Lebensstilmedizin statt Übergewicht und Folgeproblemen
Herr Prof. Melchart, Sie und Ihr Team gehen davon aus, dass jeder Mensch über einen inneren Arzt verfügt. Was ist darunter zu verstehen?
Neben der heteronomen Heilung durch den Arzt, der von Außen kommt, gibt es auch eine autonome Heilung. Im Krankheitsfall hilft sie den Menschen über ihre Selbstheilungskräfte dabei, sie zur Gesundheit zurückzuführen. Das bezeichnen wir als „inneren Arzt“. Ein innerer Arzt kann aber auch schon tätig sein, bevor eine Krankheit entsteht, indem „er“ den Menschen zu organismischen, seelischen und geistigen Eigenleistungen motiviert, um ihn innerhalb der eigenen Zielwerte gesund zu erhalten.
Können Patienten also auch ohne Arzt ihre eigene Gesundheit selbst einschätzen und zur eigenen Gesundung beitragen?
Natürlich können sie das. Es wäre schlimm, wenn wir immer unbedingt einen äußeren Arzt bräuchten. Unsere inneren Kräfte zum Gesundbleiben sind eigentlich der Normalzustand. Im Rahmen eines Zusammenspiels aus genetischen Anlagen, Sozialisierung, Erziehung und anderen Einflüssen können wir weitere Gesundheitskompetenzen erlernen. Es war aus meiner Sicht die letzte große Wohltat des früheren Gesundheitsministers Gröhe, die Gesundheitskompetenz der Bürger zu stärken und politisch zu fördern.
Wie bleiben Menschen mit Hilfe des inneren Arztes gesund?
Viele chronische Erkrankungen haben sieben bis zehn Jahre Vorlaufzeit, bis sie manifest werden. So z. B. der Diabetes mellitus Typ 2, der bei gesunder Lebensweise rechtzeitig verhindert werden kann. Doch aktuell investieren wir in Deutschland immer noch zu wenig in ein professionelles, proaktives System, das Menschen befähigt, solche Chronifizierungskarrieren zu vermeiden. Wenn Diabetes auftritt, können wir nur noch reagieren. Kein Kollege aus der Diabetologie, der Kardiologie oder der Onkologie kann damit zufrieden sein, wenn er sieht, wie viele Erkrankungen auch verhindert hätten werden können. Schließlich bekommen wir epigenetisch ja immer wieder bestätigt, dass schlechte Gene nicht automatisch zu einer Erkrankung führen müssen. Seit einiger Zeit bieten Sie am KoKoNat ein Programm zum Individuellen Gesundheits-Management speziell für übergewichtige und adipöse Patienten an.
Seit einiger Zeit bieten Sie am KoKoNat ein Programm zum Individuellen Gesundheits-Management speziell für übergewichtige und adipöse Patienten an. Worum geht es dabei?
Wir fördern damit Einstellungs- und Verhaltensmodifikationen, die schließlich zu einem vermutlich gesundheitsfördernden Lebensstil führen sollen. Ich sage vermutlich, weil dies ja letztlich immer von unserem aktuellen Kenntnisstand abhängt. Bei der Ernährung geht es zum Beispiel darum, einen „Ölwechsel“ vorzunehmen, also gesunde Fette und Öle zu sich zu nehmen und die ungesunden zu vermeiden. Außerdem können wir lernen, das eigene Körpergewicht zu regulieren. Dazu vermitteln wir am KoKoNat zum Beispiel Grundkenntnisse darüber, welche Lebensmittel besonders energiedicht sind und welche eher energiearm. Wie werde ich satter? Indem ich zum Beispiel schwerpunktmäßig eine ballaststoffreiche Ernährung anstrebe, etwa über die Grundregel „five a day“, also dreimal am Tag Gemüse- und zweimal Obstportionen.
Wie vermitteln Sie die Lerninhalte innerhalb dieses Programms?
Wichtig ist, sie nicht nur theoretisch zu vermitteln, denn das gelingt beim Fahrradfahren ja auch nicht. Stattdessen braucht es ganz praktische Anleitungen, die über ein modernes Konzept wie Blended Learning (Deutsch: Integriertes Lernen) vermittelt werden. Dabei verknüpft man Kurse, die unter Anleitung in der Gruppe durchgeführt werden, mit ortsunabhängigen Medien, also Internettechnologien. Diese sind arbeits- und lebensweltbegleitend. Früher hat man ausschließlich mit Kursen gearbeitet, also zum Beispiel mit Lernküchen oder Nordic-WalkingKursen. Solche acht- bis zehnmal an Kurorten durchgeführten Stunden haben aber oft keine lang anhaltende Wirkung. Die Menschen brauchen eine viel intensivere Unterweisung. Das Blended Learning ist dabei eine gute, durch Evidenz gesicherte, Vermittlungsweise. Die Evidenz ist hier wichtig, denn bei der Verordnung von Medikamenten entscheide ich mich als Arzt ja auch in der Regel für solche, deren Wirkung am ehesten evidenzbasiert ist.
Wie einfach ist es, Verhaltensänderungen herbeizuführen? Schließlich füllen Ratschläge zum Abnehmen als Dauerbrenner ganze Bücher und Zeitschriften.
Natürlich muss man Kompromisse eingehen zwischen dem, was für den einzelnen Menschen zumutbar ist, und dem, was optimal wäre. Wir sehen aber, dass man die Patienten mindestens ein Vierteljahr lang intensiv betreuen und danach alle zwei oder drei Monate für einen halben Tag im Rahmen eines Refresher-Angebots schulen muss. In der Zwischenzeit hilft eine Betreuung über Web-Technologien, mit denen man auch über große Entfernungen hinweg ein „distant lifestyle-counseling“ durchführen kann. Dadurch erinnern sich unsere Patienten an die Inhalte, wenn sie zu Hause mal wieder der innere Schweinehund überfällt. Es ist ein großer Vorteil wenn man den Gesundheits-Coach bei Problemen auch mal per Telefon oder Internet-Telefonie erreicht und sich dazu nicht immer gleich zwei Stunden ins Auto setzen muss.
Welche Rolle spielen andere Technologien im Rahmen des Programms?
Über eine digitale Selbst-Vermessung und Lebens-Protokollierung erhalten unsere Patienten eine Rückmeldung über das eigene Verhalten und damit mehr Kontrolle über sich selbst. Wie fühlen sich 100 Schritte pro Minute an? Welchen Effekt haben sie auf mein Herz-Kreislauf-System? Mit einem Schrittzähler lernt jeder, das eigene Verhalten zu beobachten – egal, ob es sich um einen billigen mechanischen Schrittzähler handelt oder um einen elektronischen.
Sie haben eben schon einige konkrete Maßnahmen genannt, wie etwa den Ölwechsel und den Schrittzähler. Was sollte noch konkret geschehen?
Bei der Gewichtsregulierung helfen zum Beispiel bewusst durchgeführte Entlastungstage. Wie kann ich stundenweise mein Essverhalten ändern, indem ich vielleicht auf das Abendessen oder auf das Frühstück verzichte? Wie ist es, wenn ich 14 oder 16 Stunden am Stück nur Flüssiges zu mir nehme und nur die restlichen acht oder zehn Stunden zum Essen nutze? Solche Maßnahmen helfen nachweislich, das Gewicht zu regulieren. Wir wissen heute ja, dass die Glykogen-Vorräte nicht innerhalb von 24 Stunden verbraucht werden, sondern dass die ketogene Stoffwechselumstellung schon nach etwa 12 bis 14 Stunden beginnt – bei Frauen früher, bei Männern etwas später. Damit leitet das Gehirn Fastenvorgänge ein.
Ist es besser, auf das Frühstück oder auf das Abendessen zu verzichten?
Es gibt nicht die eine Empfehlung für alle. Wir helfen den Menschen individuell, entsprechend ihres Chrono-Rhythmus und ihrer Vorlieben: Der Eine kann morgens spielend mit einer Tasse Kaffee auskommen. Stattdessen sitzt er gern abends mit seiner Familie am Tisch. Bei Anderen ist es genau anders herum. Es gibt also viele Möglichkeiten, die Menschen intensiv diätetisch zu schulen, wie sie gesunde Stoffwechselvorgänge initiieren können. Klar ist: Mit der heutigen 24 Stunden Verfügbarkeit von Ernährung überlasten wir unseren Stoffwechsel. Bei uns können die Patienten individuell ausprobieren, was für sie am besten passt – daher heißt unser Programm auch „Individuelles Gesundheits-Management“. Außerdem muss jeder Einzelne für sich die Lebensmittel mit niedriger Energiedichte finden, die ihm schmecken. Das ist ein langfristiger Prozess, den jeder Einzelne durchlaufen muss.
Wie können Ihre Patienten die Lebensmittel korrekt einschätzen?
Dazu nehmen wir elektronische Ernährungs-Tagebücher mit Smileys zu Hilfe. Bei einem Tagesbedarf von beispielsweise 2.400 Kilokalorien stehen einem Patienten 24 Smileys à 100 Kilokalorien zur Verfügung. Entsprechend weiß er dann: Wenn ich 32 Smileys verbrauche, liege ich um 800 Kilokalorien über meinem Soll. Die Smileys gibt es außerdem in Rot, Gelb und Grün, je nach Energiedichte. Natürlich kommt es vor, dass es nicht gelingt, die Smileys und damit die maximale Kalorienzahl einzuhalten. Dann liegt man zum Beispiel plötzlich bei 4.000 Kilokalorien, weil man am Abend vorher gefeiert hat – schließlich sind wir alle nur Menschen mit sozialen Bedürfnissen. Man kann aber auch lernen, dies durch bewusste Entlastungsstrategien wie etwa Entlastungstage oder auch längere Fastenzeiten wieder auszugleichen.
Sie haben mehrmals das momentan so populäre Intervallfasten erwähnt...
Das ist ein Beispiel, aber es gibt auch viele andere Möglichkeiten. Man kann auch mal sieben oder zehn Tage am Stück nur Flüssigkeit zu sich nehmen und dann bei Bedarf wieder das Intervallfasten praktizieren. Bei massivem Übergewicht ist es vielen Patienten wichtig, dass sie schnell, am besten innerhalb von drei Monaten, Erfolge sehen. Das ist natürlich besser über eine längere Fastenzeit erreichbar. Wenn man solche Edukationsstrategien außer Acht lässt und sich nur an wissenschaftlichen Daten orientiert, hat man als Arzt wenig Erfolg. Gerade was die langfristige Gewichtsnormalisierung oder -stabilisierung betrifft, sollte man den Patienten daher eine Vielzahl an Strategien vermitteln.
Ist Ihr Programm zum Individuellen Gesundheits-Management nur etwas für Übergewichtige?
Nein, wir wenden das IGM auch bei Stressüberbelastung und zur Förderung der Patientenkompetenz bei Krebserkrankungen an. Das Übergewicht zu bekämpfen ist aber ein primäres Ziel unserer Arbeit. Für kardiometabolische Volkskrankheiten verordnen wir im Alltag die meisten Medikamente – haben aber dabei kein Medikament gegen ihre eigentliche Ursache – das Übergewicht selbst! In einer 2017 im New England Journal veröffentlichten Studie konnte gezeigt werden, dass in 195 erfassten Ländern über 25 Jahre hinweg der BMI ganz deutlich in Zusammenhang mit den wichtigsten Zivilisationserkrankungen stand. Das Übergewicht ist daher für mich die größte gesundheitliche Herausforderung, vor der wir derzeit weltweit stehen. Die Adipositas müssen wir als Krankheit betrachten, und nicht nur als kleinen Zivilisationsschaden. Wir brauchen daher ein modernes Adipositas-Management, so wie es das IGM darstellt.
Wie arbeiten Sie mit adipösen Patienten?
Aktuell begleiten wir ein Modellvorhaben der AOK Bayern, das das IGM bei AOKVersicherten mit Adipositas vom Grad 1 oder 2 und einem entsprechenden Diabetes-Risiko ein Jahr lang einsetzt. Auch das Thema Stress wird mit einer eigenen Studie adressiert. Die Frage ist doch: Müssen wir tonnenweise Tranquilizer verordnen und DSM-Diagnosen abwarten, bis etwas passiert? Oder können wir Menschen, die zum Beispiel emotional damit überfordert sind, mit sich oder anderen umzugehen, frühzeitig über ein Lebensstil-Management zur Stressreduktion ansprechen? Wir können die Menschen dabei unterstützen, ihre Emotionen selbst zu regulieren, so wie wir sie lehren, ihr Körpergewicht selbst zu regulieren. Auch hierbei können wir die Einzelnen in ihrer individuellen Gesundheitskompetenz, in ihrem Stressmanagement, stärken.
Welche Patientengruppen sprechen Sie außerdem mit Ihrem Programm an?
Es geht nicht nur darum, festzustellen, ob der BMI in Ordnung ist oder jemand einen zu großen Bauchumfang hat – mehr als 94 cm beim Mann und 80 cm bei der Frau – sondern es geht auch um die eben genannten medizinischen Risiken. Solche Risiko-Patienten findet man ja sehr häufig in den Praxen. Ihnen können wir mit Lebensstiltrainings, einer Kompetenz- und Autonomieförderung helfen. Die niedergelassenen Kollegen haben oft zeitliche Probleme, solche Schulungen durchzuführen, und die meisten haben es auch nicht gelernt. Manche niedergelassenen Kollegen sind sogar der Meinung, dass das alles nichts bringt.
Wie stehen Sie zu dieser Meinung?
Verschiedene Versuche, das Übergewicht zu senken sind aus meiner Sicht bisher vor allem daran gescheitert, dass wir nicht genügend Zeit und Einfluss auf die Menschen hatten. Von Seiten der Gesundheitswissenschaft gibt es zu diesem Thema aber viel Evidenz. Aus meiner Sicht gab es bisher viel zu wenig gute Vermittlungskonzepte. Ich denke: Man muss die Menschen dabei an die Hand nehmen. Ein Übergewicht zu kontrollieren ist eine Lebensaufgabe, ein Kochkurs alleine genügt nicht. Auch als Kollegen müssen wir das lernen – sonst werden wir immer nur reaktiv mit dem Bekämpfen von Symptomen der Folgeschäden beschäftigt sein. Und das ist weder intellektuell noch ethisch vertretbar.
Kontakt für interessierte Ärztinnen und Ärzte: Beatrice.Bachmeier@tum.de
Das Gespräch führte Stephanie Hügler