Leitartikel

Psychosoziale Unterstützung für Fachkräfte, mit offenem Ohr durch die Pandemie

Nicht erst seit Covid-19 geraten Angehörige von Gesundheitsberufen durch schwerwiegende Ereignisse oder Überlastung an und über ihre Grenzen. Wie sie damit umgehen und den geliebten Beruf weiter ausüben können, zeigt ihnen der Verein PSU Akut e.V. Im Gespräch mit den MÄA erzählte dessen Gründer, Dr. Andreas Schießl, wie kollegiale psychosoziale Unterstützung (PSU)
Psychosoziale Unterstützung für Fachkräfte, mit offenem Ohr durch die Pandemie
Psychosoziale Unterstützung, mit offenem Ohr durch die Pandemie

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Herr Dr. Schießl, was hat sich bei PSU Akut e.V. in den letzten beiden Coronajahren getan?

Wir haben eine gute Kooperation mit der Landeshauptstadt München aufgebaut. Zum einen haben wir im Juli 2021 den ersten, mit 10.000 Euro dotierten, Gesundheits- und Pflegepreis der Stadt München erhalten. Zum anderen fördert die Landeshauptstadt 2022 unsere Interventionen und supervisorischen Begleitungen in Kliniken und Praxen: Wir bieten dazu an, an den Arbeitsplatz zu kommen und vor Ort Gespräche mit Mitarbeiter*innen zu führen – zur Vorsorge, Schulung und Krisenintervention als psychosoziale Unterstützung (PSU) durch Peers, also Kolleg*innen im Gesundheitswesen. Auch Niedergelassene oder Medizinische Versorgungszentren können dies bei uns anfordern.

Sie betonen die Praxen. Wie sieht es in den Kliniken aus?

Lange Zeit gab es Supervision vor allem in den Bereichen Schmerztherapie und Palliativmedizin. Auf den in der Pandemie stark belasteten Covid-Normalstationen und Intensivstationen z.B. war psychosoziale Unterstützung zunächst nicht als Ressource etabliert. In den letzten beiden Jahren haben einige Kliniken unsere supervisorische Begleitung gerne angenommen. Natürlich ist es in der Krise schwierig, neue Strukturen aufzubauen und dabei auf etwas zurückzugreifen, was man nicht kennt. Gerade dann ist man so darauf fokussiert, zu funktionieren, dass man alles Neue zunächst mit Vorsicht betrachtet. Doch wir sehen, dass kollegiale psychosoziale Unterstützung und supervisorische Begleitung bisher gefehlt haben – und dass es funktioniert. Bis jetzt haben etwa 15 Stationen an zehn Münchner Kliniken unser Angebot angenommen. Die langfristige Einführung des Peer-Systems in unterschiedlicher Ausführung ist ebenso an zehn Kliniken geplant.

Was passiert bei der supervisorischen Begleitung?

Wir bieten keine reine Supervision, sondern eine Mischung aus Supervision, Intervention, Psychoedukation und Perspektivenentwicklung – nicht nur mit dem Ziel, den oder die Einzelne*n zu stärken, sondern auch mit dem Wunsch, systemverändernd zu wirken. Wir generieren also etwas Neues. Optimalerweise führen wir die supervisorische Unterstützung zu zweit durch: Mit dabei ist dann jeweils ein Peer, also jemand aus einem medizinischen Beruf, und ein Supervisor. Allerdings stoßen auch wir derzeit manchmal mit unserem Personal an unsere Grenzen, sodass wir dies nicht immer garantieren können.

Welche weiteren Neuerungen gab es in Coronazeiten?

Seit Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 gibt es unsere telefonische Helpline für Angehörige medizinischer Berufe: Von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends können Angehörige medizinischer Berufe bei uns anrufen und erhalten kollegiale Unterstützung am Telefon. Wenn unser Peer oder unsere psychosoziale Fachkraft am Telefon merkt, dass der oder die Anrufer*in mehr Gespräche oder Hilfe benötigt, können wir oft am gleichen Tag eine Sprechstunde bei erfahrenen Psychotherapeut*innen vermitteln, die sich dafür jeweils eine Stunde pro Tag freihalten. In dieser Stunde beginnt keine Therapie, aber falls dies nötig ist können die ersten fünf kostenfreien Gespräche die Zeit bis zu einer Therapie überbrücken.

Haben Sie einen Überblick darüber, wie vielen Kolleg*innen Sie dadurch helfen konnten?

Unsere Evaluation ist noch nicht wissenschaftlich ausgewertet. Wir schätzen aber, dass derzeit ungefähr zwei Menschen pro Tag bei uns anrufen. Das klingt zunächst nicht nach sehr viel. In letzter Zeit melden sich aber auch zunehmend Führungskräfte, denen wir nicht nur persönlich helfen können, sondern denen wir auch Veranstaltungen vor Ort anbieten. Dazu besprechen wir mit ihnen zunächst, was sie in ihrer Klinik oder Praxis konkret brauchen. Unabhängig von Covid-19 gibt es ja nach wie vor auch andere schwerwiegende Ereignisse, bei denen wir begleiten können.

Melden sich derzeit eher Pflegekräfte oder eher Ärzt*innen?

Bei schwerwiegenden Ereignissen melden sich eher die ärztlichen Kolleg*innen. Bei coronabedingten Fällen ist es von Welle zu Welle unterschiedlich. Aktuell kommen mehr Pflegekräfte und Führungskräfte der Pflege auf uns zu. Wir arbeiten mittlerweile auch sehr gut mit der Vereinigung der Pflegenden in Bayern (VdPB) zusammen. PSU-Akut ist inzwischen nicht mehr nur ein Verein, sondern eine ganze Bewegung. Immer wieder werden wir zu Kongressen und Vorträgen eingeladen, z.B. auf den DIVI-Kongress, den interdisziplinären Online-Kongress der Intensivmediziner*innen. Außer mit der VdPB und dem ÄKBV arbeiten wir derzeit z.B. auch mit dem Aktionsbündnis Patientensicherheit, der Bayerischen Landesärztekammer, der KVB oder dem Marburger Bund zusammen. Gemeinsam mit diesen Organisationen haben wir im Herbst 2021 einen schriftlichen Appell an den bayerischen Gesundheitsminister Holetschek gerichtet, das medizinische Personal stärker zu unterstützen. Es geht darum, nachhaltig etwas zu verändern – nicht nur am Geld, sondern auch an den Umständen der Arbeit.

Was meinen Sie damit konkret?

Aus unserer Sicht geht es für viele Angehörige von Gesundheitsberufen um Wertschätzung – natürlich auch über das Geld, aber eben auch über psychosoziale Unterstützung, wenn schlimme Dinge passieren. Wenn Menschen in der Krise spüren, dass sie an einem guten Arbeitsplatz, in einem guten Team „aufgefangen“ werden, möchten sie dort weiterarbeiten. Wer hingegen allein gelassen oder sogar an den Pranger gestellt wird, reduziert sein Engagement schnell. Es geht darum, Menschen auf die Risiken unserer Berufe, auf akute wie chronische Stresssituationen, gut vorzubereiten. Unsere niederschwellige Versorgung vor Ort ist übrigens auch eine gute Möglichkeit für Führungskräfte und Arbeitgeber, den Arbeitsplatz attraktiver zu machen.

Sprechen Sie öfter mit Menschen, die ihren Beruf verlassen möchten?

Das erleben wir immer wieder – sowohl nach schwerwiegenden Ereignissen als auch bei chronischer Dauerbelastung. Zu spüren, dass man damit nicht alleine ist und neue Ideen bekommt, hilft aus dem Fatalismus heraus. Wir werben dafür, berufliche Entscheidungen nicht in einer Defizit-Lage zu treffen – auch wenn der Wunsch, die Flinte ins Korn zu werfen, oft völlig verständlich ist. Stattdessen gilt es, potentielle Traumatisierung und übermäßigen Stress zubauen. In diesem Zusammenhang müssen wir zunächst zwar oft akzeptieren, dass manche ihre Arbeitszeit reduzieren. Indem wir mit ihnen im Gespräch bleiben, haben wir als Gesellschaft aber die Chance, etwas am System zu verändern. Und das führt dann vielleicht dazu, dass diese Menschen schließlich wieder mehr in ihrem Beruf arbeiten möchten. Auch nach der Pandemie muss dies eine wichtige Anstrengung bleiben. Wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung, unseren Helfenden zu helfen, die jetzt in vorderster Linie für uns alle bis zur Erschöpfung arbeiten, diese Belastung positiv aufarbeiten zu können, damit sie nicht doppelt geschädigt aus der Pandemie gehen.

Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Die meisten funktionieren derzeit nur. Aber nach der Pandemie wird es Zeiten geben, in denen sie das Erlebte aufarbeiten müssen. Wenn man wieder etwas stärker ist, hilft es, das Erlebte wieder ruhiger anzuschauen, zu beweinen, zu bewüten etc., um es schließlich zu verarbeiten und ggf. ein posttraumatisches Wachstum einzuleiten. Dies kann z.B. unser jährliches Resilienzseminar, dieses Jahr vom 19. bis 22. Mai im Kloster Bernried, ermöglichen. „Und wie geht’s Dir, Doc“?: Dieser Titel des Seminars ist auch nach der Pandemie immer noch eine gute Frage.

Gibt es weitere Neuerungen seit der Pandemie?

Besonders interessant für unsere Delegierten, aber auch für alle anderen Ärzt*innen Münchens, ist unser Beschluss beim 124. Deutschen Ärztetag 2021 (Online). Der Ärztetag bekennt sich darin zur psychosozialen Unterstützung als Aufgabe der ärztlichen Selbstverwaltung. Gleichzeitig ruft er alle ärztlichen Vertreter*innen bei Sozialversicherungsträgern, Krankenkassen etc. dazu auf, sich für eine bessere Fokussierung auf die „psychische Gesunderhaltung der Ärztinnen und Ärzte sowie für die Ausarbeitung konkreter Unterstützungsangebote unter Mitwirkung der Ärzteschaft einzusetzen“. Wir überlassen diese Aufgabe nicht nur den anderen, sondern möchten dies als Ärzteschaft mitgestalten. Auch beim GBA setzen wir uns aktuell dafür ein, die Einführung von Peer-Support in Kliniken in einem Modellprojekt zu fördern.

Welche Botschaft haben Sie als Gründer von PSU-Akut e.V. an die Münchner Ärzteschaft?

Der mutige Einsatz der ÄKBV-Delegierten und der Münchner Ärztinnen und Ärzte schon bei der Gründung von PSU Akut e.V. im Jahr 2013 trägt Früchte: Ohne sie wären wir nie so weit gekommen. Wir freuen uns sehr darüber, dass die Gelder zu unserer Unterstützung auf Beschluss der Delegiertenversammlung 2021 nochmal verdoppelt wurden. Durch die aktive Unterstützung des ÄKBV lassen sich auch andere Geldgeber überzeugen. Es ist aber weiterhin nötig, konsequent dranzubleiben und unseren Peer-to-Peer-Ansatz weiter zu verfolgen. Wenn wir möchten, dass die Hilfsangebote für Beschäftigte im Gesundheitsbereich fundiert ärztlich geprägt sind, müssen wir weiter das Heft in der Hand behalten.

Wie blicken Sie in die Zukunft?

Derzeit reden alle davon, etwas verändern zu wollen. Aber was passiert nach der Pandemie? Wir müssen hartnäckig dranbleiben, die Aufarbeitung von kleineren und größeren Katastrophen zu enttabuisieren und psychosoziale Unterstützung stattdessen zum Standard und zum klinischen Alltag zu machen. Diese Veränderungen brauchen Freiräume in unserer Arbeitssituation und Zeit zum kollegialen Austausch.

 

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 4 vom 12.02.2022