Frauen in der Medizin, Karriereleiter ins Aus
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Frau Lange, es gibt immer noch eine „gläserne Decke“ in der Medizin. Woran liegt das? Sind Frauen nicht ehrgeizig oder trauen sie sich einfach zu wenig zu?
Lange: Es kann schon sein, dass sich manche Frauen weniger zutrauen als Männer. Männer präsentieren sich tendenziell womöglich etwas besser – vielleicht eine Frage der Sozialisation. In unserer Umfrage nannten die befragten Frauen aber vor allem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie konservative Rollenbilder und Vorurteile als Karriereblockaden. Fehlender beruflicher Ehrgeiz wurde teilweise zwar auch genannt, aber nur in ganz geringem Maß.
Sie haben nur Frauen befragt. Hat es Sie nicht interessiert, was Männer dazu sagen würden?
Lange: Doch, natürlich interessiert uns das auch. Ich finde es sogar besonders wichtig, dass sich Männer für Gleichberechtigung stark machen. Wir als Marburger Bund Bayern hatten diese Befragung aber zum Weltfrauentag konzipiert. Unsere Ergebnisse haben wir anschließend bei unserem Ärztinnen-Talk vorgestellt, bei dem Ärztinnen von ihren persönlichen Erfahrungen berichten konnten. Manchmal ist eine geschützte Umgebung wichtig, damit sich Frauen untereinander austauschen können. Wenn ich höre oder in der Befragung lese, dass Vorgesetzte im 21. Jahrhundert immer noch zu Mitarbeiterinnen sagen: „Sie müssen sich schon entscheiden – entweder Sie werden Chirurgin, oder Sie bekommen Kinder“, dann sagt das schon sehr viel aus.
Glauben Sie, dass Männer in der Befragung anders geantwortet hätten?
Lange: Ja, das denke ich schon. Wir haben diesmal nicht den Blick darauf geworfen, was Männer bzw. Väter dazu sagen. Ich betreue aber auch eine Kampagne, in der wir Zitate zum Thema Gleichberechtigung veröffentlichen, z.B.: „Wenn Sie hier Karriere machen möchten, müssen Sie schon mehr Präsenz zeigen“. Das wurde zu einem jungen Arzt gesagt, der gerade aus der Elternzeit kam. Angesichts des Ärztemangels, den wir in der Pandemie gerade besonders erlebt haben, brauchen wir einen Kulturwandel. Etwas anderes können wir uns gar nicht leisten.
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich mit dem Thema gemacht, Frau Konietzko?
Konietzko: Im Arztberuf habe ich die gläserne Decke erst so richtig zu spüren bekommen, als ich Kinder hatte – und zwar indirekt. Die fast ausnahmslos männlichen Kollegen und Vorgesetzten fanden es völlig legitim, dass ich während der Schwangerschaften nicht mehr operieren durfte und beinahe ausschließlich für den Stationsdienst eingeteilt wurde. Mein damaliger Chef meinte einmal sogar väterlich: „Frau Konietzko, könnten Sie nicht dauerschwanger sein? Das wäre für die Kontinuität der Patientenversorgung sehr gut!“ Ich habe erst später gemerkt, dass das vermeintliche Lob eine Falle ist: Während alle anderen sich in den OP „verdrückt“ und ihren OP-Katalog gefüllt haben, bin ich nicht weitergekommen. Bis vor fünf Jahren verbot das Mutterschutzgesetz schwangeren Chirurginnen zu operieren. Mit den schlechten Erfahrungen aus meiner ersten Schwangerschaft habe ich deshalb die weiteren lange geheim gehalten. Nach der Novellierung des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) 2018, welches Chirurginnen abhängig von der betriebsärztlichen Gefährdungsanalyse ihres Arbeitsplatzes auch das Operieren erlaubte, stellten die Empfehlungen des MuSchG zur Beschäftigung von schwangeren und stillenden Frauen in Zusammenhang mit SARS-CoV-2 einen echten Rückschritt dar.
Frau Schniewindt, haben Sie schon etwas Vergleichbares erlebt?
Schniewindt: Jein. Ich befinde mich noch in meiner Facharztweiterbildung und habe keine Kinder. Von Kolleginnen weiß ich aber, dass der Erwerb klinischer Inhalte für Schwangere in der Pandemie nahezu unmöglich geworden ist, weil sie fast automatisch ein Beschäftigungsverbot erhielten. Für jeden Arbeitsplatz gibt es eigentlich eine Gefährdungsanalyse, um zu prüfen, was für Schwangere machbar ist und was nicht. Hier bestand bereits vor der Pandemie ein großer Handlungsbedarf, denn die Möglichkeiten werden hier nicht richtig ausgelotet. Offenbar besteht bei Vielen eine große Unsicherheit oder Angst vor juristischen Folgen, sodass dies meist maximal restriktiv gehandhabt wird – zu Lasten der Frauen. Und in Bewerbungsgesprächen wird häufig auf subtile Art und Weise „erfragt“, wie hoch das Risiko einer baldigen Schwangerschaft ist.
In vielen Berufen hat die Pandemie zu mehr Flexibilität durch Home Office etc. geführt. Wie war das in der Medizin?
Konietzko: Aus meiner Sicht ist hier leider zu wenig flächendeckend passiert. In meiner Abteilung wurde die Möglichkeit zum Home Office geschaffen. Das ermöglicht z.B. jungen Eltern eine höhere Flexibilität. Sie können ihre Kinder nachmittags aus der Kinderbetreuung abholen und Schreibtischarbeiten, wie das Verfassen von Arztbriefen, am Abend nach der Familienzeit von zu Hause aus erledigen. Von einer Kollegin aus einer anderen Abteilung weiß ich, dass sie an der Frühbesprechung via Zoom teilnimmt, um ihre Kinder bis zum morgendlichen Schulbeginn zu betreuen. Aber das sind seltene Ausnahmen.
Schniewindt: Einen Fortschritt sehe ich durch die vielen Online-Fortbildungsveranstaltungen. Dass Fortbildungen nun von zu Hause aus angesehen werden können und häufig auch später noch abrufbar sind, kommt vielen Eltern zugute. Auch das Stadt-Land-Gefälle wurde dadurch geringer, weil so nun auch kleinere Kliniken auf dem Land mit weniger hausinternen Fortbildungen ihren Weiterbildungsassistent*innen den Zugriff darauf ermöglichen können. Insgesamt war die Pandemie aber eine wahnsinnige Belastung für viele Kolleg*innen, weil ihre Arbeitszeiten noch länger wurden als bisher. Auch das klassische Rollenmodell hat sich verstärkt: Wenn Kinder Homeschooling hatten oder in Quarantäne mussten, blieben in der Regel die Mütter daheim.
Lange: Viele Ärzt*innen in Weiterbildung wurden auf Corona-Stationen eingesetzt und konnten in dieser Zeit nichts für ihre Weiterbildung tun. Das haben wir beim Marburger Bund in einer weiteren Umfrage festgestellt. Frühere Studien zeigen darüber hinaus einen Karriereknick, wenn Frauen in der Weiterbildung schwanger werden. Deshalb ist es gut, dass die neue Weiterbildungsordnung eine Verkürzung der Abschnitte vorsieht und kompetenzbasiert ist. Wir hoffen, dass dies schließlich doch zu einer gewissen Flexibilisierung beiträgt.
Woran liegt es also, dass Frauen immer wieder an die „gläserne Decke“ stoßen?
Schniewindt: Aus meiner Sicht sind tatsächlich häufig überkommene Rollenbilder das Hauptproblem. Die sind unterbewusst noch immer in der Gesellschaft präsent und finden sich auch am Patientenbett wieder. Auch wenn sie sich mit voller Funktion vorstellen, beim Hinausgehen wird Frau vielfach immer noch mit „Schwester, …“ angesprochen. Ein Klassiker, noch heute. Oder man muss im Notarzt-Einsatz dreimal nach einem großen Zugang fragen, bevor man die entsprechende Größe auch wirklich angereicht bekommt, weil es einem als jung und weiblich nicht zugetraut wird.
Frau Konietzko, wie haben Sie es schließlich doch geschafft, eine Führungsposition zu erreichen?
Konietzko: Durch Fleiß, Hartnäckigkeit, Aneignung operativer Fähigkeiten in Überstunden und Nachtdiensten und durch den Erwerb von Zusatzqualifikationen. Meine Facharztweiterbildung habe ich komplett in Vollzeit absolviert, da ich sonst meinen OP-Katalog nicht vollbekommen hätte. Danach und im Jahr nach der Geburt meines zweiten Kinds, bin ich auf eine 80-Prozent-Stelle gewechselt. Weniger als 80 Prozent habe ich aber auch nach der Geburt meines dritten Kinds nie gearbeitet. Mir war klar, dass ich mit weniger als 80 Prozent nicht oder nur noch sehr selten in den OP eingeteilt würde.
Können Sie verstehen, dass Chefs von Frauen eine Entscheidung zwischen Kindern und Karriere verlangen? Im Arztberuf hat man schließlich eine besondere Verantwortung.
Schniewindt: Nein. Es macht mich im Gegenteil sehr wütend und ist aus meiner Sicht vorgeschoben, damit man in alten Mustern verharren kann. Man könnte auch einfach überlegen: Wie kann ich Eltern trotzdem eine Karriere ermöglichen? Wie muss ich den Klinikalltag dafür verändern? Dafür sehe ich derzeit leider nicht viel Motivation.
Konietzko: Leider lassen sich nach meiner Erfahrung an einer Universitätsklinik Karriere und Familie derzeit tatsächlich nur sehr schwer mit einander vereinbaren. Während der letzten beiden Jahre wurde unsere städtische Klinik in eine Universitätsklinik umgewandelt. Im Anschluss an durchschnittlich zehn Stunden klinische Tätigkeit wird Engagement in Forschung und Lehre erwartet. Das sind maximal ungünstige Bedingungen für Mütter. Aber die Medizin wird sich wandeln. Die Zeit spielt für uns. Die Medizin wird weiblicher – das zeigen die mehr als 60 Prozent Medizinstudentinnen. Frauen sind durchaus selbstbewusst genug, um diesen Beruf zu ergreifen.
Wer zwölf Stunden arbeitet und anschließend noch forscht, leistet sehr viel. Gibt es dazu überhaupt eine Alternative?
Konietzko: Ich halte nichts von übertriebener Heroik. Eine ärztliche Tätigkeit kann aus meiner Sicht nur dann verantwortungsbewusst durchgeführt werden, wenn sie zeitlich begrenzt ist. Dafür braucht es aber genügend Personal. Wir beim Marburger Bund setzen uns dafür und für eine gute Ausbildung ein. Insbesondere Frauen mit Kinderwunsch sollten ihre Aus- und Facharztweiterbildung fest im Blick haben und einfordern. Hierfür lohnt sich das Mitarbeitergespräch mit dem/der Vorgesetzten, auch um über mögliche Projekte während der Elternzeit und darüber hinaus zu sprechen. Frauen sollten sich auch mit ihren Lebenspartnern bezüglich der Kinderbetreuung v.a. im Krankheitsfall absprechen. Alte Rollenbilder existieren leider nicht nur in den Köpfen älterer Chefärzte, sondern auch bei jungen Ärztinnen.
Sind viele Frauen am Ende also doch selbst schuld daran, wenn sie nicht weiterkommen?
Lange: Natürlich gibt es auch in modernen Beziehungen alte Rollenclichés oder unterschiedliche Gehaltsstrukturen. Wer weniger verdient, bleibt meistens zu Hause, wenn Kinder kommen – auch wenn man als Paar vorher gleichberechtigt war. Zu den Arbeitsbedingungen: Beim Marburger Bund reden wir oft vom „Lebensarbeitsplatz Krankenhaus“. Es ist aber nicht gesund, lebenslang unter solchen Bedingungen zu arbeiten, wie sie Frau Konietzko eben beschrieben hat. Hier müssen wir ansetzen. Die Normalität sollte heute eine andere sein: Eine, in der es Teilzeitmodelle gibt und eine verlässliche Dienstplanung. Es braucht Rahmenbedingungen, damit flexible Arbeitszeit und Jobsharing möglich sind. Und wir benötigen Vorbilder und gute Mentoringprogramme für Ärztinnen, um Netzwerke aufzubauen.
Schniewindt: Viele Probleme sind gesellschaftlich bedingt und dieser Wandel erfolgt nur sehr langsam. Es gibt schlichtweg noch zu viele Geschlechterklischees. Und Chef und Oberärztinnen etwa werden meistens nicht nur fachlich beurteilt, sondern auch danach, wie sie sich als Frauen präsentieren. Das ist bei männlichen Kollegen nicht der Fall. Schon allein deshalb brauchen wir mehr Frauen in Führungspositionen, damit mehr über Inhalte gesprochen wird: Was sind gute Führungseigenschaften, und zwar unabhängig vom Geschlecht?
Was für Wünsche könnten Frauen an ihre Chefs herantragen?
Konietzko: Wichtig sind regelmäßige, institutionalisierte Mitarbeitergespräche, um dort Weiterbildungswünsche äußern zu können und damit nicht alles an der Eigeninitiative der Ärztinnen hängt. Ganz wichtig sind planbare Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle. Tariflich sind diese vorgesehen, doch ob der jeweilige Chefarzt sie wirklich ermöglicht, ist stets die Frage. Betriebskindergärten, die mindestens 12 Stunden lang offen haben, müssten an Krankenhäusern eine Selbstverständlichkeit sein. Und auch wenn ich das Wort selbst nicht gern in den Mund nehme: Überall dort, wo eine Quote eingeführt wurde, war sie schließlich doch hilfreich. Frauen müssen einfach mal beweisen dürfen, dass sie in einer Führungsposition gute Arbeit leisten. Ohne eine Quote für Oberärztinnen-Stellen werden wir das kaum schaffen.
Schniewindt: Das sollte auch für Gremien insgesamt gelten. Bald sind wieder Wahlen für Ärztliche Kreisverbände und die Landesärztekammer. Auch dort sollten gleich viele Frauen vertreten sein, um dieses Thema dort präsenter zu machen.
Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA-Nr. 10 vom 07.05.2022