Leitartikel

Selbstbestimmungsgesetz. Das bin ich nicht!

Seit dem 1. November 2024 gilt bundesweit das Selbstbestimmungsgesetz. Trans*, inter* und nichtbinäre Personen (s. Kasten zur Begriffsklärung) können seither ihren Vornamen und Geschlechtseintrag beim Standesamt ändern lassen. Die MÄA sprachen darüber mit Patricia Schüttler, Assistentin beim Transgenderzentrum der Dr. Lubos Kliniken und 1. Vorsitzende der Selbsthilfeorganisation Trans-Ident e.V.
Selbstbestimmungsgesetz. Das bin ich nicht!
Selbstbestimmungsgesetz. Das bin ich nicht!

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Warum war das Selbstbestimmungsgesetz ein wichtiger Schritt?

Nach dem früher, für über 40 Jahre geltenden, „Transsexuellengesetz“ mussten bei Transpersonen zwei voneinander unabhängige Psychotherapeut*innen in bis zu mehrere tausend Euro teuren Gutachten bestätigen, dass man sich wenigstens drei Jahre im anderen Geschlecht fühlt und sich dieses Zugehörigkeitsempfinden sehr wahrscheinlich nicht wieder ändern wird. Dazu musste man noch beim Amtsgericht ein Verfahren zur Personenstandsänderung und ggf. Prozesskostenhilfe beantragen – denn all dies musste man selbst bezahlen. Und am Ende musste man dann noch beim Richter vorstellig werden. Dass sich alles für diesen einen bürokratischen Akt so in die Läge zog, war für viele Menschen sehr bedrückend. Bis 2011 musste man sich sogar einer unfruchtbar machenden Operation unterziehen. Inzwischen braucht es nur noch einen Sprechakt und eine Verwaltungsgebühr von 30 bis 40 Euro. Das macht es wesentlich einfacher und belastet vor allen Dingen nicht die Gerichte. Inter*-Menschen konnten ihre Namen früher auch über den §45b des Personenstandsgesetzes ändern lassen. Für nonbinäre Menschen galt früher ebenfalls das Transsexuellengesetz. Nach der Begutachtungsanleitung des medizinischen Dienstes hatten und haben sie aber kein Anrecht auf medizinische Schritte.

Aber ist es nicht sinnvoll, die eigene Entscheidung mit therapeutischer Hilfe gut zu prüfen?

Man muss hier zwischen der rechtlichen Transition, also der Änderung des Namens und des Personenstands (gemäß Selbstbestimmungsgesetz) und der medizinischen Transition, z.B. durch Operationen, unterscheiden. Damit die Krankenkasse die Kosten für eine Operation übernimmt, ist nach wie vor eine psychotherapeutische Minimalbehandlung von zwölf Sitzungen à 50 Minuten vorgeschrieben. Ich kenne sehr viele Transmenschen, die noch lange nach den Gutachten und den OPs weiter zu ihren Therapeut*innen gegangen sind. Doch einige in der von mir geleiteten Selbsthilfegruppe empfanden die Fragen mancher Psychotherapeut*innen oder Richter*innen als sehr übergriffig. Weil ich im medizinischen Bereich arbeite, weiß ich, dass man manche Fragen zur Differentialdiagnostik stellen muss, z.B. um herauszufinden, ob „nur“ ein Fetisch vorliegt oder jemand tatsächlich trans* ist. Wenn du trans* bist, verstehst du aber nicht, warum du gefragt wirst, ob es dich erregt, dich in der Kleidung des anderen Geschlechts zu sehen. Gleichzeitig ist es sicher nicht gewinnbringend, gefragt zu werden, wie oft man am Tag masturbiert. Das haben viele Menschen zu Recht als demütigend empfunden.

Grundsätzlich finde ich es sehr schade, dass sich Psychotherapeut*innen in ihren Gutachten auf den leider immer noch zu verwendenden ICD-10 beziehen müssen, wo „Transsexualismus“ (ICD-10 64.0) – ein Wort, das wir übrigens eher kritisch sehen – immer noch als psychische Krankheit angesehen wird.

Zudem ist der ICD-10 ausschließlich binär gedacht. Es geht darin immer nur um die Transition von Mann zu Frau oder von Frau zu Mann nonbinäre Menschen finden sich darin nicht wieder.

Für viele Menschen ist es schwierig, all dies zu durchschauen. Das kann ich verstehen, denn wir sind eine Minderheit, und viele Menschen wissen zu wenig über uns. Zu den binären Transmenschen z.B. zählt sich ungefähr ein halbes Prozent der Bevölkerung. In Schulen oder Büchern kommen wir als Personengruppe aber so gut wie nie vor. Stattdessen werden Transmenschen im Rahmen des weltweit zunehmenden Rechtspopulismus oft schlecht gemacht. Auf einer US-amerikanischen Homepage zu allen Gesetzesentwürfen gegen trans* waren in 2024 über 669 Einträge gelistet. In 2015 waren es noch 21. Leider kommen die Entwicklungen aus den USA ein bisschen verspätet oft auch bei uns an. Es wurde sehr viel gegen trans* und das Selbstbestimmungsgesetz geredet, und das finde ich sehr, sehr schade.

Was waren die Kritikpunkte?

Ein häufiges Argument war z.B., dass man Schutzräume für Frauen sichern müsse. Aber welche Person, die wirklich trans* ist, würde andere Menschen in Schutzräumen angreifen? Ich zum Beispiel bin schon seit neun Jahren genital angeglichen und habe einen Brustaufbau. Trotzdem gehe ich bis heute nicht nackt in irgendeine öffentliche Dusche – aus Angst, mich bloßzustellen. So geht es vielen Transmenschen. Ich würde gerne mal eine Umfrage starten, wie viele Frauen bis jetzt Probleme mit übergriffig gewordenen Transfrauen hatten. Wir diskutieren hier also eher über Personen mit dem „Geburtsgeschlecht Mann“, die sich auch männlich fühlen (sog. „cis“-Männer). Und wer von denen würde extra den eigenen Eintrag im Personenstandsregister ändern, sich bei Ämtern und allen anderen erklären, warum sich z. B. die Versichertenkarte oder die Sozialversicherungsnummer geändert hat, nur um sich Zutritt zu Frauen-Schutzräumen zu verschaffen?

Im November 2024 haben zwischen 6.000 und 15.000 Menschen ihren Geschlechtseintrag ändern lassen. Die Behörden hatten mit ca. 4.000 gerechnet. Ist die Zahl der Transpersonen also gestiegen?

Nein, das war eine logische Entwicklung. Viele Menschen haben auf das Gesetz gewartet. Jetzt müssen wir diesen „Stau“ sozusagen abarbeiten. Vielleicht liegen die Zahlen am Ende etwas höher als zu Zeiten des Transsexuellengesetzes, weil die Personenstandsänderung nun auch für nichtbinäre Menschen einfacher geworden ist, die keine geschlechts- angleichenden Operationen anstreben. Es wächst aber nicht die Zahl der Transmenschen, sondern nur die Zahl derer, die sich dem Transspektrum zugehörig fühlen. In der queeren Community gibt es immer wieder Menschen, die sagen: Brauchen wir das binäre Modell Mann-Frau überhaupt?

Gibt es aus Ihrer Sicht auch Nachteile durch das Selbstbestimmungsgesetz?

Ich schließe nicht aus, dass für manche Menschen der geänderte Eintrag am Ende doch nicht richtig ist. Nach dem Selbstbestimmungsgesetz muss man den Wunsch des Personenstandswechsels und des Namens aber zunächst ankündigen und dann nach drei Monaten, spätestens nach sechs Monaten zum Amt, um das zu bestätigen. Erst dann wird die Änderung gültig. Zudem gibt es eine einjährige Sperrfrist nach der Erklärung. Erst nach deren Ablauf kann man den Eintrag erneut ändern. Ich halte diese Wartezeiten für richtig. Trotzdem sage ich immer: Seid vorsichtig, welchen Eintrag ihr wählt. Wir werden noch lange binär denken. Vielleicht lasse ich heute mit 15 Jahren meinen Geschlechtseintrag in „nichtbinär“ (X) ändern. Dann bekomme ich aber vielleicht Probleme bei der Einreise in ein darauf nicht eingestelltes Land. Dennoch haben alle das Recht, sich selbst zu entscheiden. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Suizidrate im queeren Spektrum um das vier- bis siebenfache erhöht ist. Bei Transmenschen liegt diese Rate noch deutlich höher. Auch ich habe lange gewartet, bis ich mit meiner Transition begonnen habe, bin aber einfach sehr oft an den Punkt gekommen, dass ich nicht mehr leben wollte.

Wenn man den Namen und Personenstand jetzt einfacher ändern kann, sind dann künftig vielleicht viele geschlechtsangleichende Operationen obsolet?

Tatsächlich war es für mich der wichtigste Moment in meiner Transition, als ich meinen geänderten Ausweis in den Händen hielt. Das war ein großes Glücksgefühl und die Operationen waren für mich danach erst einmal nicht mehr so wichtig. Doch gerade viele junge binäre Transmenschen finden es wichtig, dass das Bild im Spiegel mit der eigenen Seele übereinstimmt. Bei binären Transmenschen wird daher vermutlich weiterhin in vielen Fällen eine Operation folgen.

Wie stehen Sie zu den noch immer notwendigen Gutachten vor der Operation?

Ich denke, sie haben schon ihren Sinn, denn es geht ja auch darum, mit den Transmenschen zu klären, ob und wie sie sich in die Gesellschaft eingliedern können. Eine zwei Meter große Transfrau mit breiten Schultern wird immer in irgendeiner Weise auffallen, egal welche Operationen sie machen lässt. Es gibt viele Fragen: Wie mache ich es in der Familie? Wie oute ich mich am Arbeitsplatz? Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass Psychotherapie wirklich gut ist und zumindest übergangsweise eine Stabilität für die Menschen herstellt, die teilweise sehr lange auf ihre Operationen warten müssen. Allerdings sind auch die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sehr lang, da sich nur relativ wenige Therapeut*innen mit dem Thema Trans* auskennen.

Der Deutsche Ärztetag hat im Jahr 2024 gefordert, den Einsatz von Pubertätsblockern bei Kindern bzw. Jugendlichen nur noch im Rahmen von Studien zu erlauben. Wie stehen Sie dazu?

Die meisten Transmenschen merken schon früh, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Laut Aussage vieler Kinder- und Jugendtherapeut*innen kennen Kinder ihr Geschlecht bereits mit zwei, drei oder vier Jahren. Und wenn es das falsche ist, leiden sie stark unter den Veränderungen der Pubertät. Ein Stimmbruch, der veränderte Knochenbau etc. lassen sich ja nicht so einfach wieder rückgängig machen. Genauso fatal ist es meistens, wenn eine Person, die sich männlich fühlt, auf einmal die Periode bekommt. Denn die Veränderung bestätigt gerade das Geschlecht, das man nicht empfindet – und das tut extrem weh.

Das alles muss nicht sein, wenn man es verhindern kann. Eine Pubertätsblockade bricht den „normalen“ Verlauf ja nur vorläufig für anderthalb oder zwei Jahre ab, und sie sollte ja auch nur im Tanner 2-Stadium begonnen werden. Das verschafft Zeit.
Denn natürlich ist ein Kind zu Beginn der Pubertät noch nicht so gefestigt wie zwei Jahre später. Dadurch sinkt der psychische Druck. Das Wichtigste ist doch, dass wir den Kindern psychische Stabilität geben, damit sie nicht in Depressionen abrutschen.

Was wünschen Sie sich von Kolleg*innen aus den Gesundheitsberufen für den Umgang mit trans*, inter* und nonbinären Menschen?

Aus meiner Sicht muss das Thema unbedingt in die Ausbildungen an den Universitäten und Schulen, denn bis jetzt kommt es dort nicht vor. Zudem wünsche ich mir ein Bewusstsein in den Praxen, auch beim Personal. Man kann seine Offenheit für das Thema etwa durch eine kleine Regenbogenfahne auf der Homepage oder in den Praxen zeigen. Und man kann Menschen, die sich mit der Thematik auskennen, in die Praxen einladen oder sich vielleicht auch mal ein Zentrum anschauen, in dem operiert wird. In München gibt es z.B. einen Qualitätszirkel von Behandelnden, die schon lange mit Transmenschen umgehen. Mit ihnen kann man sich austauschen. Meiner Erfahrung nach haben viele Menschen keinen Kontakt zum Thema Trans* und stellen sich daher darunter irgendwelche ausgeflippten Menschen oder Paradiesvögel vor.

Was sollte man bei der Behandlung konkret beachten?

Es ist wichtig, eine Sensibilität für das Gegenüber zu entwickeln. Vor einer körperlichen Untersuchung, besonders im Genitalbereich, sollte ich genau sagen, warum ich sie mache. Zudem sollte ich die Behandlungssuchenden danach fragen, wie ich sie ansprechen soll, inklusive Pronomen, und dies sollte sichtbar für das Personal auf der Karte oder im PC stehen. Es ist gut, wenn schon im Aufnahmebogen mehr Geschlechter möglich sind als nur zwei, und ich hoffe, dass sich auch die Praxissoftware bald entsprechend ändert. Den früheren Namen („Deadname“) sollte man möglichst nicht verwenden und auch möglichst nicht über die Zeit vor der Transition reden, denn eine Erinnerung daran tut in der Regel nur weh. Auch ansonsten braucht es etwas Fingerspitzengefühl: Ich habe selbst erlebt, wie eine Person in einer Praxis zu einer anderen sagte: „Hier ist ein besonderer Fall, diese Person ist trans*“. Wie andere Menschen auch wollen wir aber nicht auf ein Merkmal reduziert werden, genauso wie das z.B. bei der Hautfarbe der Fall ist.

Auch bei der Dokumentation und Abrechnung ist Vorsicht geboten: Ich habe einmal eine Impfung gegen FSME bekommen. Auf der Privatliquidation stand dann als Diagnose „Transsexualismus“, was damit ja nichts zu tun hat.

Gleichzeitig ist es schwierig, wenn eine Person in der Nachbarschaft noch nicht geoutet ist, aber von der Arztpraxis ein Brief mit dem neuen Vornamen kommt. Der Brief kommt dann entweder nicht an, oder man hat ein Zwangsouting verursacht.

Man sollte daher aufpassen, nicht unbeabsichtigt gegen das im Selbstbestimmungsgesetz festgeschriebene Offenbarungsverbot zu verstoßen, nach dem als Schutz gegen ein Zwangsouting frühere Geschlechtseinträge oder Vornamen ohne Zustimmung der betreffenden Person nicht offenbart oder ausgeforscht werden dürfen. Zu all diesen Themen braucht es daher unbedingt eine Schulung.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 02/2025 vom 18.01.2025