Integrative Medizin, kein Entweder-oder
Foto: shutterstock
Herr Schmidt, was ist integrative Medizin?
Es handelt sich dabei um die sinnvolle Kombination aus Schulmedizin und Komplementärmedizin. Im Gegensatz zu alternativmedizinischen Verfahren sind komplementärmedizinische Verfahren in der Medizin etabliert. Es gibt dazu schon einen großen Erfahrungsschatz und viele wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse. Anhand des individuellen Patientenfalls wird entschieden, was sinnvoll ist. Bei einer akuten Erkrankung wie einem Herzinfarkt hat die Schulmedizin natürlich absolut Vorrang. Manche chronischen Erkrankungen können rein schulmedizinisch aber nicht optimal behandelt werden.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
In unserem Krankenhaus haben wir viele Patient*innen mit chronisch entzündlichen Erkrankungen wie z.B. rheumatoider Arthritis. Trotz schulmedizinischer Basistherapie sind diese Patient*innen meist nicht beschwerdefrei oder haben Nebenwirkungen. Über eine entzündungsarme, arachidonsäurearme Kost, hoch dosierte Omega-3-Fettsäuren oder mit Weihrauch können wir bei ihnen viel erreichen. Bei entzündeten Fingergelenken helfen Rapskernkneten, Güsse oder eine mikrobiologische Darmbehandlung, um das Immunsystem zu beeinflussen. Hinzu kommt die physikalische Therapie z.B. mit manueller Therapie, osteopathischen Techniken, Reflexzonentherapie. Wichtig dabei ist: Nicht für jede*n passt alles. Die Auswahl der Therapien hängt immer auch von der Expertise der Behandler*innen und der Wahl der Patient*- innen ab. Man muss dies immer individuell gemeinsam im Gespräch entscheiden. Bei den Patient*innen geht es darum, welche Ressourcen sie haben. Wir regen sie grundsätzlich zu einem gesunden Lebensstil an, um Selbstregulationsprozesse zu ermöglichen.
Die integrative Medizin eignet sich grundsätzlich für Schmerzerkrankungen aller Art, auch etwa für Polyneuropathie, Post-Zoster-Neuralgie oder Migräne. Mit Schröpfen, Neuraltherapie und Blutegeln gibt es wunderbare Behandlungsmöglichkeiten. Zur Akupunktur im Rahmen einer Schmerztherapie bei Gonarthrose oder bei Lendenwirbelsäulenbeschwerden sowie zum Einsatz von Blutegeln gibt es auch gute Studien. Früher wusste man nicht, was z.B. ein Aderlass bewirkt, welche Kontraindikationen es gibt und hat damit daher Patient*innen oft eher geschadet. Heute weiß man genau, was man tut und kann dies auch naturwissenschaftlich herleiten. Es gibt immer mehr Versorgungsstudien zu bestimmten Erkrankungen. So kann man den Patient*-innen eine wissenschaftsbasierte integrative Medizin anbieten.
Wann kommt die integrative Medizin noch in Frage?
Bei fast jeder Erkrankung können wir Ressourcen aktivieren und naturheilkundliche Selbsthilfestrategien implementieren. Eine große Patientengruppe kommt aus der Onkologie. In dieser Fachdisziplin ist die Vernetzung zwischen der Schulmedizin und der Komplementärmedizin am weitesten fortgeschritten. Die Leitlinie „integrative Medizin in der Onkologie“ berücksichtigt etwa die Misteltherapie und verschiedene Phytotherapeutika, die bei der Cancer-Related-Fatigue-Symptomatik eingesetzt werden. Auch zu Nebenwirkungen wie Polyneuropathie oder Kachexie gibt es Linderungsmöglichkeiten. Wir sagen dabei aber immer explizit, dass die schulmedizinische Therapie an erster Stelle stehen muss und wir nur die Therapie ergänzen, optimieren und die Lebensqualität verbessern können. Derzeit haben wir viele Patient*innen mit Post-Covid-Syndrom, für das noch keine durchgreifende schulmedizinische Therapie in Sicht ist. In einer Beobachtungsstudie haben wir an unserer Klinik mehr als 300 dieser Patient*innen nach Entlassung für sechs Monate nachverfolgt. Dabei konnten wir eine signifikante Verbesserung der Symptome feststellen, die auch unter Alltagsbedingungen noch sechs Monate nach Entlassung anhielt. Leider hatten wir nicht das Budget, unser Patientenkollektiv mit einer Kontrollgruppe zu vergleichen. Wir können daher nicht ausschließen, dass sich die Symptome auch von alleine gebessert hätten. Bei den meisten unserer Patient*innen war die Corona-Infektion aber schon mehr als sechs Monate her.
Sie bieten auch homöopathische Behandlungen an, die viele für unwissenschaftlich halten.
Viele Studien sprechen dafür, dass der Effekt der Homöopathie über den reinen Placeboeffekt hinausgeht. In einem Positionspapier schreibt z.B. Prof. Dr. André-Michael Beer zusammen mit neun anderen Professor*innen, man müsse schon drei Viertel der Studien ausschließen, um diesen positiven Effekt zu negieren. Auch für die klassische Naturheilkunde nach Kneipp gibt es eine sehr gute Studienlage und Evidenz. Bei chronisch entzündlichen Erkrankungen setzen wir zudem gerne die Fiebertherapie oder Hyperthermie ein. Die Deutsche Gesellschaft für Hyperthermie hat bereits vor zwei Jahren Leitlinien veröffentlicht, die alle Studien zu verschiedenen Indikationen zusammenfasst und einheitliche Therapieschemata und -standards festlegt. Alle als Arzneimittel zugelassene Phytotherapeutika haben ohnehin den gleichen Weg durchlaufen wie konventionelle Medikamente.
Gibt es für diese Behandlungen wirklich die gleiche Evidenz wie für die Schulmedizin?
Die konventionelle Medizin ist längst nicht so evidenzbasiert wie man oft denkt: In der Onkologie verfügen z.B. nur ca. sechs Prozent der Therapien über die Evidenzklasse I. Zudem setzt sich der Begriff Evidence Based Medicine grundsätzlich aus drei Säulen zusammen: Gleichbedeutend wie die bestmögliche externe Evidenz nach Studienlage sind die Expertise der Behandler*innen und die Präferenz der Patient*innen. Es ist aber immer wichtig, dass die Komplementärmedizin in ärztlicher Hand ist. Es braucht die komplette schulmedizinische Ausbildung, um beides sinnvoll zu kombinieren und mögliche Wechselwirkungen einkalkulieren zu können. Es gibt Zahlen, dass bereits etwa 60 Prozent aller Hausärzt*innen Naturheilverfahren in unterschiedlichem Ausmaß anwenden.
Welche Patient*innen kommen zu Ihnen in die Klinik?
Wir haben fast ausschließlich chronisch kranke Patient*innen aus allen schulmedizinischen Fachgebieten, darunter Tumorpatient*innen, Patient*innen mit Sklerodermie, Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa, Neurodermitis, Psoriasis. Funktionelle Erkrankungen sind dabei, etwa das Reizdarmsyndrom oder das Fibromyalgiesyndrom. Unterstützend behandeln wir auch neurologische Patient*innen z.B. mit Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose. Wir sind eine internistische Fachklinik.
Daher kommen zu uns viele Menschen mit Diabetes, metabolischem Syndrom, Bluthochdruck oder einer Kombination daraus. Meistens sind es etwas mehr Frauen als Männer, vielleicht weil Frauen dem Thema gegenüber häufig etwas aufgeschlossener sind. Es geht in unserem Krankenhaus explizit nicht um die Behandlung von Befindlichkeiten. Um bei uns aufgenommen zu werden, muss vor der Krankenkasse eine Indikation für einen stationären Aufenthalt bestehen: Die ambulanten Therapiemaßnahmen müssen ausgeschöpft sein, es braucht eine gesicherte Diagnose und einen hohen Leidensdruck. Daher haben wir fast nur Patient*innen mit einer langen Leidensgeschichte, die oft sehr verzweifelt sind und uns als letzte Chance sehen.
Übernehmen die gesetzlichen und privaten Krankenkasse die Kosten?
In der Regel ja. Basis der Abrechnung ist immer die DRG der Hauptdiagnose wie in jedem anderen Krankenhaus. Um zusätzlich eine naturheilkundliche Komplexbehandlung abrechnen zu können, müssen wir eine bestimmte Dichte verschiedener naturheilkundlicher Therapien vorhalten. Für die Krankenkasse muss nachweisbar sein, dass ein Krankenhausaufenthalt nötig war.
Die Patient*innen müssen im Vorfeld schon einige ambulante Therapien ausprobiert haben. Wir machen vor jeder Aufnahme ein Screening, d.h. wir sichten die Unterlagen und sprechen ggf. mit den Patient*innen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind.
Eher selten haben wir auch Selbstzahler*innen oder Patient*innen aus dem Ausland, die sich den Aufenthalt gönnen.
Wie erfahren Sie, dass es den Menschen nach der Behandlung besser geht?
Chronische Patient*innen kommen häufig immer wieder zu uns und berichten uns dann davon, wie es zu Hause war. Sie lernen hier Vieles, was sie langfristig in Eigenregie umsetzen können. Dadurch können sie häufig das eine oder andere nebenwirkungsreiche Medikament wie Ibuprofen reduzieren oder ganz einsparen. Allein das Verlassen der passiven Rolle bringt Studien zufolge schon eine Verbesserung der Prognose. Als Anhänger*innen der sprechenden Medizin und eines ganzheitlichen Ansatzes können wir uns natürlich auch mehr Zeit für die Patient*innen nehmen als dies meist in einem Akutkrankenhaus möglich ist.
Die Patient*innen erhalten von uns für zu Hause einen Plan mit Phytotherapeutika, Homöopathie oder orthomolekularer Medizin, mikrobiologischer Darmbehandlung, Wickel, Auflagen, Einreibungen. Unsere physikalische Abteilung zeigt ihnen Übungen, auch zur Entspannung oder Atemübungen. Wir schulen zur Ernährung und überlegen, was wir dabei langfristig ändern können. Die Patient*innen sollen hier viel ausprobieren können, z.B. therapeutisches Fasten, Kartoffel- oder Hafertage.
Gleichzeitig überlegen wir gemeinsam, welche drei oder vier Dinge sie mit in den Alltag nehmen können. Naturheilkunde ist praktisch nie vorbei, sondern bei chronischen Erkrankungen häufig lebensbegleitend.
Was sollten zuweisende Kolleg*innen wissen? Wie schnell erhält man bei Ihnen einen Platz?
Es geht bei uns nicht darum, die konventionelle Medizin zu ersetzen, sondern sie sinnvoll zu ergänzen. Das bedeutet nicht, dass jede*r alle auf dem Markt verfügbaren Therapieverfahren anwenden muss. Es muss nicht jeder Patient Globuli einnehmen, Akupunktur und Blutegel nutzen. Für eine Aufnahme bei uns braucht es meist etwa sechs Wochen Vorlauf, aber immer mal wieder sagt jemand ab, sodass es in dringlichen Fällen oft auch mit einer kurzfristigeren Aufnahme klappt. Wir haben derzeit 110 Betten auf sechs Stationen. Durch eine langjährige Kooperation mit dem Krankenhaus in Harlaching können wir konsiliarisch auf alle Untersuchungen oder Fachärzt*innen zurückgreifen. In unserem Haus bieten wir Endoskopie, alle Arten von Ultraschall, Labor und Röntgen. Als internistische Fachklinik sind wir außerdem an die Rettungsleitstelle angeschlossen und daher auch aufnahmebereit für nicht intensivpflichtige Akutpatient*innen.
Stephanie Hügler
MÄA 03/2024 vom 27.01.2024