Leitartikel

Lehren aus der Pandemie, Zu späte Operationen?

Fast zwei Jahre lang haben sich Politik und Gesellschaft vor allem Sorgen um Covid-19-Patient*innen gemacht. Andere Erkrankungen gerieten dabei aus dem Fokus – teilweise womöglich mit gravierenden Folgen, wie der Vorsitzender der Vereinigung der Bayerischen Chirurgen, Dr. Detlef Krenz, im Interview mit den MÄA befürchtet.
Lehren aus der Pandemie, Zu späte Operationen ?
Lehren aus der Pandemie, Zu späte Operationen?

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Herr Dr. Krenz, mussten Sie in der Pandemie von sich aus Notfallpatient*innen abweisen?

Nein, der Betrieb in den Notaufnahmen ist die ganze Zeit regulär gelaufen – bei uns genauso wie in anderen Kliniken. Die Flexibilität unserer Organisationen in den Kliniken und unseres Personals hat gewährleistet, dass die Notfallversorgung nie gefährdet war. Allerdings gab es im ersten Lockdown viele elektive Operationen, die verschoben wurden. Sowohl wir von chirurgischer Seite als auch unsere kardiologischen Kolleg*innen haben gemerkt, dass Notfallpatient*innen weniger häufig gekommen sind. Das Gleiche galt für den zweiten Lockdown im Herbst und Winter 2020/2021.

Im ersten Lockdown hatten die elektiven Patient*innen aber keine Chance, sich über einen regulären Weg bei Ihnen vorzustellen, oder?

Genau. Wie alle anderen Kliniken auch hatten wir damals keine Sprechstunden und kein elektives OP-Programm. Wir haben nur Notfälle versorgt und versucht, onkologische Patient*innen weiter zu betreuen – zumindest diejenigen, die keine Intensivkapazitäten in Anspruch genommen haben. Das galt für den ersten Lockdown bis Mai, aber aufgrund der Personalknappheit auch im zweiten Lockdown von Oktober bis Januar. Erst im Februar ging es bei uns langsam wieder mit elektiven Operationen los.

Als Viszeralchirurg entfernen Sie auch unter Notfallbedingungen unter anderem Gallenblasen und operieren viele akute Blinddarmentzündungen. Wie haben sich die beiden Lockdowns auf diese Operationen ausgewirkt?

In der Vergangenheit mussten wir nur bei einem Prozent der Gallenblasenentfernungen die dabei übliche minimal-invasive Operation beenden und auf eine offene Operation umsteigen. In der Pandemiezeit ist diese Zahl auf mehr als das Dreifache angestiegen – auf 3,5 Prozent. Dies trotz unserer großen Expertise – wir operieren mit ca. 400 Eingriffen jährlich in München die meisten Gallenblasen – und trotz unserer etablierten Standards. Wir interpretieren dies so, dass sich die Patient*innen nicht mehr in die Kliniken und die Notaufnahmen getraut haben, sondern mit ihren Beschwerden bis zum allerletzten Moment gewartet haben. Dies deckt sich mit dem, was uns Kardiolog*innen und andere Notfallmediziner*innen berichten.

Was waren aus Ihrer Sicht die Ursachen für die vermehrten Komplikationen an der Gallenblase?

Wir hatten einfach mehr fortgeschrittene Befunde, mehr Fälle von akuter Cholezystitis, die wir mit minimalinvasiven Instrumenten nicht mehr operieren konnten. Aufgrund unserer guten Erfahrungen damit haben wir zwar auch im Lockdown alle Operationen minimal-invasiv begonnen. Aber wenn wir eine solche nicht sicher beenden können, müssen wir auf eine offene OP umsteigen. Das Gleiche galt für Blinddarmentzündungen, die zum OP-Zeitpunkt ebenfalls oft weit fortgeschritten waren. Gott sei Dank gab es bei uns in dieser Zeit keine vermehrten schweren Komplikationen. Aber nach einer offenen Operation müssen die Patient*innen meist länger im Krankenhaus bleiben, und sie haben ein höheres Risiko für Wundheilungsstörungen.

Gab es auch noch andere Bereiche, auf die der Lockdown Auswirkungen hatte?

Leider ja. Daten vom wissenschaftlichen Dienst der AOK (WIdO) etwa zeigen, dass es in den Lockdownphasen letztes Jahr etwa 20 Prozent weniger Darmkrebsdiagnosen gab. Das entspricht etwa 12 bis 13 Prozent weniger Diagnosen im Jahresdurchschnitt. Diese Zahlen decken sich mit anderen etwa vom Landesamt für Gesundheit oder vom Tumorzentrum Regensburg / Ostbayern, die beim Bayerischen Chirurgenkongress Ende Juli vorgestellt wurden. Wir fürchten, dass die Diagnosen dadurch erst in einem späteren Stadium gestellt werden – natürlich mit schlechteren Überlebenschancen. Gerade in den frühen Darmkrebsstadien hatten wir während der Pandemie deutlich weniger Operationen als vorher. Das ist auch gut nachvollziehbar, weil die Erkrankung in diesen Stadien oft keine Symptome verursacht und meist nur bei der Vorsorgekoloskopie entdeckt wird. Vergleichbare Daten gibt es auch für Brustkrebs, dessen Diagnosen im Jahresmittel um fünf Prozent zurückgegangen sind.

Hätte es aus Ihrer Sicht eine Alternative gegeben?

Ich glaube schon. Es gab aus meiner Sicht ein Kommunikationsproblem: Den Patient*innen wurde von der Politik, aber teilweise auch von uns Ärzt*innen, der Eindruck vermittelt, dass sie auf keinen Fall ins Krankenhaus gehen sollen, weil sie sich dort mit Covid-19 anstecken könnten. Nicht-Covid-Patient*innen hatten in der Pandemie kaum eine Öffentlichkeit und wurden daher weniger wahrgenommen. Das müssen wir in Zukunft besser machen. Natürlich brauchen Covid-Patient*innen eine optimale, schnelle akute Versorgung. Aber auch allen anderen Patient*innen muss man vermitteln, dass der Notfallbetrieb weitergeht und sie sich bei gravierenden Problemen sofort in der Notaufnahme vorstellen sollen. Im Bereich der Onkologie ist es aus meiner Sicht sehr wichtig, die Patient*innen zusammen mit den niedergelassenen Kolleg*innen noch intensiver auf die Vorsorgeuntersuchungen hinzuweisen, die im letzten Jahr verpasst wurden.

Wie blicken Sie auf Herbst und Winter in diesem Jahr?

Ich gehe davon aus, dass wir alle gut vorbereitet sind. Wir haben viel gelernt, und es gibt inzwischen gute Kontakte und Netzwerke zwischen den Kliniken. Ich hoffe sehr, dass wir im chirurgischen Bereich nicht wieder zurückstecken müssen, bin aber optimistisch, weil inzwischen Lehren aus der Pandemie gezogen wurden. Vielleicht binden kommende Covid-19-Patient*innen auch nicht ganz so viele Intensivkapazitäten wie in den ersten Wellen, weil sie im Durchschnitt jünger sind. Gerade vor dem Hintergrund, dass wir in den Kliniken auch Nicht-Covid-Patient*innen gut und zeitgerecht versorgen möchten, finde ich es sehr sinnvoll, dass wir mittlerweile neben der Inzidenz auch andere Parameter wie Hospitalisierungsrate und Intensivkapazitäten berücksichtigen.

Bei der diesjährigen Jahrestagung der bayerischen Chirurg*innen gab es eine Veranstaltung mit dem Titel „Lehren aus der Pandemie“ (s. Kasten und QR-Code). Welche Lehren wären noch zu ziehen – außer dass wir alle besser kommunizieren sollten?

Aus meiner Sicht hat gerade in München die Zusammenarbeit der Kliniken untereinander gut funktioniert – etwa was die unbürokratische Hilfe bei der Versorgung mit Verbrauchsgütern wie Masken oder Schutzanzügen angeht. Das ist eine wichtige Strategie für künftige Pandemiewellen. Es ist aber auch wichtig, den Leuten klarzumachen, dass das Risiko, sich in den Kliniken mit Covid-19 zu infizieren, extrem gering ist. Mittlerweile sind Infektionspatient*innen überall sehr gut abgeschottet. Die teilweise nachvollziehbare Angst der ersten drei Wellen ist aktuell nicht mehr berechtigt. Wir alle sind gut darauf vorbereitet, alle Arten von Notfällen schnell und sicher zu versorgen.

Wie können Niedergelassene auf ihre Patient*innen einwirken?

Sie sollten zum einen explizit auf Vorsorgeuntersuchungen hinweisen – insbesondere deshalb, weil die frühen Stadien etwa bei Darmkrebs mit einem überschaubaren Aufwand – häufig „nur“ durch eine Operation – geheilt werden können. Wir hoffen, dass die Zeit jetzt genutzt wird, die Untersuchungen nachzuholen. Ob und wie viele zusätzliche Tote es durch bisher versäumte Untersuchungen gab und geben wird, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Zum zweiten sollten sie darstellen, dass bei entsprechenden Beschwerden nicht gezögert werden sollte, auch akut eine Notaufnahme aufzusuchen.

Was wünschen Sie sich von der Politik für Herbst und Winter?

Ich möchte mir ungern anmaßen, dazu Empfehlungen zu geben. Aber es ist wichtig, dass die Politik weiß: In den Kliniken sind unsere Patient*innen sicher und werden gut versorgt, auch in Phasen einer akuten Welle. Entscheidend ist jedoch auch, dass wir in Zukunft nicht wieder Kapazitätsprobleme wegen mangelnder Pflegeplätze auf den Intensiv- und Pflegestationen bekommen. Durch diesen großen Engpass wurden in den ersten drei Wellen immer wieder Pflegekräfte aus dem OP und von den Stationen abberufen, um auf den Covid- und Intensivstationen auszuhelfen. Das bereits bekannte Problem des Pflegekräftemangels wurde durch die Pandemie katalysiert und offenkundig. Auch wenn es dafür wahrscheinlich keine schnelle Lösung gibt: Daran muss dringend gearbeitet werden. Ich glaube aber, dass das Gesundheitsminister Holetschek sehr bewusst ist.

Einige Kolleg*innen befürchten, dass durch die Pandemie weitere Pflegekräfte verloren gegangen sind. Können Sie das auch für Ihre Klinik bestätigen?

Bei uns hat sich zum Glück nicht mehr verändert als vorher. Zwar merkt man auch bei uns eine gewisse Müdigkeit und Erschöpfung, denn die Belastung war zeitweise extrem. Es gibt Zahlen von der internistischen Gesellschaft für Intensivmedizin, dass sich 30 Prozent der Intensivpflegekräfte mit dem Gedanken tragen, diesen Bereich zu verlassen. Aus meiner Sicht müssen wir daher vor allem versuchen, mehr Personal zu bekommen, um die vorhandenen Pflegekräfte zu entlasten. Dieses ist aktuell leider kaum verfügbar. Pflegekräfte müssen besser bezahlt werden. Es geht aber auch um Wertschätzung. Früher waren Pflegekräfte im Krankenhaus sehr angesehen. Heute interessieren sich zu wenig junge Menschen für diesen schönen und wertvollen Beruf. Das Gleiche gilt für Pflegekräfte in Alten- und Pflegeheimen oder die Betreuung von Menschen mit einer Behinderung. Auch günstige, familienfreundliche Arbeitszeitregelungen spielen eine Rolle. Diese können Sie aber nur gewährleisten, wenn Sie das entsprechende Personal dafür finden.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 22 vom 22.10.20.21