Psychiatrische Versorgung von Gefangenen, Menschenrecht Gesundheit - auch in Haft
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Herr Prof. Brieger, gibt es Zahlen, wie viele Strafgefangene in Bayern psychisch krank sind?
Man weiß grundsätzlich, dass in Haft zwischen 60 und ein bisschen über 70 Prozent der Straf- und Untersuchungsgefangenen eine psychische Störung aufweisen. Das heißt nicht, dass alle behandlungsbedürftig sind. Mit knapp über 40 Prozent sind Suchterkrankungen im Gefängnis die häufigste psychische Störung. Es gibt viele Alkoholabhängigkeiten, aber auch viele Opiatabhängigkeiten. Parallel dazu gibt es auch deutlich erhöhte Zahlen bei affektiven Störungen, insbesondere bei Depressionen und bipolaren Störungen, und auch die Zahl der Psychosen ist um das Vier- bis Fünffache erhöht. Meistens entstehen die Erkrankungen nicht primär durch die Haft. Natürlich ist Haft belastend und nichts, was euphorisiert oder die Stimmung verbessert. Aber der Mensch hat ein erstaunliches Maß an Anpassungsfähigkeit. Nach sechs Wochen oder zwei Monaten ist die Adaptation in der Regel ganz gut. Vielmehr haben viele Menschen, die in die Kriminalität kommen, zugleich auch eine psychische Störung. Eine Suchterkrankung beispielsweise ist immer auch ein Risiko für Kriminalität.
Wie werden psychisch kranke Gefangene momentan versorgt?
Derzeit wird in der JVA München-Stadelheim die größte Krankenabteilung des bayerischen Justizvollzugs errichtet mit über 80 stationären Plätzen für die Versorgung kranker Gefangener. Mit Dr. Rita Netzler gibt es dort eine sehr engagierte Anstaltsärztin, die etwas bewegen will. Wir haben bereits aktuell ein Kooperationskonzept mit Stadelheim. Eine unserer Ärztinnen arbeitet bereits in Teilzeit in der JVA. Zudem haben wir eine Psychotherapeutin, die ebenfalls dort regelmäßig tätig ist. Ein zweiter Psychiater arbeitet auch in der JVA, obwohl er bereits in der Rente ist. Für uns ist es wichtig, eine Brückenfunktion zu übernehmen, weil wir dadurch eine kontinuierlichere Betreuung anbieten können. Die JVA kann bei uns anrufen und unsere Ressourcen nutzen.
Meine Idee ist es, langfristig so etwas wie eine stationsäquivalente Behandlung (StäB) auch in der JVA zu etablieren. Aktuell ermöglicht die StäB ja bereits in der Münchner Allgemeinbevölkerung eine aufsuchende akutpsychiatrische Behandlung zu Hause statt in der Klinik (s. MÄA 08/2019). Durch ein vergleichbares Modell könnten wir künftig noch mehr Strafgefangene in der JVA halten, statt sie bei Problemen zu uns zu verlegen. Denn eine Verlegung ist immer ein großer Aufwand für alle. Zudem könnten wir so früh behandlungsbedürftige Menschen entdecken, mit ihrer Therapie beginnen bzw. sie längerfristig behandeln und ihre Behandlung mitgestalten, statt nur konsiliarisch hinzugezogen zu werden. Wünschenswert wäre dann auch die Weiterbehandlung nach der Haftentlassung, wenn diese indiziert ist. Das verbessert die Gesundheit der Betroffenen und wirkt auch kriminalpräventiv.
Was für Probleme gibt es derzeit bei der psychiatrischen Versorgung in München und in Bayern?
In Stadelheim werden derzeit etwa 1.500 Gefangene ärztlich versorgt. Alle erhalten eine Eingangsuntersuchung durch Anstaltsärztin oder Anstaltsarzt, aber nicht alle Probleme können da entdeckt werden. Denn natürlich sind die Ressourcen dort derzeit nicht so, wie sie sein sollten. Es gibt dort wie in vielen bayerischen JVAs im ärztlichen Bereich offene Stellen – gerade im Bereich Psychiatrie und in der Suchtmedizin. Die neu geplante Krankenstation in Stadelheim wird ein echter Gewinn, sie wird aber kein Krankenhaus im eigentlichen Sinn sein, weil nachts keine Ärzt*innen vor Ort sind. Wenn es nachts ein Problem gibt, muss der Notarzt reinfahren.
In Straubing existiert bereits ein Haftkrankenhaus. Doch es dauert oft Monate, bis wir dort unsere Patient*innen untergebracht haben – wenn überhaupt. Dabei sollte das Haftkrankenhaus kranke Strafgefangene akut versorgen können. Das liegt ganz sicher auch an Personalengpässen dort im ärztlichen Bereich. Es gibt einfach zu wenig Ärztinnen und Ärzte in diesem Bereich und auch zu wenig Bewusstsein dafür. Der Strafvollzug und auch die Strafgefangenen selbst haben keine Lobby. Niemand geht für sie auf die Straße und demonstriert für sie. Dabei ist eine gute Krankenversorgung ein Menschenrecht, das auch Straf- und Untersuchungsgefangenen zusteht.
Aber notfalls gibt es ja die kbo-Kliniken.
Ja. Der Auslöser unseres Konzepts war jedoch, dass im Jahr 2016 jeden Tag durchschnittlich zweieinhalb Strafgefangene aus Stadelheim im kbo-Isar-Amper-Klinikum behandelt werden mussten, was für die JVA und uns sehr aufwändig war. Die Strafgefangenen müssen ganz überwiegend auch bei uns Hand- oder Fußfesseln tragen und haben oft noch zwei Bewacher aus dem Justizvollzug. Stellen Sie sich vor, Sie sind Patientin bei uns oder haben einen Angehörigen hier, der womöglich sowieso schon unter einem Verfolgungswahn leidet – das ist nicht gut für die Atmosphäre. Gleichzeitig gibt es auch in der JVA einen Personalmangel. Trotzdem muss die JVA drei Schichten mit jeweils zwei Bewachern für einen Patienten bei uns abdecken. Wir haben das damals mit der JVA besprochen und unsere Zusammenarbeit hat schon etwas bewirkt: Aktuell ist die Zahl der Verlegungen massiv gesunken – von über 2,5 auf unter 0,5 pro Tag. Inzwischen können wir viel mehr Menschen vor Ort versorgen, ohne dass die JVA oder die Gefangenen beklagen, die Versorgung sei dadurch schlechter geworden.
Auch bei der nicht straffällig gewordenen Bevölkerung ist die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung derzeit aber nicht so einfach.
Richtig. Aber es gibt in den Justizvollzugsgesetzen das Äquivalenzprinzip, nach dem Gefangene einen gleichwertigen Anspruch auf medizinische Versorgung haben wie gesetzlich Krankenversicherte außerhalb des Justizvollzugs. Strafgefangene verlieren ihre Krankenversicherung. Daher läuft ihre Versorgung komplett über die Justiz. Aus meiner Sicht ist das eine Herausforderung für die Justiz. Es darf nicht sein, dass man nur deshalb, weil man straffällig geworden ist, eine schlechtere medizinische Versorgung erhält. Es geht uns vor allem darum, eine gute Basisversorgung zu garantieren. Viele Menschen in Haft sind schwer krank. Dort gibt es beispielsweise zehnmal mehr Suizide als in der Allgemeinbevölkerung und oft eine höhere Vulnerabilität für psychische Störungen aufgrund vieler Risikofaktoren. Gleichzeitig wissen wir, dass eine gute Behandlung einer psychischen Störung während der Haft und auch nach Haftentlassung einen kriminalpräventiven Effekt hat.
Kann man das nachweisen?
Ja, dazu gibt es gute Studien. Mit dem Maßregelvollzug haben wir – auch in den kbo-Kliniken – ein Modell, das besser funktioniert. Dort werden die Patient*innen nach Entlassung immer über spezielle Ambulanzen weiter betreut. Aus dem Maßregelvollzug entlassene Menschen haben dementsprechend deutlich geringere Rückfallraten als solche, die aus dem Strafvollzug entlassen werden. Aus Langzeituntersuchungen weiß man zudem, dass Menschen nach einer gelungenen medizinischen und psychosozialen Betreuung in der JVA und insbesondere beim Übergangsmanagement eine viel geringere Gefährlichkeit aufweisen und dass es ihnen auch objektiv besser geht. Wenn jemand schlecht versorgt wird und deshalb nach der Entlassung gleich wieder in die Suchtmittelabhängigkeit rutscht oder sich die psychische Krankheit verschlechtert, ist es viel wahrscheinlicher, dass er oder sie kurze Zeit nach der Haftentlassung wieder ein Delikt begeht oder sich selbst bzw. andere gefährdet.
Gibt es innerhalb Deutschlands Konzepte, von denen man sich „eine Scheibe abschneiden“ könnte?
Ja, die gibt es. Bei unserem Symposium „Versorgung psychisch beeinträchtigter Menschen während und nach der Haft“ am 23. April im Münchner Justizpalast hatten wir Professor Dr. Norbert Konrad als Referenten zu Gast. Er war bis vor wenigen Wochen Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Berliner Justizvollzugskrankenhauses und ist Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité. Die Psychiatrische Abteilung der JVA Moabit in Berlin hat 36 stationäre Plätze sowie die Möglichkeit, tagesklinisch und ambulant zu behandeln. Dieses Haftkrankenhaus hat im Vergleich für 3 Millionen Berliner*innen in etwa so viele Haftkrankenhausplätze für Psychiatrie wie es in ganz Bayern gibt. Hier sehe ich ein Defizit in der bayerischen Versorgung. Immerhin wird auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2016 mittlerweile in der Mehrzahl der bayerischen JVAs bei Drogenabhängigkeit in der Haft substituiert. Stadelheim ist da ein Vorreiter, aber andere Haftanstalten in Bayern substituieren nicht, weil sie dafür keine qualifizierten Ärzt*innen haben.
Was waren die Punkte an Konrads Vortrag, die Sie am meisten beeindruckt haben?
Zunächst das positive Menschenbild. Wenn Sie normalerweise in eine JVA gehen, sind die Gefangenen dort überwiegend in ihren Zellen eingeschlossen. In Berlin machen sie auf der psychiatrischen Station der JVA so gut wie keinen Einschluss, sodass dort auch wirklich die Atmosphäre eines Krankenhauses herrscht. Viele Therapien laufen in der JVA nebenher, um die Menschen dort zu beschäftigen, also z.B. Arbeitstherapie oder Ergotherapie. Der Grundtenor dort ist, dass psychiatrische Behandlung in der Haft mehr sein muss als nur Medikamente zu geben. Auch dort braucht es eine multiprofessionelle, multidisziplinäre Behandlung. Der Berliner Kollege versorgt die Betroffenen auch nach Haftentlassung weiter, über eine Nachsorgeambulanz und eine Tagesklinik.
Was könnte das Land Bayern tun, um die Versorgung zu verbessern? Und was könnten Ärztinnen und Ärzte tun?
Wir würden gern mehr Ärztinnen und Ärzte dafür gewinnen, in diesem Bereich tätig zu werden. Unsere Kolleg*innen arbeiten dort gern. Es ist ein interessanter Arbeitsplatz, und man kann dort viel Gutes bewirken. Die Leitung und die Mitarbeiter*innen der JVA Stadelheim haben wir als kompetent und engagiert kennen gelernt und arbeiten deswegen sehr gerne mit ihnen zusammen. Innerhalb der gesellschaftlichen Diskussion müssen wir dieses Thema stärker aufgreifen.
Jemand muss die Lobbyarbeit für diese Menschen und diesen Bereich übernehmen – eine gute gesundheitliche (und psychiatrische) Versorgung in der Haft ist ein Menschenrecht. Wir brauchen neue Versorgungsmodelle und gemeinschaftliche Konzepte. Die medizinische Versorgung der Gefangenen liegt im Bereich des Justizministeriums – aber eine gute Abstimmung mit dem Gesundheits- und Sozialministerium wäre da sicher auch hilfreich.
Stephanie Hügler
MÄA 13/2024 vom 15.06.2024