Interdisziplinäre Medizin in der Orthoplastik, Auf eigenen Füßen
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Herr Prof. Mehlhorn, Herr Prof Megerle, bei welchen Erkrankungen oder Verletzungen arbeiten Sie beide zusammen?
Mehlhorn: Schwerpunkte sind das diabetische oder neuropathische Fußsyndrom mit den entsprechenden Defekten und Verletzungen nach schweren Unfällen.
Megerle: Unser großes Thema ist die Extremitätenrekonstruktion. Die Plastische Chirurgie kommt auch bei Wundheilungsstörungen ins Spiel, manchmal sogar nach Routineeingriffen. Trauma und diabetischer Fuß sind aber die häufigsten Fälle.
Was wird konkret gemacht?
Megerle: Unsere Zusammenarbeit ist besonders bei gleichzeitigen Problemen an verschiedenen Gewebearten relevant, also z.B. an Knochen und Weichteilen. Die Facharztausbildung in Deutschland ist weniger organspezifisch als vielmehr gewebetypspezifisch: Orthopäd*innen sind die Spezialisten für Knochen und Gelenke, Plastiker*innen für die Weichteile.
Mehlhorn: Häufig müssen wir in der Orthopädie erst einmal Fehlstellungen an den Gelenken korrigieren, damit der von Prof. Megerle verwendete Gewebelappen gut einheilen kann. Entscheidend ist das gute Zusammenspiel zwischen Stabilität, orthograder Stellung des Fußes und plastischer Deckung. Alles drei muss gewährleistet sein. Das klappt oft nur durch Zusammenarbeit im Team.
Warum arbeiten dann nicht alle Spezialist*innen in Deutschland zusammen?
Megerle: Weil es aufwändig ist, kompliziert zu organisieren und in unserem DRG-System nicht abgebildet wird. Bei interdisziplinärer Zusammenarbeit im Krankenhaus gibt es sehr häufig Diskussionen darüber, wer das Geld denn nun bekommt. In unserem Haus teilen wir die Pauschalen so auf, dass alle zufrieden sind. An großen Kliniken ist das oft schwieriger. Für die plastische Chirurgie als Konsilfach ist das Pauschalsystem fast immer höchst problematisch. Zum Glück haben wir hier eine ganz gute Lösung und müssen uns nicht darüber streiten.
Gibt es noch weitere Vorteile des interdisziplinären Arbeitens?
Mehlhorn: Als Spezialisten für die beiden Gewebe betrachten wir das Problem aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln. Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung, und wenn man beide berücksichtigt, kommt am Ende etwas Gutes dabei heraus. Beim diabetischen Fußsyndrom ist sowieso immer eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig: Neben plastischen Chirurg*innen werden z.B. immer noch Gefäßchirurg*innen, Wundversorger*innen und Schuhmacher*innen benötigt. Bei schwierigen Krankheitsbildern wird meiner Ansicht nach die Tendenz immer mehr zum Interdisziplinären gehen, weil wir nicht alle Kompetenzen in einer Person vereinigen können.
Gibt es weitere Herausforderungen?
Mehlhorn: Berufspolitisch müssen wir es schaffen, dass interdisziplinäre Operationen entsprechend vergütet werden. Eine Amputation, die Alternative zu unserem Vorgehen, wird derzeit extrem gut bezahlt – bei gleichzeitig sehr kurzen Liegezeiten. Unsere Patient*innen hingegen sind oft vier bis sechs Wochen im Krankenhaus, und am Schluss kann es sein, dass sie trotzdem zur Amputation müssen. Das System ist ungerecht und muss daher verändert werden – für unsere Patient*innen. Denn Amputationen gehen mit einer Mortalität von 50 bis 60 Prozent einher!
Megerle: Diese Zahlen sind sogar eher etwas zu optimistisch. In manchen Studien wird beschrieben, dass bei einer Majoramputation wegen Diabetes zwei Drittel der Patient*innen innerhalb der nächsten fünf Jahre tot sind. Die Letalitätsraten sind also höher als etwa bei einem Kolonkarzinom! Wir glauben daher, dass das Vermeiden von Amputationen eine lebensverlängernde Maßnahme sein kann. Vielen Kolleg*innen ist der Zusammenhang in dieser Dramatik gar nicht so bewusst.
Warum sterben so viele Menschen nach einer Amputation?
Megerle: Das kann man nicht genau sagen. Bei einem schweren Diabetes sind natürlich nicht nur Beine oder Füße betroffen, sondern auch andere Organsysteme. Und natürlich haben derart kranke Menschen eine verkürzte Lebenserwartung und sterben früher. Nach einer Amputation werden sie aber zusätzlich immobil. Und weil sich diese Schwerkranken dann meistens nicht mehr wie Zwanzigjährige nach einem Motorradunfall selbst aus dem Bett mobilisieren können, drohen durch das ständige Liegen Wundheilungsstörungen, Thrombosen und weitere Komplikationen. Durch aufwändige interdisziplinäre Operationen im Team wie bei uns konnte eine Gruppe aus Südkorea in einer Studie die 5-Jahres-Letalitätsrate auf nur 13 Prozent senken. Plötzlich haben 87 Prozent der Studienteilnehmer*innen die ersten fünf Jahre überlebt! Dieses Ergebnis motiviert uns, dieser unterversorgten Bevölkerungsgruppe eine andere Lösung anzubieten. Natürlich kann man diese Studie nicht so einfach verallgemeinern, und vielleicht muss man die Zahl der Überlebenden in der Praxis etwas nach unten korrigieren. Aber der Effekt ist beeindruckend.
Seit wann arbeiten Sie beide zusammen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Mehlhorn: Wir sind seit gut zwei Jahren ein Team. In dieser Zeit konnten wir viele Patient*innen vor einer Amputation bewahren. Ich sehe immer wieder, dass sich das für die Patient*innen lohnt, auch wenn das in Statistiken bei unseren inhomogenen Patientengruppen schwer zu beweisen ist. Zum Beispiel habe ich heute einen 50-jährigen Patienten gesehen, dessen Fuß im Sommer 2022 in das Mähwerk eines großen Industrierasenmähers geraten ist. Dabei wurde ihm die komplette rechte Fußsohle abgeschnitten. Mehrere Knochen waren gebrochen, die Weichteile lagen frei, und die Wunde war mit Gras und Erde verschmutzt. In einer gemeinsamen Operation konnten wir die Wunde säubern, die Knochenbrüche versorgen und die komplette Fußsohle ersetzen. Dieser Patient kommt jetzt zur orthopädischen Maßschuhversorgung. Ich behaupte mal: In 90 Prozent aller Krankenhäuser in Deutschland wäre er mit einer Amputation behandelt worden.
Megerle: Die Operation war technisch sehr anspruchsvoll, aber der Patient hat jetzt zwei Füße, auf denen er selbst gehen und die er komplett bewegen kann. Der verletzte Fuß ist voll belastbar und weitgehend schmerzfrei. Auch wenn es mittlerweile tolle Prothesen und technische Möglichkeiten gibt, ist das doch ein Ziel, für das zu kämpfen sich lohnt!
Wie hat Ihr Geschäftsführer auf den Vorschlag einer Zusammenarbeit reagiert?
Megerle: Er fand es gut, weil es nicht nur den Patient*innen nutzt, sondern auch effizient ist. Aus meiner Sicht wird in der Medizin viel zu wenig patientenzentriert gedacht. Ein derart schwer verletzter Patient geht doch vor allem deshalb ins Krankenhaus, weil er seinen Fuß gerettet haben möchte. Wer das macht, ist ihm letztlich egal. Die gesamte Medizin sollte patientenorientierter werden. Diesen Weg gehen wir recht konsequent. Unserer Geschäftsführung ist wichtig, dass das Haus als Ganzes funktioniert. In einem Teamsystem geht das besser, als wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht.
Nutzen Sie zur Kommunikation bestimmte digitale Hilfsmittel, oder funktioniert alles mehr oder weniger auf Zuruf per Telefon?
Megerle: Wir sind ein voll digitalisiertes Krankenhaus, aber wir Subspezialisten operieren sowieso mehr oder weniger nebeneinander und sehen uns täglich. Dadurch können wir vieles auf dem kurzen Dienstweg klären.
Mehlhorn: Wir haben auch eine interdisziplinäre Sprechstunde. Aber selbst wenn ein Patient außerhalb dieser Sprechstunden kommt, ist der Weg zum Kollegen ins Nachbarzimmer nicht weit.
Kennen Sie andere Kliniken deutschlandweit und international, die ähnlich arbeiten wie Sie?
Mehlhorn: Aus meiner Sicht tun das viele berufsgenossenschaftliche (BG-)Kliniken. Beim Thema Trauma ist z.B. Ludwigshafen dafür recht bekannt. Ein diabetisches Fußsyndrom wird dort allerdings weniger behandelt.
Megerle: Einer der Vorreiter beim Konzept der Orthoplastik ist der Amerikaner Scott Levin, der an der University of Pennsylvania ein Extremitätenzentrum gegründet hat. Auch dort ist die Idee, dass die Patient*innen kommen, um ihr Bein zu retten. Dafür finden sie dort alles Nötige.
Was raten Sie Kolleg*innen, die ein ähnliches Modell planen?
Mehlhorn: Der ständige Austausch von Informationen ist wichtig. Dafür dürfen die Wege nicht zu lang sein. Wenn man jedes Mal auf einen Rückruf warten muss, tut man sich schwer.
Megerle: Es braucht zudem Zeit, um sich persönlich kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Man muss oft erst verstehen lernen, wie der andere denkt und ein Problem angeht. Um eine gemeinsame Lösung zu finden, mit der alle zurechtkommen, muss man am Anfang viel miteinander sprechen. Zudem sollte man sich im Vorfeld ehrlich Gedanken über Geld machen, denn beim Geld hört die Freundschaft bekanntlich ja oft auf. Wenn man ein gutes Konzept hat, auf die eigene Kompetenz und die der anderen vertrauen kann, wird es funktionieren.
Gibt es Pläne für die Zukunft?
Megerle: Die Patient*innen sollten uns künftig beide schon bei der ersten Sprechstunde sehen. Wir möchten vom klassischen Board-Konzept wegkommen, bei dem sie nur einer sieht, sie den anderen vorstellt und dann über sie entscheidet – oft ohne Anwesenheit der Betroffenen. Im Idealfall sollten die Patient*innen nur einmal kommen müssen und gleich alle Beteiligten treffen. Dann sollte gemeinsam entschieden werden. Das ist organisatorisch natürlich recht anspruchsvoll – aber patientenzentriert.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA Nr. 06/2023 vom 11.03.2023