. Früher hat man mit militärischen Begriffen argumentiert: Wer sich von der „Frontlinie“ davonsteh- le, begehe sozusagen Fahnenflucht.

Diese theologische Richtung lehnt den assistierten Suizid ab. Ich bin sicher, dass viele Menschen ihr Leid annehmen können, aber es ist zynisch, das von allen zu verlangen. In den Niederlanden hat die evangelische Volkskirche in den 1980er Jahren konstatiert: „Leid ist nicht etwas, was Gott will.“ In der westlichen liberalen Theologie gehen wir insgesamt nicht davon aus, dass man Leiden immer aushalten muss. Wenn sich jemand entscheidet, sein Leid zu beenden, kann es daher okay und sogar ein Akt der Nächstenliebe sein, ihn oder sie dabei zu unterstützen.

Aus medizinischer Sicht könnte man erwidern, dass es aber heute ja die Palliativmedizin gibt.

Richtig, aber die Palliativmedizin nimmt nicht alle Menschen voll in den Blick, etwa solche mit chronischen psychischen Erkrankungen. Wir tun in der Sozialpsychiatrie alles, um das Leben dieser Erkrankten erträglich zu machen – und trotzdem halten es mache nach Jahren verschiedenster Therapien nicht mehr aus. Bei diesen Menschen oder auch bei anderen mit nicht therapierbaren chronischen Erkrankungen kann die Palliativmedizin nur eine finale Sedierung einleiten. Trotz bester Antiemetika, Schmerzmittel und ganzheitlicher Betreuung lassen sich manche Erkrankungen eben nicht einstellen. Es muss doch auch diesen Menschen möglich sein, ihren Weg und ihren Zeitplan zu verändern.

Und was kann die Palliativmedizin tun, wenn ein Mensch z.B. sagt: „Ich bin jetzt 90, ich habe mein Leben gehabt. Obwohl sich meine Kinder nach dem Tod meiner Frau gut um mich kümmern, ist das Leben nur noch schlimm für mich“? Nach jetzigem Recht muss sich dieser Mensch nicht dafür rechtfertigen, sein Grundrecht auf Sterben nutzen wollen. Wichtig ist vielen aber, ihr Leben gewaltfrei zu beenden – ohne, dass sie sich dazu aus großer Höhe herabstürzen, vor einen Zug werfen oder sich mit Waffengewalt töten müssen.

Aber ist es nicht auch juristisch gesehen so, dass der Staat das Leben schützen muss?

Es geht hier um die Würde des Menschen. Präziser ist an diesem Punkt die englische Sprache. Dort heißt es: „dignity of a person“. Das Wort „Person“ bezeichnet, vereinfacht gesagt, einen geschäftsfähigen Menschen, der die Tragweite seiner Entscheidungen begreift. Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, dass Menschen in bestimmten akuten Phasen nicht geschäftsfähig sind – zum Beispiel bei Manien, Liebeskummer, einer nicht auszuhaltenden wirtschaftlichen, katastrophalen Situation etc. Dann müssen Staat und Gesellschaft ihn z.B. durch Zwangseinweisung vor sich selbst schützen. Wenn ein Mensch aber geschäftsfähig ist, darf er über sein Leben und auch über den Zeitpunkt seines Todes entscheiden.

Das Bundesverfassungsgericht bezieht sich dabei explizit auf Art.1 Abs. 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Daran hängt unsere gesamte Gesellschafts- und Staatskonstruktion.
Gleichzeitig ist es natürlich eine beliebte Diskussion mit Psychiater*innen, ob ein Suizidwunsch nicht per se pathologisch ist, sodass man damit automatisch nicht geschäfts- fähig wäre.

Sollten wir nicht mehr über Suizidprävention diskutieren als über Sterbehilfe?

Das eine schließt das andere nicht aus – im Gegenteil. Die erste große Erfolgsgeschichte der Debatte um den assistierten Suizid in Europa war, dass dadurch die Themen Palliativversorgung und Suizidprävention viele Schritte vorankamen – auch in Deutschland. In den Gesellschaften, in denen diese Debatte ernsthaft geführt wird, werden auch die Betreuungs- und Präventionsmöglichkeiten verbessert. Aus meiner Sicht gehört es zu einer umfassen- den Pflege und palliativen Betreuung bzw. Schmerzlinderung dazu, dass man denjenigen Hilfe anbietet, die trotzdem sterben möchten. Ich kann mir natürlich vorstellen, dass manche Ärzt*innen dies als Versagen des eigenen Berufsstands oder des Gesundheitssystems empfinden. Ich sehe das nicht so. Aus meiner Sicht kann jemand sozial aufgehoben und medizinisch bestmöglich versorgt sein und trotzdem den Wunsch haben, zu sterben. Diesen Wunsch würde ich gerne respektieren.

Der Staat ist aber doch laut verschiedenen Gerichtsurteilen nicht dazu verpflichtet, Menschen bei der Umsetzung ihres Sterbewunsches zu helfen, z.B. durch Bereitstellung von Natrium-Pentobarbital.

Bei diesen Gerichtsverhandlungen hatten Bürger*innen einen rezeptfreien Zugang zu tödlichen Medikamenten gefordert. Ich finde es richtig, dass deutsche Gerichte darauf bestehen, vorher die Zurechnungsfähigkeit dieser Menschen zu klären. In der Schweiz z.B. stellt die Ärztin das Rezept aus, und erst danach geht der Sterbehelfer zur Apotheke und bringt der Person das Medikament. Ich finde es auch richtig, dass es keine „Vorratshaltung“ geben darf. Denn zum einen ist es gefährlich, wenn tödliche Pillen in Häusern einfach so herumliegen. Zum anderen kann dann niemand im konkreten Moment mehr prüfen, ob ich wirklich urteilsfähig bin.

Verstehen Sie, dass viele Ärztinnen und Ärzte es nicht als ihre Aufgabe ansehen, Menschen beim Suizid zu helfen?

Ja, und ich finde niemand soll dazu gezwungen werden. Und ich fände es völlig richtig, wenn dies – ähnlich wie beim Schwangerschaftskonflikt – keine ärztliche Leistung wäre, zu der Ärzt*innen verpflichtet sind. Die Menschen aber, die das anders sehen und zufällig Ärztinnen und Ärzte sind, sollen diese Möglichkeit bekommen. Denn einige Elemente des hippokratischen Eids lassen sich auch auf den assistierten Suizid übertragen. Man hilft dabei, Leid zu lindern. Ehrlicherweise muss man ja sagen: Schon jetzt tun Ärzt*innen Dinge, die in direktem Zusammenhang mit dem Eintritt des Tods stehen – etwa wenn sie eine künstliche Ernährung abstellen oder eine Beatmungsform beenden. Und gerade Palliativmediziner*innen wissen sehr genau um die atemdepressive Wirkung von potenten Schmerzmitteln. In einer Studie aus den Nullerjahren wurden außerdem Hausärzt*innen und Onkolog*innen anonymisiert befragt, ob sie schon einmal aktive Sterbehilfe geleistet hatten. Die Ant- worten wurden auf die Bundesrepublik hochgerechnet und zeigten, dass es wohl jährlich rund 3.000 Fälle von aktiver Sterbehilfe in unserem Land gibt. Assistierter Suizid ist meiner Meinung nach also eine geleugnete Realität.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 1 vom 23.12.2024