Leitartikel

Hilfe für psychisch kranke Wohnungslose

Psychisch kranke Wohnungslose können sich aus eigener Kraft meist nicht mehr aus ihrer Lage befreien, sagt der Psychiater Dr. Günther Rödig, der an verschiedenen Stellen in München Wohnungslose versorgt und begleitet. Gemeinsam mit der Fachkrankenschwester Lena Kordick erläutert er, warum er aktuell dringend kollegiale Unterstützung braucht.
Obdachlosigkeit München

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Herr Dr. Rödig, seit wann arbeiten Sie für wohnungslose Menschen?

Rödig: Ich habe im Jahr 2012 in der Praxis für wohnungslose Menschen in der Pilgersheimer Straße angefangen, war aber vorher schon in verschiedenen Arbeitskreisen für Psychiatrie und Wohnungslosenhilfe aktiv. Vor zweieinhalb Jahren konnte außerdem die Clearingstelle für psychisch Hilfebedürftige in dem städtischen Notquartier in der Implerstraße realisiert werden, wo ich ebenfalls tätig bin. Seit 36 Jahren bin ich zudem im psychiatrischen Krankenhaus in Haar beschäftigt und habe dort weiterhin eine Halbtagsstelle, mit der ich mich auch dort um wohnungslose Patienten kümmere. Das Hauptproblem in unserem Versorgungssystem ist Zersplitterung in verschiedene Zuständigkeitsberei-che. Das Schöne an meiner Arbeit ist, dass ich hier sektorenübergreifend Menschen versorgen und begleiten kann.  

Was sind Ihre Aufgaben als Psychiater für Wohnungslose? 

Rödig: Das Wichtigste ist sicherlich meine Praxis in der Pilgersheimerstraße, um dort Anlaufstelle für Hilfesuchende zu sein. Im Krankenhaus in Haar gehe ich als Zuständiger für wohnungslose Patienten jede Woche durch alle allgemeinpsychiatrischen Stationen und Suchtstationen und sehe nach, ob ich dort jemanden kenne. Oder ich erhalte Informationen über wohnungslose Patienten, die ich noch nicht kenne. Diese Patienten spreche ich dann an. Mir geht es dabei darum, mich und das Angebot zur Weiterbehandlung bekannt zu machen. Manchmal kann ich auch eine Unterkunft vermitteln, die besser ist als die vorige.

Kordick: Psychiatrie und Wohnungslosenhilfe sind ja zwei völlig unter-schiedliche Bereiche mit oft viel zu wenig Kontakten untereinander. Oft ist Dr. Rödig der Einzige, der das Ganze übergreifend im Blick hat. Er gibt den Patienten in Haar die Telefonnummer der Clearingstelle Implerstraße, sodass wir einen Termin mit ihnen ausmachen können. Unsere Hauptaufgabe als Fachkrankenpfleger ist die Weitervermittlung, damit die Betroffenen wieder aus dem städtischen Wohnungslosenhilfesystem herauskommen. Aber natürlich sind wir keine Makler und haben keine Wohnungen. Wir vermitteln überwiegend in betreute Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.

Was ist aus Ihrer Sicht das Problem bei psychisch kranken wohnungslosen Patienten?

Rödig: Für jeden Menschen ist es ein Problem, wohnungslos zu sein. Das Schlimmste dabei ist, als psychisch kranker Wohnungsloser im System verloren zu gehen. Daher ist auch das Projekt der Clearingstelle in der Implerstraße entstanden, in dem aktuell drei Fachkrankenpflegekräfte für Psychiatrie vor Ort sind Für viele ist dies eine bessere Anlaufstelle als über die Bettenzentrale irgendwo zu landen. In München gibt es verschiedene Betreuungsmöglichkeiten, aber o–t muss man Wartezeiten überbrücken. Im Krankenhaus können die Menschen meist nicht so lange bleiben.

Wie einfach ist es, psychisch kranke Wohnungslose so zu unterstützen, wie sie es brauchen?

Kordick: Je komplexer die Erkrankungen sind, desto schwieriger ist es, einen Platz für sie zu fnden. Ich habe einmal einen Patienten mit einer schweren Psychose und einer Suchterkrankung betreut. Es hat 1,5 Jahre gedauert, bis ich einen Platz für ihn gefunden hatte.

Rödig: Manche Patienten werden in einem Zustand entlassen, in dem sie zu instabil sind, um eine Chance auf einen Platz in einer Wohngemein-schaft zu haben. Für sie ist es gut, erst einmal hierher in das Clearingprojekt in der Implerstraße zu kommen, um sich hier zu stabilisieren. Wir hatten einmal einen Fall aus der Forensik, in dem es wider Erwarten keine Verurteilung gab. Der Patient wurde entlassen und kam zunächst hierher. Da er sehr einsichtig und kooperativ war, konnte er innerhalb von drei oder vier Monaten an eine Wohn-gemeinschaft vermittelt werden.

Das Schlimmste ist, im System verloren zu gehen. Dr. Günther Rödig

Warum suchen Sie aktuell eine neue Kollegin oder einen Kollegen?

Rödig: Ich möchte nicht bis zu meinem 67. Lebensjahr zu 120 Prozent oder mehr arbeiten. Wir brauchen dringend Unterstützung durch einen Facharzt oder eine Fachärztin für Psychiatrie, die uns mit 25 Wochen-stunden verstärkt. Wenn jemand Vollzeit arbeiten wollte, wäre dies sicher auch irgendwie möglich.

Welche Aufgaben hätte ein neuer Kollege oder eine neue Kollegin?

Rödig: Nach individueller Absprache kann der Tätigkeitsschwerpunkt entweder im Clearingprojekt in der Implerstraße oder in der psychiatri-schen Praxis in der Pilgersheimer Straße sein. Außerdem wünschen wir uns, dass die Beratung der Landeshauptstadt München zur psychiatrischen Versorgung wohnungsloser Menschen ausgebaut wird. Eine Stellenausschreibung dazu haben wir in den MÄA 19/2018 veröffentlicht. Sie ist auch unter www.kbo-karriere.de zu fnden. Wünschenswert wäre eine Unterstützung bei der Beurteilung der Berechtigung in Unterkünften. Wichtig für Kollegen aus dem niedergelassenen Bereich ist es dabei zu wissen: Für viele Wohnungslose ist die Nettigkeit eines Einzelzimmers gar nicht so nett. Als ich in der Wohnungslosenhilfe anfng, habe ich alle Menschen in Einzelzimmern besucht. Dabei habe ich manche Patienten entdeckt, für die das Einzelzimmer eine Sackgasse war: Sie haben dort z.T .über 20 Jahre weitgehend isoliert vor sich hin gelebt, und ihre Erkrankung ist in dieser Zeit chronifziert.

Was schätzen Sie an Ihrer Arbeit?

Rödig: Für mich ist dies der Traumjob schlechthin, denn ich bin kein Fan von Bürokratie und Dokumentation. Hier kann man sich als Arzt optimal entfalten. Die Abrechnung erfolgt über ein Fallpauschalensystem, durch das man nur ein Minimum an Bürokratie hat. Wenn jemand voll und ganz therapeutisch und ärztlich arbeiten möchte, dann ist er hier richtig. Man lernt in diesem Job auch viele Kolleginnen und Kollegen und Menschen aus anderen Berufsgruppen kennen und arbeitet gut zusammen. Dadurch kann man beachtliche Erfolge erzielen. Natürlich hängt das auch von den Zielen ab. Wenn man die Vorstellung hat, dass jeder gesund werden und auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachmachen muss, gelingt das natürlich nicht. Aber wenn man die Lebenswelt der Betroffenen vor unserer Betreuung betrachtet und dann sieht, was danach aus ihnen geworden ist, so ist das schon manchmal beachtlich.

Haben Sie ein Beispiel?

Kordick: Wir hatten einmal einen Patienten mit einer Psychose, der 20 Jahre lang wohnungslos und nicht krankheitseinsichtig war. Von Außen wirkte er wie ein Professor: Sehr gebildet, sehr eloquent, aber er konnte einfach keine Wohnung finden. Das Einzige, was an diesem Menschen und seinem Auftreten auffällig war, war sein Koffer, den er zu jedem Termin mitbrachte. In der „normalen“ Psychiatrie würde man darauf hinar-beiten, dass dieser Mensch eine Krankheitseinsicht entwickelt. Aber er lebt schon seit 20 Jahren mit dieser Psychose, und sie schränkt ihn im Alltag nicht ein. Im Umgang ist er freundlich und adäquat. Das Wichtigste für ihn war es, eine Wohnung zu finden. Ich habe ihm den Tipp gegeben, den Koffer bei der Wohnungssuche einfach mal hier zu lassen. Daraufhin hat er eine Wohnung gefunden, die er heute noch hat.

Rödig: Solche Ideen stehen nicht in Lehrbüchern. Man muss einfach spontan und erfinderisch sein. Wichtig sind auch Flexibilität und Geduld. Außerdem sollte man undogmatisch sein. Vieles ist hier nicht streng geregelt. Daher muss man so kreativ wie möglich sein, um individuelle Lösungen zu finden. Man hat hier Gestaltungsmöglichkeiten, was Spaß macht.

Wie reagieren die Patienten auf die von Ihnen angebotene Hilfe?

Rödig: Viele Kollegen denken, dass Wohnungslose schwierig sind, aber oft stimmt  das nicht. Vielmehr ist das System zu schwierig und zu unnahbar. Viele unserer Patienten haben schlechte Erfahrungen gemacht und daher eine gewisse Scheu, sich zu offenbaren. Darum ist es wichtig, dass man sofort Zeit hat, wenn jemand sich mit Problemen outet. Etwa zwei Drittel der Betroffenen bleibt der Praxis treu. Ewige Dankbarkeit erfährt man, wenn man verhindern kann, dass jemand z.B. wegen Schwarzfahrens ins Gefängnis nach Stadelheim eingesperrt wird.

Wie treten Sie an die Menschen heran?

Rödig: Unabhängig von einer eventuellen Behandlung überlege ich, wie ich ganz pragmatisch helfen kann. Zum Beispiel im Männerwohnheim in der Pilgersheimer Straße finden viele es lästig, dass sie um 8 Uhr aus dem Zimmer müssen und erst um 14 Uhr wieder rein dürfen, weil in der Zwischenzeit geputzt wird. Wenn ich für sie ein Bettruheattest ausstelle, dürfen sie morgens im Zimmer bleiben. Das Bettruheattest ist für mich dann ein Weg, mit ihnen in Kontakt zu treten. Neue Patienten bestelle ich gern einmal pro Woche ein, um eine Beziehung aufzubauen. Das kann man als Einzelkämpfer allerdings auf die Dauer nicht leisten.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler.