Leitartikel

Sport- und Bewegungstherapie bei Tumorerkrankungen, Aktiv gegen Krebs

Sport und Bewegung können Krebspatient*innen dabei helfen, die Nebenwirkungen einer Therapie besser zu verkraften und Lebensqualität zu gewinnen. Die MÄA sprachen mit Dr. Anika Berling-Ernst von der Arbeitsgruppe „Körperliche Aktivität in der Onkologie“ am Tumorzentrum (TZM) und dem Comprehensive Cancer Center München, (CCCM).
Sport- und Bewegungstherapie bei Tumorerkrankungen, Aktiv gegen Krebs
Sport- und Bewegungstherapie bei Tumorerkrankungen, Aktiv gegen Krebs

Foto: shutterstock

 

Wie ist es Ihren Patient*innen in den letzten Jahren ergangen?

Während der Pandemie mussten wir den Rehabilitationssport teilweise hybrid stattfinden lassen. Das war natürlich eine Umstellung für alle – die Trainer*innen und die Teilnehmenden – aber wir haben es ganz gut geschafft. Aktuell sieht es danach aus, dass der Sport in den Hallen weiter in Präsenz stattfinden kann. Wir hoffen, dass es noch ein wenig so bleibt.

Wie wirkt sich Bewegung in der Krebstherapie aus?

Zahlreiche Studien belegen, dass eine angepasste Sport- und Bewegungstherapie während und nach der Tumortherapie einen sehr positiven Einfluss auf die Lebensqualität hat. Auch wir führen aktuell gemeinsam mit der Frauenklinik und der LMU an mehreren Standorten Studien zum Thema Sport und Krebs durch – etwa die LIBRE-Studie zum genetisch bedingten Brust- und Eierstockkrebs bei den BRCA-1 oder -2 Mutationsträgerinnen. Zusammen mit der LMU organisieren wir außerdem das INTEGRATION-Programm, ein sechsmonatiges Ernährungs- und Bewegungsprogramm für Tumorpatient*innen nach der Erstdiagnose. Wir haben noch weitere Projekte in der Pipeline, die hoffentlich Anfang 2023 starten können.

Bei welchen Nebenwirkungen der Therapie kann Bewegung helfen?

Für die Fatigue-Problematik liegt beispielsweise eine starke Evidenz vor. Durch individuell angepasste Sport- und Bewegungstherapie können wir diese und andere Nebenwirkungen lindern - sogar, wenn eine Fatigue bereits eingesetzt hat. Es ist in jeder Phase der Therapie ratsam, körperliche Aktivität als supportive Therapiemaßnahme einzusetzen – auch während der medizinischen Therapie. Natürlich müssen dabei auch Kontraindikationen beachtet werden. Z. B. sollten die Patient*innen nach Gabe einer kardiotoxischen Chemotherapie 24 bis 48 Stunden lang kein hochintensives Training absolvieren. Es gibt aber viele gute Studien dazu, dass auch die Chemotherapie durch eine begleitend stattfindende Bewegungstherapie besser vertragen wird.

Wie passen Sie das Bewegungsprogramm an?

Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: die Tumordiagnose, die Art der Therapie, das Alter, die Konstitution sowie Komorbiditäten und sportliche Vorerfahrungen. Grundsätzlich ist es wichtig, eine Form von Kraft-/Ausdauertraining oder eine sportliche Aktivität zu finden, die der Patientin oder dem Patienten liegt. Denn es geht ja darum, am Ball zu bleiben und während der Aktivität Spaß und Freude zu haben. Dabei sollte man unbedingt die Intensität der Aktivität im Auge behalten. Dazu bieten wir in der Ambulanz der Sportmedizin eine Sprechstunde mit Leistungsdiagnostik an, bei der wir den aktuellen Leistungszustand erfassen und daran angepasst die Trainingsintensität steuern.

Krebssportgruppen und Rehasport gibt es ja schon eine ganze Weile. Warum braucht es Ihre Arbeitsgruppe „Körperliche Aktivität in der Onkologie“?

Nach der Gründung der ersten Sportgruppe in Köln vor etwa 40 Jahren wurde das Thema tatsächlich immer bekannter. Aber die Versorgungswege und -strukturen sind leider nach wie vor unzureichend. Zum einen werden die Informationen über Möglichkeiten der Bewegungstherapie oft nicht weitergegeben. Ich erlebe immer wieder, dass Patient*innen nach einer Tumorerkrankung, z.B. nach einer Reha, lange suchen, bis sie den Weg zu uns finden. Daher möchten wir die Strukturen im Großraum München bündeln und dort alle Akteur*innen vereinen. Zum anderen gibt es auch zu wenig Angebote. In der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin der TUM gibt es bereits ein Bewegungsangebot ab der Diagnose bis in die Nachsorge, sowohl im stationären als auch im ambulanten Setting. Junge Tumorpatient*innen ab 18 Jahren möchten aber oft nicht in eine klassische Reha-Sportgruppe. Ihnen können wir leider bis jetzt noch wenig anbieten, wenn sie nicht mehr durch die Pädiatrie betreut werden. Ich hoffe, dass wir diese Lücke in der Altersgruppe von 19 bis 40 in den nächsten Jahren schließen können.

Wie sind Sport und Aktivität bei Krebspatient*innen in Pandemiezeiten möglich?

Natürlich muss man bei immunsupprimierten Patient*innen ärztlich abklären, inwiefern ein Training in einer Gruppe oder an größeren Trainingsstätten möglich ist. Wir betreuen unsere Patient*innen aber auch immer häufiger digital, etwa mithilfe verschiedener Apps. Anhand der Leistungsdiagnostik erstellen wir zudem einen individuellen Trainingsplan den wir auch telemedizinisch betreuen können. So kann jede*r für sich zu Hause trainieren – insbesondere, wenn jetzt im Herbst und Winter die Infektionszahlen vielleicht wieder steigen.

Wie sollten Krebspatient*innen trainieren?

In den Reha-Sportgruppen machen wir Gymnastik gegen Funktionseinschränkungen, Sturzprophylaxe, Gleichgewichts- und Koordinationsübungen, weil man diese vor Ort in der Eins-zu-Eins-Betreuung besser überwachen und korrigieren kann. Für ein Ausdauertraining zu Hause geben wir bestimmte Parameter oder Anweisungen vor, etwa die BORG-Skala oder „Laufen ohne zu Schnaufen“. Regenerationszeiten sind bei Krebspatient*innen meistens länger. Im Zweifel verfahren wir daher nach dem Motto „Start slow, go slow“: Wir steigen niedrigschwellig ein und erhöhen Umfang und Intensität erst sukzessive.

Welche Ausdauersportart ist die beste?

Es gibt keine „Krebssportart", sondern wir können und müssen verschiedene Bewegungsformen anpassen und modifizieren. Die Sportart sollte sich vor allem an den Interessen der Patient*innen orientieren. Spazierengehen ist eine hervorragende Bewegungsform und trainiert den ganzen Körper. Nordic Walking mag nicht jede*r, ist aber als Ganzkörpertraining sehr zu empfehlen, um mehrere Muskelgruppen anzusprechen. Einer meiner Teilnehmer wollte nach seiner Prostatakarzinom-OP aber gerne weiter radeln, obwohl das bei Prostatakarzinom umstritten ist. Ich wusste: Es bringt nichts, ihm Stöcke in die Hand zu drücken. Vielleicht würde er damit ein- oder zweimal mir zuliebe durch den Englischen Garten walken, aber dann würde er wieder damit aufhören. Daher haben wir ihm zunächst einen breiteren Sattel mit Aussparung empfohlen, um das empfindliche Gewebe zu schonen und langsam zu starten. Als Sportwissenschaftlerin geht es mir vor allem darum, Freude an der Bewegung zu vermitteln oder zu erhalten. Lieber passen wir das Sportgerät etwas an, damit er oder sie dabeibleibt.

Es ist aber nicht jede*r Patient*in von sich aus sport-affin. Viele können sich ja schon im gesunden Zustand nicht dazu aufraffen. Haben Sie Tipps?

Den inneren Schweinehund kennt jede*r. Helfen können häufig Angebote innerhalb der Gemeinschaft, z.B. der Frauenlauf hier in München oder das „Rudern gegen Krebs“ in vielen Städten. Auch zum Klettern oder zu Wanderungen, z.B. auf dem Jakobsweg, gibt es begleitete Gruppenangebote im geschützten Raum mit anderen Betroffenen. Jede*r muss für sich herausfinden: Was passt zu mir? Was traue ich mir zu? Durch die Erkrankung und Therapie sind viele sehr verunsichert, was sie ihrem Körper zumuten können. Daher rate ich unbedingt dazu, sich sportmedizinisch durchchecken und beraten zu lassen, um sich dann beispielsweise in der Gruppe langsam an Sport und Bewegung heranzutasten.

Was können Ärzt*innen tun?

Senden Sie die Botschaft: Bleiben Sie aktiv! Ärzt*innen müssen nicht ins Detail gehen, sollten Bewegung aber befürworten. Es reicht oft, wenn man sagt: „Sie können etwas für sich tun. Bleiben Sie ab jetzt so aktiv wie möglich und behalten Sie Ihre bisherigen Alltagsaktivitäten möglichst bei“. Studien haben nämlich gezeigt, dass Menschen nach der ersten Diagnose ihre körperlichen Aktivitäten herunterschrauben. Wichtig wäre aber, dass sie so fit wie möglich in die Therapie starten. Wenn Patient*innen schon vor Therapiebeginn erste Kontakte zur Sport- und Bewegungstherapie geknüpft haben, sich vielleicht schon eine Gruppe oder ein Physiotherapiezentrum angesehen haben, sind die Hürden später nicht mehr so hoch, wenn es ihnen vielleicht nicht mehr so gut geht.

In der Arbeitsgruppe gibt es noch weitere Angebote, etwa zur Ernährung, vielleicht auch zur Psychoonkologie?

Es ist geplant, dass wir uns auch mit anderen Arbeitsgruppen wie der Psychoonkologie vernetzen. Ernährung und Bewegung greifen sehr eng ineinander, gerade wenn es um den Aufbau von Muskelmasse oder die Verhinderung von Gewichtsverlust geht. Die LMU bietet Workshops zum Empowerment, zu Komplementärmedizin, Ernährung und Bewegung an – auch zur Psychoonkologie. In der Frauenklinik gibt es auch Gesprächsabende, an denen verschiedene Schwerpunkte aufgegriffen werden.

Welche Patient*innen profitieren von Ihrem sportmedizinischen Angebot?

Grundsätzlich kann sich jede*r in jeder Therapiephase bei uns individuell beraten und eine Leistungsdiagnostik durchführen lassen. Ich als Sportwissenschaftlerin bin davon überzeugt, dass eine individuelle Sport- und Bewegungstherapie unabhängig vom Grad oder Verlauf der Erkrankung möglich ist – vielleicht auch zunächst nur mit leichten Entspannungs- oder Mobilisationsübungen. Die Angebote stehen allen offen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 21 vom 08.10.2022