Leitartikel

Münchner Arztpraxis für Wohnungslose. Weiblich, Krank, wohnungslos

Wer auf der Straße lebt, kann schnell gesundheitliche Probleme bekommen. Das gilt auch und besonders für Frauen. Um die medizinische Versorgung aller Menschen kümmert sich die Münchner Arztpraxis für Wohnungslose im Haus an der Pilgersheimer Straße. Aktuell sucht die Praxis wieder eine Kollegin. Die MÄA sprachen darüber mit Dr. Thomas Beutner.
Münchner Arztpraxis für Wohnungslose. Weiblich, Krank, wohnungslos
Münchner Arztpraxis für Wohnungslose. Weiblich, Krank, wohnungslos

Foto: Shutterstock

Herr Dr. Beutner, Sie haben Ihre Arbeit bei der Münchner Praxis für Wohnungslose über die MÄA gefunden. Aktuell gibt es wieder einen Personalwechsel. Wen suchen Sie?

Ja, Frau Dr. Angelika Eisenried wird leider bei uns aufhören. Für unsere Teilzeitstelle mit zehn bis maximal 20 Stunden suchen wir am liebsten wieder eine Kollegin, denn in unserer Praxis betreuen wir zunehmend Frauen. Eine Beratung von Mann zu Mann ist immer anders als von Mann zu Frau und umgekehrt. Eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit ist eine abgeschlossene Weiterbildung als Allgemeinmedizinerin. Gut wäre es, wenn die Kollegin bereits ein wenig Berufserfahrung und Erfahrung mit Sonographie und Notfallversorgung gesammelt hätte.

Was würde auf sie zukommen?

Wir behandeln die gesamte Bandbreite an Erkrankungen, hauptsächlich internistische, dermatologische, orthopädische und Infektionen aller Art. Dabei gilt es oft, pragmatisch zu sein und den Menschen über die erste Zeit hinwegzuhelfen. Etwa ein Drittel unserer Patient*innen ist nicht versichert oder ihr Versicherungsstatus ist nicht geklärt. Zudem
haben wir in unserer Allgemeinarztpraxis zwar das normale Equipment wie Ultraschall, EKG, Labor, etc. Oft sind wir aber auf fachärztliche Hilfe angewiesen, etwa wenn es sich um Fragestellungen auf kardiologischem, neurologischem oder auch orthopädischem Fachgebiet handelt. Dies zu organisieren ist manchmal nicht leicht. Häufig sind wir auch mit psychischen Erkrankungen, insbesondere Suchterkrankungen konfrontiert. Dazu arbeiten wir mit unserer Psychiaterin, Frau Dr. Silke Ulm-Coustou, in der Praxis zusammen. Da unsere Patient*innen aus aller Herren Länder kommen – z.B. vom afrikanischen Kontinent, aber auch viele aus Ost- und Südosteuropa etc. – nutzen wir oft Übersetzungshilfen, mit technischen Dolmetschertools im Handyformat.

Insgesamt braucht es eine hohe Toleranz und Teamfähigkeit. Die neue Kollegin muss mit vielen Stellen in Kontakt treten und vermitteln, denn ein stückweit sind wir auch für die sozialen Belange der Patient*innen mit verantwortlich. Dreimal pro Woche abends suchen wir unsere Patient*innen mit der Straßenambulanz auf und kümmern uns dann um die Notversorgung – auch mit Kleidung, Utensilien Schlafsäcken, Isomatten usw. Das ist aber auch das Schöne an unserer Aufgabe. Es ist eine intensive ärztliche Tätigkeit. Wir sind für den ganzen Menschen da.

Welche Erlebnisse hatten Sie, als Sie damals angefangen haben?

Eine große Überraschung für mich war die tiefe Dankbarkeit dieser Menschen. Man gibt nicht nur, sondern ist auch beschenkt, wenn sie einem zu verstehen geben, wie sehr sie einen brauchen und die Hilfe zu schätzen wissen. Auch die Patiententreue ist durchaus gegeben. Ein Vertrauensverhältnis herzustellen ist in der ansonsten überwiegend ökonomisierten Medizin ja oft schwierig. Wir haben mit unseren Patient*innen kein Dienstleistungsverhältnis, denn wir können überwiegend auf der Grundlage von Spendenmitteln, Zuschüssen und anderen Querfinanzierungen arbeiten, so dass wir hier dem ökonomischen Druck nicht ganz so sehr ausgesetzt sind.

Gab es bei Ihnen auch Dinge, an die Sie sich erst gewöhnen mussten?

Wenn man anfängt, hat man zunächst gewisse Abläufe oder Leitlinien im Kopf. Davon muss man leider manchmal Abstand nehmen, und vieles haut beim ersten Mal auch nicht hin. Nicht, weil unsere Patient*innen keine Lust haben mitzuarbeiten, sondern weil sie oft Probleme bei der Kommunikation haben. Viele lavieren sich schon lange durch diesen prekären Zustand und haben Demütigungen oder Interessenslosigkeit erfahren. Manche fühlen sich nicht wert, dass bei ihnen wieder alles in Ordnung kommt. Man muss die Menschen oft stark motivieren und immer wieder neue Anläufe wagen. Das heißt nicht, dass man nicht auch manchmal eine Grenze ziehen muss,
wenn z.B. Termine nicht wahrgenommen werden oder rüpelhaftes Verhalten um sich greift. Ein großer Vorteil aber ist, dass wir mit unseren Sozialarbeiter*innen Hand in Hand arbeiten. Sie helfen, wenn die Menschen eine Unterkunft oder eine Betreuung brauchen oder Anträge gestellt werden müssen. Das Teamwork hier in diesem Haus funktioniert wunderbar.

Sie haben gesagt, dass zunehmend auch Frauen zu Ihnen kommen. Wie viele Frauen sind es?

Laut unseren Statistiken ist ihr Anteil seit dem Jahr 2017 von 3 auf 10 Prozent gestiegen. In 2023 haben wir circa 120 Frauen pro Jahr mit Namen gekannt und versorgt. Insgesamt sind es aber sicher deutlich mehr, denn Frauen wollen im Schnitt deutlich häufiger anonym bleiben und oft auch ihr Versteck nicht verraten.
Manche sind in alternativen, geschützten Bereichen untergekommen. Daher fangen wir oft zunächst mit einer anonymen Behandlung an. Wenn dies Vertrauen weckt, können wir später immer noch Namen, Geburtsdatum und ggf. Adresse usw. erheben.

Hat auch die Gesamtzahl der Wohnungslosen in München zugenommen?

Unsere Behandlungsfälle jedenfalls nehmen von Jahr zu Jahr zu – auch die Schwere der behandelten Fälle. Denn nach wie vor gibt es in den Krankenhäusern einen Drehtüreffekt. Für uns ist es oft wirklich schwierig, chronische Erkrankungen wie etwa chronische Beingeschwüre so zu behandeln, dass sie abheilen können. Anfang des Winters hatten wir z.B. einen Rollstuhlfahrer, der ein schwerstes Gefäßleiden und Geschwüre hatte und bereits unterschenkelamputiert war. Zwar konnten wir ihn zunächst in einem passenden Krankenhaus unterbringen, aber kurz danach kam er wieder in unsere Praxis. Er hatte bei strömendem Regen und fünf Grad draußen in seinem Rollstuhl übernachtet.

Dass wir Menschen wie ihn oft nicht gut unterbringen können, liegt natürlich auch oft an ihrem nicht passenden Verhalten. Aber aufgrund seiner schweren Gefäßerkrankung reichen bei ihm schon sechs oder sieben Grad Kälte, dass er schwere Folgeschäden erleidet und erneute Amputationen notwendig werden. Und es besteht immer die Gefahr einer Sepsis, die bei dem ohnehin schon geschwächten Patienten zum Tode führen kann. Daher sind wir sehr froh, dass in absehbarer Zeit in der Beowulfstraße im Stadtteil Ramersdorf-Altperlach eine Pflegeeinrichtung speziell für Obdachlose an den Start gehen soll – mit Spielregeln, die unsere Patient*innen auch einhalten können. Oft haben wir schon relativ junge Patient*innen mit extrem schweren chronischen Erkrankungen, die versorgt werden müssen. Manche 50-Jährige sind biologisch gesehen wie 70-Jährige.

Haben die Frauen andere Probleme als die Männer? Was sind die Unterschiede bei Diagnose und Behandlung?

Es gibt immer wieder gynäkologische Probleme und leider Gottes auch immer wieder schwer zu betreuende Schwangerschaften auf der Straße. Hinzu kommen die ganze Bandbreite an dermatologischen Problematiken, Suchterkrankungen und ihre Folgen – wie bei den Männern. Insbesondere bei der medikamentösen Behandlung weiß man heute, dass es bei Männern und Frauen einen Unterschied bei den Wirkstoffen und Dosierungen gibt. Das müssen wir berücksichtigen.

Was könnte oder müsste sozial oder politisch geschehen, um noch besser auf die Probleme von wohnungslosen Frauen einzugehen?

Es wird schon viel getan, aber offenbar gibt es noch zu wenig Schlaf- bzw. Wohnplätze für sie. Daher suchen viele zunächst Schutz in der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof. Es ist toll, dass es sie gibt, aber das ist keine dauerhafte Lösung. Die Vermittlung von Frauen in Schutzräume müsste noch besser funktionieren. Im städtischen Männerwohnheim in der Pilgersheimer Straße, wo sich auch unsere Praxis befindet, können wir natürlich nur ausschließlich Männer unterbringen, und ich halte es zum Schutz der Frauen auch für durchaus sinnvoll, Frauen und Männer zu trennen. Ich hoffe, dass sich durch weitere Gewaltprävention des Gesetzgebers noch mehr zum Positiven wendet, damit weniger Frauen in der Obdachlosigkeit landen.

Wie ist die Altersstruktur der Frauen auf der Straße?

Wir behandeln viele Jüngere, aber durchaus auch ganz Alte. Meiner Einschätzung nach leben die Älteren aber nur sehr selten wirklich auf der Straße. Das schließe ich aus ihrem Äußeren, u.a. ihrem hygienischen Zustand. Oft wissen wir es aber nicht – auch nicht, warum sie auf der Strasse gelandet sind. Wir wissen auch meistens nicht, warum die Frauen wohnungslos geworden sind. Manchmal ziehen uns die Sozialarbeiter*innen bei Betreuungsverfahren zu Rate oder es gibt einen Klinikbericht mit ausführlicheren Lebensbeschreibungen bei psychiatrischen Erkrankungen. Wenn man dies liest, berührt es einen sehr, was ein Mensch alles erleiden muss. Demnach kommen Männer tendenziell öfter wegen Konflikten in die Obdachlosigkeit oder weil sie in die kriminelle Ecke abgeglitten sind. Bei Frauen sind es meiner Einschätzung nach eher direkte oder indirekte Gewalterfahrungen. Unsere derzeit jüngste Patientin ist 21 Jahre alt und verkleidet sich als Junge – vielleicht, um sich zu schützen.

Was gibt es Neues in der Praxis und der Straßenambulanz?

Wir haben bald ein neues Fahrzeug. Das hat viel Mühe gekostet, aber inzwischen sind die Verträge unterschrieben. Wir sind guter Dinge, dass wir es noch in diesem Jahr in Empfang nehmen können, denn das alte ist in die Jahre gekommen. Zudem widmen wir uns momentan sehr intensiv der digitalen Dokumentation der Wundversorgung. Wir befinden uns dazu noch in einem Entwicklungsprozess, aber unsere Überlegungen nehmen langsam Formen an. Die neue Kollegin wäre an der Projektentwicklung beteiligt, denn die Wundversorgung ist ein wichtiger Teil ihres Tätigkeitsprofils.

Was wünschen Sie sich von Kolleginnen und Kollegen?

Es ist ja kein Geheimnis, dass sämtliche Kliniken in unserem Land ums Überleben kämpfen. Trotzdem wünschen wir uns mehr Akzeptanz für unsere Patient*innen, dass ihre Probleme gesehen werden. Wir weisen sie ja nur dann ein, wenn die Probleme tatsächlich gravierend sind. Erfahrungsgemäß ist die Zusammenarbeit mit Kolleg*innen immer dann besonders fruchtbar, wenn man versteht, mit welchen Schwierigkeiten die jeweils andere Seite konfrontiert ist. Wir kommen daher auch gerne in Kliniken für Gespräche oder auch einmal einen kleinen Vortrag. Interessierte Kolleg*innen können mich gern über die Wohnungslosenpraxis und Straßenambulanz kontaktieren. An der ausgeschriebenen Stelle interessierte Kolleg*innen können mich ebenfalls gerne über die Ambulanz kontaktieren.

Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 04/2025 vom 15.02.2025