Leitartikel

Familienorientierte Reha. Gemeinsam gesund werden

Reha-Angebote für psychisch kranke Eltern sind meist nur an sie selbst gerichtet. Einen neuen Weg geht die Klinik Höhenried gemeinsam mit der Fachklinik Gaißach. Ein Gespräch mit Oberarzt Dr. Daniel Gerlach und Psychologin Margareta Huber-Saffer.
Familienorientierte Reha. Gemeinsam gesund werden
Familienorientierte Reha. Gemeinsam gesund werden

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Herr Dr. Gerlach, was ist die familienorientierte Reha (FER)? Und warum braucht es das?

Gerlach: FER steht für familienorientierte Erwachsenen-Rehabilitation. Unser Angebot wendet sich hauptsächlich an psychosomatisch erkrankte Erwachsene, aber es können Begleitkinder im Alter von bis zu 12 Jahren mitgenommen werden – auch um diese zu schützen, denn Kinder von psychisch kranken Eltern haben selbst ein erhöhtes Risiko zu erkranken. Einschlusskriterium für das Programm ist das Vorhandensein mindestens eines minderjährigen Kinds - unabhängig davon, ob dieses im eigenen Haushalt wohnt oder z.B. nach einer Trennung beim anderen Elternteil. Viele Rehabilitanden kommen aber auch ohne ihre Kinder. Wir versuchen trotzdem, sie und andere Familienmitglieder in den Reha-Prozess einzubinden. Die Rentenversicherung hat dieses Modellprojekt im Rahmen der der Förderwelle Reha Pro mit Fördermitteln des Ministeriums für Arbeit und Soziales ins Leben gerufen, um damit eine Versorgungslücke zu schließen.

Huber-Saffer: Wir schauen zunächst, welchen Bedarf es in den Familien gibt – zur Unterstützung für die erkrankten Erwachsenen, aber auch für die Familie und damit präventiv für die Kinder. Denn Familie ist für viele Patient*innen eine wichtige Ressource. Sie kann aber auch ein zusätzlicher Belastungsfaktor sein, etwa wenn es ein belastendes familiäres Thema gibt. Dann können wir zielgerichtet Unterstützung bieten.

Was passiert mit den Familien, die ihre Kinder nicht mitbringen können?

Huber-Saffer: Wir bieten allen erwachsenen Rehabilitanden an, Familienangehörige bei Gesprächen einzubeziehen. Diese finden entweder in Präsenz hier in der Klinik statt, z.B. an den Besuchswochenenden, oder auch online. Das Angebot richtet sich auch an andere Erwachsene, besonders an die Lebenspartner*innen. Die älteren Kinder oder Jugendlichen versuchen wir ebenfalls ins Gespräch einzubeziehen und ihre Perspektive, aber auch ihre speziellen Belastungsfaktoren zu berücksichtigen. Meistens findet das in Form von gemeinsamen Gesprächen der Bezugstherapeut*innen mit den erwachsenen Rehabilitanden sowie Partnerin oder Partner statt – eventuell auch mit anderen wichtigen Familienangehörigen, z.B. mit getrennten Partner*innen oder Großeltern. In unserem Angehörigen-Webinar informieren wir zudem psychoedukativ über typische Krankheitsbilder und die psychosomatische Behandlung.

Gerlach: Mit dem Programm möchten wir den Angehörigen eine Stimme geben und sie „abholen“. Dahinter steht die Haltung, dass man bei einer Psychotherapie die Einbindung in das Familiensystem immer mitdenken muss, was heute viel zu selten stattfindet.

Was sind häufige Themen, und welche Therapiemodelle gibt es?

Huber-Saffer: Wir haben das gleiche Programm wie bei unseren anderen Rehabilitanden in der Psychosomatik. In der Psychotherapie gibt es Einzel- und Gruppengespräche, Bewegungstherapie, Kunsttherapie, Entspannungstraining, physikalische Anwendungen und in FER eben die ergänzenden familienbezogenen Module. Ein Themenschwerpunkt ist immer Kommunikation – von Strategien zu deren Verbesserung bis hin zum Umgang mit Konflikten. Hinzu kommen familienbezogene Themen, etwa zur Rollenaufteilung, aber auch ganz typische psychotherapeutische Themen, z.B. Stärkung von Selbstfürsorge. Die erwachsenen Patient*innen werden zudem in Bezug auf ihre Diagnosen und Symptomatik behandelt.

Gerlach: Für die Gruppe der Patient*innen, die ein Begleitkind dabei haben, gibt es außerdem alle zwei Wochen Aktivitäten oder Ausflüge mit unserem Betreuungsteam aus Erzieherin, Kinderpflegerin und anderem pädagogischen Personal – entweder auf dem Gelände oder mit einem klinikeigenen Kleinbus zu einem interessanten Ort in der Region, z.B. nach München ins Pixi Museum oder ins Allgäu. Dabei können die Familien das in der Therapie Gelernte unter Beobachtung ausprobieren. Dazu bekommen wir viele gute Rückmeldungen.

Gibt es auch ein eigenes Programm für die Begleitkinder?

Gerlach: Für sie haben wir in Zusammenarbeit mit der Fachklinik Gaißach einen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten engagiert, der zweimal die Woche zu uns kommt. Er unterstützt die Begleitkinder in ihrer Entwicklung und greift ihre Themen oder „Entwicklungsbaustellen“ auf. Am Ende dieses Prozesses gibt es dann noch ein Elterngespräch, und es wird geschaut: Was braucht es nach der Reha, um den Kindern weiterhin eine Chance auf eine Entwicklungsförderung zu bieten – ohne dass sie gleich zu Patient*innen gemacht werden.

Huber-Saffer: Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Förderung der Erziehungskompetenz bei den Erwachsenen, weil oft auch die Eltern-Kind-Interaktion durch die Erkrankung belastet ist. Das können wir sehr gut therapeutisch integrieren.

Was machen die Begleitkinder, wenn die Eltern in Behandlung sind?

Huber-Saffer: Während der Therapiezeiten werden sie in unserem Kinderhaus nicht weit von der Station entfernt betreut. Dort können die Erzieher*innen die therapeutischen Inhalte spielerisch aufgreifen. Die Mütter melden uns oft zurück, dass es für sie sehr wertvoll ist, zu erleben, wie jemand anders mit ihren Kindern umgeht. Dabei findet sehr viel Modelllernen statt. In der therapiefreien Zeit sind die Kinder bei ihrem Elternteil. Zusammen verbringen sie auch die Wochenenden und Feiertage.

Gehen die Kinder bei Ihnen auch in die Schule?

Gerlach: Die Entwicklung der Online-Beschulung in der Pandemie hat uns geholfen. Vorher gab es Ansätze, die Begleitkinder hier zu beschulen, was aber mit großen organisatorischen Herausforderungen verbunden war. Manche Familien haben die Unterrichtsmaterialien dabei und von der Schule einen Auftrag, diese zu bearbeiten. Bei anderen ist der Unterricht ausgesetzt.

Huber-Saffer: Die Eltern treffen mit den Schulen individuelle Absprachen, wie viel Material mitgegeben wird. Viele nutzen auch die Ferienzeit für den Rehaaufenthalt. Die Bearbeitung der Materialien bleibt aber letztlich in der Verantwortung der Eltern. Hier gibt es keinen Schulbesuch bzw. dazu keine Betreuung.

Wie lange geht eine Reha in der Regel, und wer kommt dafür in Frage?

Gerlach: Fünf Wochen – verlängern können wir leider nur sehr ausnahmsweise, es sollen ja möglichst viele Patient*innen über die Projektlaufzeit am Projekt teilnehmen dürfen. Unsere Patient*innen bringen das ganze Spektrum psychosomatischer Störungen mit, inklusive der berufsbezogenen Schwierigkeiten. Wir behandeln Depression, Angst- und Schmerzstörungen, chronische Schmerzen wie bei einer Fibromyalgie oder bereiten die Patient*innen mit schonend-stabilisierenden Maßnahmen auf eine evtl. anschließende Traumatherapie vor. Hinzu kommt die ganze Palette somatoformer Störungen, z.B. funktionelle Verdauungsbeschwerden oder andere hartnäckige vegetative Symptome. In der Reha geht es uns darum, die Erwerbsfähigkeit unserer Patient*innen wiederherzustellen und sie zu stabilisieren. Bei vielen Familien beobachten wir neben den beruflichen Themen auch Belastungen durch familiäre Spannungen. Trennung z.B. ist ein großes Thema.

Wie viel Therapie haben die Erwachsenen?

Gerlach: Es gibt mindestens 20 Therapieeinheiten – vormittags und nachmittags, nachmittags tendenziell ein bisschen weniger. Ein wichtiges Modul haben wir noch nicht erwähnt: die familienorientierte Ernährungsberatung. Wenn die Mutter – meistens haben wir ja hier doch Mütter und ihre Kinder – keine Zeit hat oder selbst wenig kompetent ist, wird schnell lieber eine Leberkässemmel mitgegeben. Oder man kauft etwas am Kiosk statt sich durch Zubereitung von gesundem Essen etwas Gutes zu tun. Wir hatten hier allerdings auch schon Väter, die zu Hause für das Essen zuständig waren und Unterstützung gebrauchen konnten. Ein Arbeitstitel war z.B. „das gesunde Pausenbrot“. Wir haben zwar eine Lehrküche in der Klinik, aber für die FER-Patient*innen findet die Ernährungsberatung in der Regel in einer Gesprächsatmosphäre statt, um im Hinblick auf die Abläufe in der Familie bezogen zu beraten. Neu an unserem FER-Konzept ist auch die Familienaufnahme. Anfangs wurden die Patient*innen, die ein Begleitkind dabei hatten, aufgenommen, während die Begleitkinder im Kinderhaus waren. Inzwischen beziehen wir die Kinder ein und können so auch die Interaktion, die Familiendynamik beobachten. Wir sitzen also als fünfköpfiges Team mit unseren zwei bis drei Familienmitgliedern in einer Runde zusammen . Nach dem Gespräch tauschen wir Teammitglieder uns direkt darüber aus.

Wie viele Patient*innen können Sie gleichzeitig betreuen?

Gerlach: Die erste Patientin kam am 2. Juli 2024. Seither haben wir knapp 60 Patient*innen bzw. Familien behandelt. Offiziell läuft das Projekt seit 1. Januar 2024. Seit dem 1. Januar 2025 befinden wir uns in der Durchführungsphase. Die Module haben wir nach und nach an den Start gebracht und anfangs zwei Patient*innen pro Woche aufgenommen. Die Gruppe ist auf maximal zwölf Personen begrenzt. Wir können aber jede Woche aufnehmen.

Wie funktioniert die Finanzierung des Projekts?

Gerlach: Reha Pro ist eine Förderinitiative der Deutschen Rentenversicherung und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Wir beteiligen uns an der Begleitevaluation des Modellvorhabens durch zwei Unis, die Hochschule für Gesundheit Bochum und die TU München, erheben Daten, und übermitteln sie an die Wissenschaftler*innen. Diese führen bei uns auch Workshops durch und geben Rückmeldungen zu ihren Forschungsergebnissen. Bei uns wurde dazu eine eigene Studienassistenz eingestellt. Wir arbeiten sehr eng zusammen.

Dieses Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA 05 vom 01.03.2025