Magersucht bei Mädchen und Jungen, Ich bin zu dick!
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Frau Dr. Bühren, wie viele Kinder und Jugendliche in München oder Bayern sind von Magersucht betroffen?
Laut Hochrechnungen sind bundesweit etwa 50.000 Jugendliche im Alter von zwölf bis 17 Jahren von einer Essstörung betroffen. Unter einer Magersucht leiden 0,5 bis 0,7 Prozent vor allem der jugendlichen Mädchen. Das Geschlechterverhältnis von Mädchen zu Jungen beträgt laut Literatur etwa 10:1. Der Erkrankungsgipfel lag früher bei 15 Jahren. In den letzten Jahren sind immer mehr jüngere Patient*innen betroffen. Teilweise kommen schon acht- oder neunjährige Mädchen zu uns. Während der Pandemie zeigte sich ein Anstieg der Fälle behandlungs- bedürftiger Magersucht. Krankenkassendaten der DAK zeigen, dass die Zahl der stationären Behandlungen wegen Magersucht während der Pandemie um 25 Prozent zugenommen hat. Laut internationalen und nationalen Zahlen ist die Gesamtzahl der Behandlungsbedürftigen seit 2020 sogar um 40 bis 48 Prozent gestiegen.
Gibt es zuverlässige Zahlen speziell für Jungen?
Weil sich das Krankheitsbild bei ihnen anders präsentiert, gibt es bei Jungen eine sehr hohe Dunkelziffer. Betroffene Mädchen streben häufig durch restriktives Essen nach einer Gewichtsabnahme. Jungen wünschen sich meist einen athletischeren Körper, treiben deshalb sehr viel Sport, nehmen aber nicht ausreichend Nahrung zu sich. Weil viele Jungen als Jugendliche eher schlank sind und zum Ausgleich viel Sport treiben, werden uns betroffene Jungen meist erst sehr spät vorgestellt, wenn die Erkrankung schon deutlich chronifiziert ist und die Jungen unter deutlichen körperlichen Komplikationen oder extrem zwanghaftem Verhalten leiden. Bei uns in der Klinik beträgt das Geschlechterverhältnis geschätzt eher 1:50 als 1:10. Auch die Therapie unterscheidet sich, weil Jungen und Mädchen oft nicht die gleichen Themen haben. Das Gleiche gilt für die kindliche Magersucht, auch hier müssen wir therapeutisch anders vorgehen.
Welche Rolle spielt Sport bei den betroffenen Mädchen?
Auch viele Mädchen treiben vermehrt Sport, um Gewicht zu verlieren. Je nach Ausmaß des Untergewichts entwickeln sie im Verlauf der Erkrankung aber auch einen hormonell bedingten Bewegungsdrang. Das von den Fettzellen sezernierte Hormon Leptin wird umso weniger produziert, je weniger Fett man hat. Aus wissenschaftlichen Studien weiß man, dass Hypoleptinämie zu einem vermehrten Bewegungsdrang führt. Das hat evolutionäre Ursachen: In der Steinzeit war es besser, kurz vor dem Verhungern die Höhle zu verlassen und jagen zu gehen als dort zu bleiben. In einer akuten Erkrankungsphase verbrauchen die Betroffenen dadurch sehr viele Kalorien, die sie ja ohnehin nicht ausreichend zu sich nehmen. Viele erleben den Bewegungsdrang auch als nicht kontrollierbar und massiv belastend. Eine Essener Forschungsgruppe hat daher den Versuch gemacht, den Betroffenen Leptin zu applizieren. Das ist aber noch sehr experimentell, sehr teuer und hat noch keine nachhaltigen Erfolge gezeigt.
Spielen außer Alter und Geschlecht bei der Epidemiologie noch andere Faktoren eine Rolle?
Es trifft eher die höheren sozialen Schichten und weltweit betrachtet eher die westlich geprägten Industrieländer. Wir sehen häufig Gymnasiast*innen und Kinder aus Akademikerfamilien.
Auch bestimmte Charaktereigenschaften spielen eine Rolle: Perfektionismus, Ehrgeiz, Leistungsorientierung und Selbstunsicherheit begünstigen die Erkrankung. Wer mit einem gestärkten Selbstwert durchs Leben geht und sich weniger von Schönheitsidealen beeinflussen lässt oder von der Frage, was andere von mir denken, ist tendenziell weniger betroffen. Auch wer weniger glaubt, dem Mainstream entsprechen zu müssen und sich stattdessen traut, einen eigenen Weg zu gehen, erkrankt seltener. In der Therapie versuchen wir daher, Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen zu stärken.
Psychiatrische Erkrankungen sind aber generell multifaktoriell bedingt. Auch bei der Magersucht besteht eine genetische Komponente. Wenn eine nahe Verwandte betroffen ist, ist die Wahrscheinlichkeit zu erkranken höher. Hinzu kommen hormonelle Faktoren, etwa die vermehrte Östrogenproduktion in der Pubertät, die eine vermehrte Produktion von Fettgewebe bedingt. Daher ist die Pubertät, die immer weiter vorgelagert wird, ein typisches Alter für die Erkrankung.
Welche Rolle spielt die Umgebung?
Das gängige Schönheitsideal bei den Peers, das Diätverhalten und die Körper - und Gewichtsbezogenheit, die zu Hause vorgelebt werden, haben einen wichtigen Einfluss auf die Patientinnen. Das mütterliche Ess- und Sportverhalten ist hier von besonderer Bedeutung. Das heißt aber nicht, dass die Eltern schuld sind!. Es mag schwierige familiäre Interaktionen geben, aber die Frage ist immer, was ist die Ursache und was Folge der Erkrankung.
Spielen bestimmte Webseiten oder soziale Medien eine Rolle?
Die Wissenschaft hat keine direkte Verbindung zwischen dem Konsum bestimmter Websites mit schlanken Models und der Erkrankung gefunden. Essstörungen verherrlichende Webseiten wie Pro Ana spielen aber natürlich eine Rolle. Heutzutage kommen noch die Influencer hinzu, die häufig sehr einseitige Ernährungsstrategien propagieren, etwa die rein vegane Ernährung. Das beeinflusst die Mädchen und kann eine Magersucht auch triggern.
Was sind typische körperliche Symptome oder Warnzeichen der Magersucht?
Bei jugendlichen Mädchen bleibt oft die Menstruation aus. Außerdem gibt es z.B. das Low-T3-Syndrom, eine hungerbedingte Schilddrüsenunterfunktion, die zu einer speziellen, für den Hungerzustand charakteristischen Konstellation der Laborwerte führt. Wer damit wenig zu hat, denkt vielleicht zunächst an eine Schilddrüsenunterfunktion, die ja oft eine depressive Symptomatik nach sich zieht. Auch viele Magersüchtige sind depressiv. Bei ihnen ist aber nicht die Gabe von Schilddrüsenhormonen die Therapie der Wahl, sondern eine Gewichtszunahme. Sonst befeuert man sogar noch das Abnehmen. Die Magersucht ist eine komplexe Erkrankung, bei der man die Einzelsymptome oft nicht so einfach zuordnen kann. Wir freuen uns daher, wenn wir als Kinder- und Jugendpsychiater*innen frühzeitig einbezogen werden.
Welche Therapien kommen in Frage?
Die erste Säule ist die körperliche Rehabilitation. Dabei geht es vor allem darum, somatische Folgeerkrankungen zu behandeln und eine Gewichtszunahme herbeizuführen. Manche denken, es brauche erst eine Psychotherapie, damit die Betroffenen wirklich zunehmen möchten. Doch das ist nicht erfolgsversprechend, denn je stärker man im Untergewicht ist, desto weniger besteht die kognitive Flexibilität zu einer Verhaltensänderung. Anfangs geht es vor allem darum, irgendwie Kalorien in die Patient*innen „reinzubekommen“, im Notfall auch über eine Nasensonde. Parallel braucht es natürlich eine gute therapeutische und supportive Begleitung. Stück für Stück kann dann die Ernährung normalisiert werden. Wir fördern ein eigenständiges ausgewogenes Essverhalten durch Wissensvermittlung zum Essen, Übung von Essen und Ernährungsberatung. Bei der psychotherapeutischen Begleitung sind die Verhaltenstherapie und die Family based Therapy evaluiert.
Die Behandlung besteht aus Einzel- und Gruppentherapie, Verbesserung der sozialen Kompetenzen und des Körperbilds sowie Familien- und Elternarbeit. Eltern sind für uns wichtige Kotherapeut*innen. Wir holen sie ins Boot und machen dann z.B. Belastungserprobungen zu Hau- se, damit das Essen dann auch zu Hause nachhaltig funktioniert.
Haben Sie Tipps zum Essen, wie das gut funktioniert?
Den Patient*innen ist es oft wichtig, sich gesund zu ernähren. Gleichzeitig müssen sie viele Kalorien zu sich nehmen. Wenn man sie bittet, täglich eine Tüte Chips zu essen, kommt man nicht weit. Da das Magenvolumen der Betroffenen zunächst oft sehr klein ist, sollte man Speisen finden, die die Patient*innen sich zutrauen zu essen, die aber auch eine gewisse Energiedichte haben. Nüsse z.B. sind gute, gesunde Energielieferanten, die sie auch zwischendurch snacken können. Viele Jugendliche sagen z.B.: „In der Schulpause isst niemand etwas, da kann ich nicht mit drei Broten ankommen“. Wir machen dann mit ihnen aus, dass sie z.B. einen Eiweißdrink in einer blickdichten Flasche mitnehmen und dazu noch Nüsse essen.
Wie ist die Prognose bei Magersucht?
Bei der jugendlichen Magersucht ist sie gut und bei einer adäquaten und zeitnahen Therapie versterben die Patient*innen nicht. Die Prognose ist umso schlechter je jünger das Erkrankungsalter ist und je länger die Patient*innen erkrankt sind. Bei denjenigen, die im Erwachsenenalter immer noch erkrankt sind, liegen die Mortatlitätsraten dann wegen der psychischen und körperlichen Folgen der Erkrankung bei bis zu zehn Prozent.
Wann handelt es sich um einen Notfall, bei dem man sofort handeln muss?
Für uns ist eine akute Magersucht immer eine Notfallindikation. Wann ein Klinikaufenthalt nötig ist, kann man leider nicht genau sagen, weil die somatische Gefährdung davon abhängt, wieviel Gewicht in welchem Zeitraum verloren wurde. Ausschlaggebend ist also nicht die BMI-Perzentile oder eine bestimmte Gewichtsgrenze. Eine deutlich untergewichtige Patientin, die schon immer sehr schlank gewesen ist und nur zwei Kilo abgenommen hat, können wir hingegen vielleicht noch ambulant behandeln. Eine andere Patientin ist noch nicht untergewichtig, hat aber innerhalb von zwei Monaten zehn Kilo verloren. In diesem Fall ist sie häufig psychopathologisch und somatisch bereits schwer krank und muss stationär aufgenommen werden. Wenn der Herzschlag schon massiv verlangsamt ist und die Blutwerte außer Kontrolle geraten sind, ist auch das eine Indikation für schnelles Handeln. Bei einem Verdachtsfall sollten zunächst die Kinderärztinnen und -ärzte die ersten Ansprechpartner*innen sein. Wir bitten dann, vor der Überweisung Labor und EKG einmal durchzuchecken. Wenn die Betroffenen nicht am Monitor überwacht werden müssen, fühlen wir uns immer zuständig und nehmen auch notfallmäßig auf. Wir haben über ganz Oberbayern verteilt zehn verschiedene Standorte. Die Rottmannshöhe am Starnberger See z.B. ist generell auf Essstörungen und unser Standort in Rosenheim speziell auf Kinder mit Magersucht spezialisiert. Wir können den Eltern auch dort ein Vorgespräch vermitteln.
Wann besteht eine psychische Indikation für eine Notaufnahme?
Wenn eine akute Suizidalität hinzukommt, ist das für uns immer eine Indikation für eine notfallmäßige Aufnahme. Suizidalität ist bei uns mit 90 bis 95 Prozent unabhängig von der Grunderkrankung der häufigste Grund für eine Notaufnahme. Wenn die Patient*innen nicht versprechen können, sich nichts anzutun, werden sie sofort bei uns aufgenommen. Wir sind für Notfälle in ganz Oberbayern zuständig. Unsere Notaufnahme ist Tag und Nacht offen, 24 Stunden und 365 Tage im Jahr. Wenn sich Eltern aber akut Sorgen um Leib und Leben der Tochter oder des Sohns machen, brauchen wir keine Einweisung. Vor Ort entscheiden wir dann, ob wir sofort aufnehmen oder ob es noch etwas Zeit hat und beraten die Eltern, wie es weitergehen kann.
Was wünschen Sie sich von den Niedergelassenen?
Wir wünschen uns vor allem eine höhere Awareness. Bei der Magersucht landen die Mädchen oft zunächst bei den Gynäkolog*innen, weil bei ihnen die Menstruation ausgeblieben ist, oder bei Kinderärzt*innen wegen der Gewichtsabnahme. Wir würden uns freuen, wenn diese dann auch die gedankliche Verbindung zur Magersucht ziehen und explizit fragen würden, ob sie in letzter Zeit viel abgenommen haben. Nicht selten wird in solchen Fällen zunächst die Pille verschrieben, weil niemand an die Magersucht denkt. Ebenso sind Kinderärzt*innen häufig verunsichert, an welcher Stelle sie wie eingreifen sollten. Hier stehen wir gerne zu einem engen kollegialen Austausch zur Verfügung!
Stephanie Hügler
MÄA 05/2024 vom 24.02.2024