Leitartikel

Psychiatrische Transitionsstation, Stufen ins Erwachsensein

Für 16- bis 25-Jährige mit psychischen Erkrankungen gibt es am LMU Klinikum seit März eine Transitionsstation mit stationärer und teilstationärer Versorgung. Die Gründe dafür erläuterten der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne und der Erwachsenenpsychiater Prof. Dr. Peter Falkai im Interview mit den MÄA.
Psychiatrische Transitionsstation, Stufen ins Erwachsensein
Psychiatrische Transitionsstation, Stufen ins Erwachsensein

Foto: shutterstock

 

Herr Prof. Schulte-Körne, wie waren Ihre Erfahrungen als Kinder-und Jugendpsychiater in den Pandemiejahren?

Schulte-Körne: Empirischen Studien zufolge und auch meiner Erfahrung nach hat die Belastung mit depressiven und Angstsymptomen bei jungen Menschen deutlich zugenommen – auch über die klassischen Risikogruppen hinaus. Zu den Risikogruppen zählen Kinder von Eltern, die selbst psychisch krank, alleinerziehend, sozial schwach oder in prekären Lebenssituationen sind. Viele Familien kamen auch wegen Essstörungen zu uns. In der Pandemie hat sich, unabhängig von Schicht oder Bildungsgrad, eine starke Belastung aufgebaut. Die Anfrage nach stationärer, teilstationärer und ambulanter Behandlung ist stark gestiegen und steigt noch immer. Denn die kindliche Psyche reagiert oft verzögert auf Belastungen. Jetzt kommt noch der Ukraine-Krieg hinzu. Wir merken, dass viele Kinder und Jugendliche in ihrem Sozialverhalten immer mehr eingeschränkt und ängstlicher sind, weniger Kontakt suchen und sich mehr auf ihre derzeit ebenfalls stark belasteten Familien fixieren.

Falkai: Für den Erwachsenenbereich gibt es mittlerweile ebenfalls weltweit sehr gute Erhebungen. Bei den Suchterkrankungen schwankt es – es gibt auch Leute, die z.B. weniger trinken als vorher. Affektive Erkrankungen aber, z.B. Angsterkrankungen und Depressionen, haben in einem Maß zugenommen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Auch Menschen mit psychotischen Erkrankungen leiden häufig sehr stark unter dem chronischen Stress durch die Pandemie. Es ist dieses Nicht-Entkommen-Können. Schon morgens beim Busfahren mit der Maske wird uns die Pandemie bewusst. Sie ist nie ganz weg. Der Ukrainekrieg und die hohe Inflationsrate belasten ebenfalls die Familien. Das alles wirkt sich auf die Gesundheit aus, besonders auf die seelische Gesundheit.

Wir haben gute Kliniken für Kinder und Jugendliche und ebenso gute für Erwachsene. Warum brauchte es nun auch noch eine Transitionsstation?

Schulte-Körne: Junge Menschen, die hinsichtlich ihres Alters und ihrer Entwicklung zwischen der Jugend und Erwachsenenpsychiatrie liegen, wurden bisher kaum versorgt. Dabei verlangt diese Gruppe eigentlich eine besondere Aufmerksamkeit. Nicht dass sich die Erwachsenenpsychiatrie nicht zuständig fühlen würde. Aber es fehlt an notwendigen Versorgungsstrukturen. Außerdem braucht es spezielle Behandlungskonzepte, die wir gemeinsam entwickeln werden. Eine verzögerte Reifung – psychosozial, aber auch hirnphysiologisch – wirkt sich auf das Handeln der Jugendlichen aus. Es gibt dann mehr Konflikte, z.B. in Partnerschaften und bei der Berufsfindung. Viele haben längere Zeit keine Schule mehr besucht, keinen Schulabschluss erreicht und ziehen sich so stark zurück, dass sie nicht mehr in die Gesellschaft zurückfinden. Diese jungen Menschen brauchen nicht nur eine spezielle Psychotherapie, sondern auch eine besondere psychosoziale Behandlung. Gerade beim Übergang zur Volljährigkeit mit der damit verbundenen Verantwortungsübernahme.

Falkai: Hinzu kommt: 75 Prozent der Patient*innen, die im Alter zwischen 16 und 24 Frühzeichen einer psychischen Erkrankung zeigen, entwickeln später das Vollbild. Es ist eine besonders vulnerable Zeit. Wenn die Menschen bei ihrer Erkrankung zehn Jahre älter sind, ist vieles stabiler:

die Berufsausbildung ist in der Regel abgeschlossen, viele haben eine*n Partner*in, meistens gibt es ein soziales Netz. Ganz anders ist es, wenn Jugendliche mit 17 oder 18 in eine Krise rutschen. Ihre Umgebung ist damit oft völlig überfordert, auch die Eltern. Müssen diese jungen Menschen mit 18 Jahren plötzlich in die Erwachsenenpsychiatrie, sind sie dort oft nur von 45-Jährigen umgeben. Dieser „Kulturschock“ kann sogar dazu führen, dass junge Menschen eine stationäre Behandlung komplett ablehnen. Auf unserer Station möchten wir das Beste aus beiden Welten zusammenführen und darüber hinaus selbst viel lernen. Unsere jungen Teams sind klinisch und wissenschaftlich neugierig. Es ist ein wunderbares Projekt.

Welche Erkrankungen treten in der Adoleszenz besonders häufig auf?

Schulte-Körne: Psychosen beginnen oft in dieser Entwicklungsphase, affektive Störungen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Persönlichkeitsstörungen werden jetzt häufiger bei Jugendlichen diagnostiziert und sind meist schwer zu behandeln. Die größte Herausforderung für die Behandlungsteams aber ist der Umgang mit Suizidalität. In der Pandemie hatten wir viel mehr Zuweisungen von Jugendlichen nach einem Suizidversuch als sonst. Auch jetzt im Sommer sehen wir eine extreme Zunahme von suizidalen Handlungen und Gedanken. Einen besonderen Bedarf haben wir bei der Weiterbehandlung von Patient*innen mit Essstörungen, weil diese oft chronisch verlaufen und es in dieser Entwicklungsphase oft keine weitere Versorgung gibt.

Falkai: Ich komme aus dem Bereich der psychotischen Erkrankungen: aus der schweren Depression, der beginnenden Schizophrenie oder bipolaren Störung. Die Initiativen dazu waren bisher zu kurz gegriffen. Dabei beginnen viele Persönlichkeitsstörungen im jungen Erwachsenenalter. Essstörungen sehe ich als großes Problem, das wir in der Erwachsenenpsychiatrie zu lange zu wenig berücksichtigt haben. Wenn junge Menschen stark abnehmen und das als normale pubertäre Reaktion gewertet wird, kommen sie oft zehn Jahre später mit einer Bulimie zu uns. Diesen Menschen möchten wir schon früher eine Hilfestellung geben.

Hängt die Gründung der Transitionsstation mit der Pandemie zusammen?

Falkai: Nein, wir hatten sie schon früher geplant, aber u.a. durch die Pandemie hat sich alles verzögert. Wir haben die Zeit genutzt, um einige Dinge besser zu klären. So mussten wir erst vor der Gründung einige Fragen klären: Wo siedeln wir die neue Station an? Wie verteilen wir die Betten und das Pflegepersonal? Auch die Finanzen mussten wir festzurren. Das Klinikum hat hier tief in die Taschen gegriffen – sowohl für den Umbau als auch für die Ausstattung.

Schulte-Körne: Unsere Anträge wurden sowohl von dem Krankenhausplanungsausschuss als auch von den Kassen positiv aufgenommen wurden. Es gab sowohl auf der Genehmigungs- als auch auf der Finanzierungsebene eine sehr große Offenheit. Man hat verstanden, dass es hier einen sehr großen Handlungsbedarf gibt.

Welche Therapien bieten Sie an?

Schulte-Körne: Der Schwerpunkt liegt auch bei uns auf einer Kombination aus Psychotherapie, psychosozialer Unterstützung und Psychopharmakotherapie. In Kooperation mit der Carl-August-Heckscher-Schule ermöglichen wir darüber hinaus ein Beschulungsangebot oder eine Unterstützung bei einer Berufsausbildungsmaßnahme – im Rahmen unserer sozialpädagogischen Betreuung. Unsere jungen Menschen sind häufig so krank, dass sie zu einer Berufsausbildungs- oder -fördermaßnahme alleine gar nicht hingehen würden. Auch Fragen der finanziellen Absicherung, des Wohnorts werden besprochen. In dieser Lebensphase verlassen die meisten jungen Menschen ihre Familien. Einige sind damit komplett überfordert. Der kreativtherapeutische Bereich mit Musik-, Kunst- und Ergotherapie ist ebenfalls wichtig. Viele unserer Patient*innen können ihre Konflikte besser im Rahmen einer solchen Therapieform ausdrücken.

Falkai: Psychosozial bedeutet zunächst, eine Brücke ins Leben zurückzubauen – egal wie. Selbst wenn diese Brücke nicht sofort begangen werden kann.

Die Transitionsstation ist noch nicht lange geöffnet. Wie lange bleiben die Menschen bei Ihnen, und welche Erfolge können Sie verbuchen?

Schulte-Körne: Die durchschnittliche Liegezeit für junge Erwachsene im KJP-Bereich ist im Vergleich zu den Stationen bei uns im Haus kürzer. Erste Erfolge zeichnen sich ab. Viele Jugendliche profitieren sehr vom „Erwachsenen-Milieu“. Wenn sie nur unter sich sind, können sie oft bestimmte Entwicklungsschritte nicht machen, weil alle noch im gleichen Entwicklungsstadium verhaftet sind. Andere junge Menschen mit 22, 23 und 24 Jahren zu sehen, die gewisse Probleme schon gelöst haben, ist ein Vorbild und eine Herausforderung. Wir können das therapeutisch nutzen. Besonders Patient*innen mit Sozialverhaltens- oder Persönlichkeitsstörungen profitieren davon.

Falkai: In Bezug auf die Erwachsenen gibt es bei den Liegezeiten keinen großen Unterschied. Sie beträgt etwa 30 Tage. Ich bin froh, dass wir die Transitionsstation TS1 haben. Bei der Diagnostik haben wir eine neue Qualität und verstehen viel besser, welchen Anteil eine Persönlichkeitsstörung und z.B. eine oft parallel auftretende Depression haben. Für viele unserer Patient*innen auf der TS ist es die erste große Krise in ihrem Leben. Wir haben allerdings insgesamt nur 16 Betten und behandeln dort derzeit die ganze Bandbreite der Erkrankungen. Auf längere Sicht werden wir wohl noch eine zweite Station brauchen. Wir möchten gerne eine Sanierung des Bettenhauses erreichen. Dort könnten wir evtl. noch eine zweite Station unterbringen.

Schulte-Körne: Die Nußbaumstraße ist ein Zentrum für psychosoziale Gesundheit in der Innenstadt geworden, und die Bevölkerung nimmt es an. Man erkennt langsam auch in der Politik, dass dies eine Investition in die Zukunft ist: Psychische Erkrankungen nehmen kontinuierlich zu und sind gesellschaftlich relevant. Die Schaffung neuer Versorgungsstrukturen für den Transitionbereich ist dabei eine gute Investition, denn es ist ein Konzept zur Prävention. So kann man der Chronifizierung von psychischen Erkrankungen vorbeugen. Mittelfristig sollte daraus ein Zentrum mit Tagesklinik und Ambulanz werden.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Falkai: Wenn psychisch Kranke die komplett gleichen Rechte wie somatisch Kranke hätten, wäre das mehr wert als jedes Geld. In den letzten Jahren ist die Situation etwas besser geworden, aber es ist noch sehr viel Wachstum möglich. In anderen Ländern gilt psychische Gesundheit als eine gleichberechtigte Säule der Versorgung neben Onkologie, Kardiologie und anderen somatischen Fächern. Es wäre toll, wenn das Land Bayern dies auch so sehen würde. Natürlich freuen wir uns am Ende auch über mehr Geld.

Was können Schulen tun, damit weniger junge Menschen psychisch erkranken?

Schule-Körne: Ein Problem ist der dortige Personalmangel. Das zweite Thema ist die Professionalisierung der Schulen und Lehrkräfte hinsichtlich dem Erkennen und dem Umgang mit psychischer Erkrankungen und Belastungen. Es gibt einzelne Schulen oder Bezirke, die sich dafür engagieren, aber es fehlen eine Gesamtstrategie und eine Systematik der Ausbildung. Psychische Gesundheit gehört in das Studium für alle Lehrämter – unabhängig von der Schulform. Und auch in die zwete Phase der Lehrerausbildung. Viele Studien zeigen, dass am Ende von einer Professionalisierung der Lehrer*innen nicht nur die Schüler*innen hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit profitieren, sondern auch die Lehrer*innen selbst.

 Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 19 vom 10.09.2022