Münchner Anti-Freezing-Training bei Parkinson, Weitergehen Schritt für Schritt
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Wie häufig kommt Parkinson in Deutschland vor?
Derzeit geht man von rund 400.000 Patient*innen aus – das sind etwa ein bis zwei Prozent der Über-65-Jährigen. Wenn man allerdings Parkinsonsymptome allgemein betrachtet, ist dies viel häufiger. Laut einer aktuellen Untersuchung haben über zehn Prozent der über 65-Jährigen eine Kombination aus mindestens zwei Parkinsonsymptomen, leiden also an parkinsonähnlichen Störungen.
Kann man einen Trend ablesen?
Es gibt eine Untersuchung von Kostenträgern, dass Parkinson in Bayern abgenommen habe. Allerdings ist weltweit eher mit einer starken Zunahme zu rechnen, sogar mit einer Verdoppelung. Als das Wort „Pandemie“ noch nicht so in Gebrauch war, betitelte eine große deutsche Zeitung einen Beitrag mit der Headline „Parkinson-Pandemie“. Das liegt auch an der Alterung der Bevölkerung, aber nicht nur: Parkinsonpatient*innen leben länger, dadurch wird die Krankheit komplizierter und es kommen andere Krankheiten hinzu. Warum es weltweit zunimmt, vor allem z.B. in China, dazu gibt es verschiedene Theorien. Es scheint, dass eine schnelle Industrialisierung mit einer Zunahme von Parkinson vergesellschaftet ist. Kausal werden Schadstoffe damit in Verbindung gebracht – im Wesentlichen Lösungsmittel und Pestizide.
Wieviele Menschen leiden unter der Gangstörung „Freezing“ und warum?
Wenn Parkinson-Patient*innen lange genug leben, kommen sie an diesem Problem nicht vorbei. Es gibt Erhebungen, dass in einem frühen Krankheitsstadium etwa ein Drittel der Patient*innen darunter leidet. Später sind es schon 80 Prozent. Manche sind dann allerdings nicht mehr mobil genug, um es wahrzunehmen. Wir Menschen brauchen Dopamin, um Bewegungen zu initiieren, und beim Parkinson fehlt dieses Dopamin. Daher kommt es in der Regel zu einer Verlangsamung von Bewegungen oder zu Schwierigkeiten, Bewegungen zu starten. Die Bewegungen, z.B. die Schritte, werden kleiner, aber nicht gleichmäßig, sondern es gibt ein Dekrement, das heißt die Amplitude der Bewegung wird kleiner. Dadurch geraten die Patient*innen z.B. ins Trippeln. Viele versuchen, das zu überwinden, indem sie plötzlich noch schneller werden. Fachsprachlich nennt man das Festination. Dadurch kann es zu einem Sturz nach vorne kommen.
Seit wann gibt es das Münchner Anti-Freezing-Training (MAFT)?
Die Idee dazu entstand schon 2008 hier an der Schwabinger Schön Klinik. Es wurde in einem berufsgruppenübergreifenden Team konzipiert. Zunächst hat man sich damit beschäftigt, wie man es überhaupt messen kann. Eine erste Studie dazu wurde 2014 veröffentlicht. Aktuell hat es einen festen Stellenwert im Parkinson Netzwerk Therapie (PaNTher), unserem physiotherapeutischen Trainingsprogramm (s. Link unten). Es wird deutschlandweit mittlerweile an verschiedenen Fachkliniken eingesetzt, und natürlich auch an unserer.
Wie kamen Sie darauf?
Damals bei der Einführung der multimodalen Komplextherapie Parkinson wollten wir eine zweiwöchige Therapie entwickeln, für die es keine speziellen Präparate, Computer oder Räumlichkeiten braucht und die man auch nach dem Klinikaufenthalt fortführen kann – möglichst jeweils dreimal pro Woche für dreißig Minuten. In unserer Studie haben wir zwei Gruppen verglichen: in der einen wurden die Patient*innen erstmal nur über das Phänomen Freezing aufgeklärt, die andere Gruppe erhielt das Training. Interessanterweise hat allein die Information über Freezing schon zu einer Verbesserung geführt. Die Intervention hatte aber einen um einiges stärkeren Effekt, den wir anhand von Videos messen konnten. Allerdings ist es schwer, Freezing zu erfassen, denn es ist nicht so gut messbar wie etwa der Blutdruck.
Warum ist das Training so wichtig?
Freezing ist die häufigste Sturzursache bei Parkinson. Es gibt mindestens vier Formen: Beim Starten, an engen Stellen, bei der Wendung und beim Zugehen auf ein Ziel. Ein Beispiel für Letzteres ist, wenn das Telefon läutet, und der Patient zum Telefon hinläuft, aber kurz davor stehen bleibt und nicht mehr von der Stelle kommt. Das Pendant dazu ist Starten: Die Ampel schaltet auf Grün und die Patientin soll über die Straße gehen, schafft dies aber nicht. Ähnlich verhält es sich oft an engen Stellen wie Türen. Das Alltagsrelevanteste aber ist das Wende-Freezing - sich zu drehen. Überlegen Sie mal, wie oft Sie sich zum Beispiel in einer Küche drehen müssen. Parkinsonpatient*innen drehen oft den Oberkörper, aber die untere Körperhälfte ist dabei wie am Boden festgeklebt. Das führt leider oft zu Stürzen auf die Hüfte.
Gibt es Voraussetzungen, um an dem Training teilzunehmen, und wie funktioniert es?
Leider kommen viele Patient*innen erst zu uns, wenn sie schon ein sehr starkes Freezing haben. Günstiger wäre es, frühzeitig anzufangen. Unsere Leitlinien empfehlen Physiotherapie und andere aktivierende Therapien bereits zum Zeitpunkt der Diagnosestellung, mit der erstmaligen Verabreichung von Medikamenten. Zunächst evaluieren wir, welche Art von Freezing vorliegt und versuchen, die typischen Auslösesituationen zu provozieren. Anschließend verinnerlichen die Patient*innen die Schritte, wie sie über das Freezing hinwegkommen. Das Training selbst ist hoch repetitiv – aber Übung macht ja bekanntlich den Meister. Wenn das Problem zum Beispiel das Drehen vor dem Hinsetzen auf einen Stuhl ist, kann man statt gerade tangentiell auf den Stuhl zugehen. Dann muss man am Stuhl keine volle Drehung mehr durchführen. Für Patient*innen, die an Türen Probleme haben, kann es hilfreich sein, durch die Tür in den nächsten Raum hineinzuschauen. Entsteht ein Freezing beim Verlassen eines Aufzugs sollte man nicht auf den Türmechanismus achten, sondern auf den Raum dahinter und einfach durchgehen. Weil Freezing häufig entsteht, wenn die Patient*innen abgelenkt sind, steigern wir während des Trainings die mentalen Ansprüche. Wir stressen sie dadurch, dass wir sie währenddessen zählen oder etwa beim Wenden die Wochentage aufzählen lassen. Durch dieses Dual Tasking lässt sich eine Anti-Freezing-Strategie automatisieren.
Wie lässt sich das Freezing grundsätzlich überwinden?
Wir arbeiten mit sogenannten Cues, also Hinweisreizen, durch die das Gehirn nicht so viel Dopamin braucht. Wenn Sie einen Taktgeber haben, ist es leichter, das Freezing zu überwinden. Dazu finden wir zunächst heraus, welche Cues für die jeweiligen Patient*innen geeignet sind. Bei dem einen kann es ein Ausdruck sein, den er sich sagt. Bei einer anderen ist es vielleicht ein Schnippser mit den Fingern. Viele sind da sehr kreativ, werfen zum Beispiel einen Ast auf den Boden, um dann darüber zu steigen. Freezer haben typischerweise keine Schwierigkeiten, Treppen zu steigen oder teilweise sogar Fahrrad zu fahren, weil die Stufen oder die Pedale als Hinweisreize dienen. Ein Video in der New York Times zeigt einen Patienten auf dem Fahrrad, der zu Fuß nicht von der Stelle kommt. Auch Musik kann helfen, z.B. Marschmusik. Oder Metronome, allerdings nur, wenn die Patient*innen sie nicht ständig hören, weil sie sie dann nicht mehr richtig wahrnehmen. Zusätzlich gibt es einen speziell für Parkinsonkranke konzipierten Stock mit einem Griff, der auf Knöchelebene mit einer Lasche verbunden ist. Zieht man daran, geht diese Lasche – meistens aus rotem Plastik – nach unten und man kann darübersteigen. Die High-End-Version ist ein Stock mit einem Laser, der sozusagen einen Strich auf den Boden malt, über den man dann steigen kann. Solche Stöcke lassen sich ganz einfach als Hilfsmittel verordnen.
Warum sind Cues (Hinweisreize) nötig? Was steckt dahinter?
Dopamin ist wie ein Verstärker. Wenn Sie eine Handlung initiieren möchten, brauchen Sie diesen Verstärker. Wenn jemand zu Ihnen sagt: „Jetzt geht es los“, kompensiert dieser Hinweisreiz den Mangel an Dopamin. Unser Training ist allerdings kein Allheilmittel, sondern nur ein Baustein. Zunächst prüfen wir, ob das Freezing durch Dopaminersatz besser wird. Gerade Patient*innen mit Wirkungsschwankungen freezen oft nur in den Off-Phasen, wenn die Medikamente gerade nicht wirken. Für Patient*innen mit tiefer Hirnstimulation ist das Freezing leider oft ein Problem, denn durch die Hirnstimulation verbessert sich zwar oft die Bewegung der oberen Extremitäten, sie verschlechtert sich aber häufig an den unteren. Dann muss man die Parameter der tiefen Hirnstimulation adjustieren. Da das Freezing die Patient*innen immer begleiten wird, ist es wichtig, Strategien zu lernen, um damit zurechtkommen. Die Anti-Freezing-Maßnahmen sollten zu Hause möglichst weiterhin trainiert werden.
Wie komme ich als Parkinson-Patient*in in München an ein MAFT-Training?
Neurolog*innen können ein Rezept für Krankengymnastik ZNS ausstellen – für zehnmal jeweils 30 Minuten, zwei- bis dreimal pro Woche. Wir haben Physiotherapeut*innen in München geschult und gehen dazu auch in die Praxen. Bei der AOK versicherte Münchner Patient*innen, können am Modellvorhaben PaNTher teilnehmen. Auch andere physiotherapeutische Module sind bei Parkinson sinnvoll. Leider haben aber viele niedergelassene Kolleg*innen Angst vor Regressforderungen der Krankenkassen und verschreiben aktivierende Therapien daher sehr sparsam. Dabei fordern die Leitlinien für alle Patient*innen mit Diagnosestellung Zugang zu ausreichender Physiotherapie. Wenn man weiß, wie man verordnet und es richtig dokumentiert, muss niemand Angst vor Regressforderungen haben. Wir müssen hier noch einiges aufholen.
Hausbesuche zur Fortsetzung der Therapie lassen sich leider nicht immer umsetzen. Wie kann man sie fördern?
Sie sprechen ein sehr weitreichendes und schwieriges Problem an. In anderen Ländern wie beispielsweise Großbritannien und den Niederlanden gibt es mobile Teams. Auch im Rahmen des PaNTher-Modellvorhabens sind Hausbesuche vorgesehen. Neurolog*innen können ihre AOK-Patient*innen ins Modellvorhaben aufnehmen. Gleichzeitig machen neue Entwicklungen bei den Medikamenten Hoffnung. Geräteunterstützte Therapien, Medikamentenpumpen und tiefe Hirnstimulation etwa können helfen, Off-Phasen zu unterdrücken. Subkutanes Levodopa könnte es schon im nächsten Jahr auf den Markt schaffen. Letztes Jahr wurde außerdem ein schnell wirksames Levodopa zur Inhalation auf den Markt gebracht, und es gibt das Apomorphin, das man sich subkutan injiziert.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA Nr. 09/2023 vom 22.04.2023