Leitartikel

Medizinischer ABC-Schutz, Was wäre, wenn....

Über mögliche Katastrophen wie einen Giftgasanschlag oder eine weitere Pandemie möchte niemand nachdenken. Der Kommandeur, Dr. Hans-Ulrich Holtherm, und der Leiter der Task Force Medizinischer ABC-Schutz, Prof. Dr. Timo Wille, von der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München erklärten im Interview, warum dies trotzdem wichtig ist und warum es sich lohnt, einen ÄKBV-Kurs zu lebensbedrohlichen Einsatzlagen mit Infos zum ABC-Schutz zu besuchen.
Medizinischer ABC-Schutz, Was wäre, wenn...
Medizinischer ABC-Schutz, was wäre, wenn

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Herr Dr. Holtherm, was macht die Sanitätsakademie der Bundeswehr (SanAkBw)?

Holtherm: Die SanAkBw ist die zentrale Aus-, Weiter- und Fortbildungseinrichtung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, und das bereits seit 60 Jahren, denn dieses Jahr feiern wir ein rundes Jubiläum. Bei uns werden und wurden z.B. Ärzt*innen, Zahnärzt*innen, Tierärzt*innen, Apotheker*innen und Lebensmittelchemiker*innen aus ganz Deutschland zu Offizier*innen ausgebildet. Diese Soldat*innen studieren zwar an zivilen Universitäten, machen aber bei uns in München ihre Offiziersausbildung und werden hier auch für spezielle sanitätsdienstliche Themen weiter geschult. Da wir bei der Bundeswehr auch einen großen Bedarf an Menschen in Pflegeberufen, Notfallsanitäter*innen, Medizinisch-technischen oder Pharmazeutisch-technischen Assistent*innen usw. haben, bilden wir auch diese an der SanAkBw zu Unteroffizier*innen und Feldwebeln aus. Jede*r länger dienende Sanitäter*in kommt regelmäßig zu Aus-, Fort- und Weiterbildungslehrgängen nach München. Insgesamt haben wir bis zu 10.000 Lehrgangsteilnehmende pro Jahr.

Gibt es Schwerpunkte?

Holtherm: Unsere fachlichen Schwerpunkte liegen z.B. im Bereich der Notfall- oder Rettungsmedizin sowie im öffentlichen Gesundheitswesen, denn auch für den Public Health Bereich gibt es hier Ausbildungsformate. Als Akademie bezeichnen wir uns unter anderem, weil wir drei Ressortforschungsinstitute des Bundes beherbergen: Die Institute für Mikrobiologie, Pharmakologie und Toxikologie sowie für Radiobiologie. Sie beschäftigen sich mit Themen rund um den medizinischen Schutz vor atomaren, chemischen oder biologischen Bedrohungen und arbeiten in nationaler sowie internationaler zivil-militärischer Kooperation mit Partnereinrichtungen, u.a. Universitäten, zusammen. In einer Abteilung des Direktorats für Wissenschaft und Fähigkeitsentwicklung, in unserer Abteilung F für den medizinischen ABC-Schutz, koordinieren wir die Themen der drei Institute in einer Task Force, die auch zum schnellen Einsatz bei Gefährdungen zur Verfügung steht.

Wille: Der medizinische ABC-Schutz der Bundeswehr ist in Deutschland ausschließlich in München abgebildet. In der Abteilung F geht es uns im Wesentlichen darum, auf eine Ausbringung von ABC-Kampfmitteln vorbereitet zu sein und unsere Soldat*innen schnellst- und bestmöglich vor einer Exposition zu schützen und bei erfolgter Exposition zu versorgen.

Ist ABC-Schutz also ausschließlich ein militärisches Thema?

Wille: Der technische wie auch der medizinische ABC-Schutz werden zwar seit der Gründung der Bundeswehr durch diese wahrgenommen, sind aber kein exklusiv militärischer Themenkomplex. Terroristische Anschläge mit ABC-Wirkmitteln im Inland, aber auch Unfälle mit Gefahrgut, betreffen meist zuerst die Zivilbevölkerung, sodass hier auch primär die zivile Gefahrenabwehr, wie die ABC-Züge bzw. Gefahrstoffzüge der Feuerwehren zuständig sind.

Was würde bei der Bundeswehr passieren, wenn es in der U-Bahn plötzlich komisch riecht und Hinweise auf einen Giftgasanschlag vorliegen?

Wille: Die Bundeswehr kommt grundsätzlich nur dann zum Einsatz, wenn Streitkräfte angegriffen und Bundeswehrangehörige verletzt werden oder wenn es sich um einen staatlichen Angriff handelt. Im zivilen Bereich wird die Bundeswehr nur subsidiär im Rahmen der Amtshilfe tätig, wie zum Beispiel in der Coronakrise, als bis zu 30.000 Soldat*innen gleichzeitig im Einsatz waren. Wenn, vergleichbar mit dem Vorfall in der Tokioter U-Bahn 1995, zum Beispiel Sarin in einer U-Bahn in Deutschland ausgebracht würde, dann würden zunächst die jeweilige Feuerwehr und der zivile Katastrophenschutz alarmiert. Die Bundeswehr ist aber gerade im Bereich des Medizinischen ABC-Schutzes gut mit den zivilen Partnern vernetzt – z.B. mit dem Bundesamt für Strahlenschutz, dem Robert Koch-Institut und dem Bundesinstitut für Risikobewertung – und kann hier mit Expertise unterstützen.

Warum sollten sich Münchner Ärzt*innen schon im Vorfeld mit Katastrophenszenarien befassen?

Wille: Um den Schaden von ABC-Wirkmitteln bei unseren Patient*innen zu minimieren, ist ein frühes Erkennen und besonnenes Handeln sehr wichtig. Wir möchten bei den Kolleg*innen im zivilen Bereich eine „Critical Awareness“ schaffen, damit Szenarien wie Anschläge mit chemischen Kampfstoffen möglichst früh erkannt und entsprechende Alarmierungen abgesetzt werden können. Infektionskrankheiten, die für eine bestimmte Jahreszeit oder in ihrer Schwere des Verlaufs ungewöhnlich sind, werden mitunter den niedergelassenen Kolleg*innen oder im öffentlichen Gesundheitswesen auffallen. Gleichzeitig sollten Kolleg*innen bei derartigen Szenarien auch an den Selbstschutz denken. Es lohnt sich daher, sich gerade als ein*e in einer Metropole tätiger Arzt oder tätige Ärztin mit dieser speziellen Thematik zu beschäftigen.

Wäre es denn bei einer atomaren Katastrophe oder gar einem Angriff überhaupt möglich, Menschen zu retten?

Wille: Sowohl bei dem Strahlenunfall in Goiânia mit Cäsiumchlorid 1987 wie auch bei dem Anschlag in der Tokioter U-Bahn mit Sarin 1995 gab es ein breites Spektrum an Erkrankungsschwere in Abhängigkeit von der Entfernung zum Hauptschadensplatz und der damit verbundenen Expositionsmenge. Bei allen drei Arten von Agentien, seien sie nun biologisch, chemisch oder atomar werden nie alle Menschen gleich stark betroffen sein. Abhängig von der Patientenanzahl kann es jedoch sein, dass keine Individualmedizin mehr durchgeführt werden kann, sondern im Rahmen eines Massenanfalls an Verletzten Triage-Verfahren zur Verteilung von medizinischen Ressourcen durchgeführt werden müssen. Beim Anschlag in der Tokioter U-Bahn kamen die Vergiftungsopfer mit kontaminierter Kleidung in die Kliniken, wo der Kampfstoff wieder ausgedampft ist und somit das Krankenhauspersonal exponiert wurde, weshalb dieses krank wurde. Betroffene Patient*innen sollten daher zunächst dekontaminiert werden, also die Exposition auf dem Körper oder der Haut entfernt werden, bevor die Patient*innen in ein Krankenhaus kommen. Neben dem präklinischen Management gilt es dann im Bereich der Klinik, solche Fälle strukturiert abzuarbeiten. Dies sollte auch geübt werden: Wer ruft in einem solchen Fall wen wie an? Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe zum Beispiel führt solche Katastrophenschutzübungen durch.

Gab es in München oder anderswo in Deutschland schon Übungen unter Einbeziehung von Ärztinnen und Ärzten?

Wille: In Berlin gab es unter Mitwirkung des Robert-Koch-Instituts und der Charité eine derartige Übung. Im internationalen Umfeld werden Giftgasanschläge einer U-Bahn präklinisch wie auch in der Klinik geübt und eine Überlastung der Versorgung dabei bewusst provoziert, um die Grenzen des Systems auszutesten. Bei der Pandemie haben wir erlebt, dass wir eine gewisse Vorbereitung und einen gesamtstaatlichen Ansatz brauchen. Auch die Bundesregierung hat das erkannt und arbeitet daher an einem nationalen Konzept. Bei Corona haben wir zum Glück auch gesehen, wie schnell es mit einer Impfstoffentwicklung gehen kann, wenn alle an einem Strang ziehen. Wichtig ist es, nun das Momentum Covid zu nutzen und die Vorbereitungen gegenüber den Auswirkungen der Ausbringung von ABC-Agentien zu verstetigen.

Vor Kurzem haben Medien von multiresistenten Keimen bei ukrainischen Soldat*innen berichtet, die in deutschen Krankenhäusern behandelt wurden.

Wille: Multiresistente Keime nehmen – leider – weltweit zu. Aus meiner Sicht ist das eher ein gesamtgesellschaftliches Problem, das noch dadurch verschärft wird, dass derzeit nicht alle benötigten Antibiotika marktverfügbar sind. Mein Sohn hatte neulich eine Streptokokken-Infektion, und ich hätte einfach einen Penicillin-Saft gebraucht, der aber nicht verfügbar war. Zur Preparedness gehört auch, dass wir unabhängiger von Lieferketten werden müssen. Auch die Bundeswehr ist auf bestimmte Antidote angewiesen, die derzeit Lieferschwierigkeiten haben. Das Problem ist jedoch erkannt und wird adressiert.

Sie beteiligen sich künftig als ABC-Schutz-Experte an den ÄKBV-Kursen zu lebensbedrohlichen Einsatzlagen. Was sind die Inhalte, und wer kann sich anmelden?

Wille: Zunächst geht es um das frühe Erkennen, die bereits erwähnte Critical Awareness, das Absetzen einer qualifizierten Meldung und erste lebensrettende Maßnahmen sowie eine eventuelle Antidotgabe ohne Eigengefährdung. Dazu erhalten die Teilnehmenden u. a. unsere Taschenkarte, eine Art Minifibel mit den wichtigsten Informationen. An den Kursen teilnehmen können alle interessierten Ärztinnen und Ärzte, natürlich besonders Notfallmediziner*innen, Personal aus dem Rettungsdienst und den Notaufnahmen, Infektiolog*innen, Hausärzt*innen oder Menschen aus dem öffentlichen Gesundheitsdienst. Ich sehe diese Ausbildung wie eine Mini-Lebensversicherung: Es ist gut, wenn man sie hat – in der Hoffnung, dass man sie niemals braucht.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 14 vom 01.07.2023