Diskriminierung und Rassismus, Schwarz-Weiß-Denken in der Medizin
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Frau Prof. Salikutluk, was ist der NaDiRa und was untersucht er?
Der NaDiRa wurde im Jahr 2020 nach den rassistischen Anschlägen z.B. in Hanau vom Deutschen Bundestag beschlossen. Sein Herzstück ist die Befragung von Betroffenen in einer quantitativen, also statistischen Studie. Bei unserer ersten Erhebung haben etwa 21.000 Personen mitgemacht. Dabei haben wir untersucht: Wie stark ist das Ausmaß von Rassismus in Deutschland? Mit welchen Konsequenzen oder Zusammenhängen ist dies verbunden? Zusätzlich haben wir vor allem zu unserem diesjährigen Schwerpunktthema Gesundheit qualitative Interviews geführt, Experimente durchgeführt und z.B. Lehrmaterialien für das Medizinstudium untersucht. In den nächsten Jahren sind drei weitere Schwerpunktthemen vorgesehen: Wohnen und Nachbarschaften, Arbeit und schließlich Bildung.
In Ihren Veröffentlichungen unterscheiden Sie zwischen „rassistisch markierten“ und „nicht rassistisch markierten“ Personen. Was bedeutet das?
Wir haben lange überlegt, wie wir Personen beschreiben sollen, die in irgendeiner Form ein Merkmal tragen, das sie mit einer Gruppe in Verbindung bringt, die von Rassismus betroffen ist. Dazu haben wir die Personen danach befragt, zu welchen Gruppen sie sich zugehörig fühlen. Von rassistischer Markierung sprechen wir dann, wenn sich Personen zum Beispiel als Schwarz, asiatisch oder muslimisch identifizieren. Die Kategorien können sich auch überschneiden, wenn sich jemand zum Beispiel als muslimisch und Schwarz definiert.
Was waren die wichtigsten Ergebnisse zur Gesundheit?
Leider können wir erwartungsgemäß in der Versorgung überall die systematische Benachteiligung von bestimmten Gruppen feststellen. Zwei Ergebnisse hätte ich aber so nicht erwartet: Zum einen haben wir in einem Experiment per Email Terminanfragen an Arztpraxen unter- schiedlicher Fachrichtungen versendet und darin jeweils den Namen variiert, sodass er einmal türkisch, einmal nigerianisch und einmal deutsch klingt. Dabei haben wir bei allen untersuchten Fachrichtungen – Allgemeinmedizin, Dermatologie, Radiologie und Psychotherapie – Diskriminierung beim Zugang zur Gesundheitsversorgung festgestellt. Nur bei der Pädiatrie war das nicht der Fall. Am stärksten fiel die Diskriminierung in der Psychotherapie aus. Das hätte ich so nicht erwartet. Warum das so ist, können wir nur vermuten. Wenn es um knappe Ressourcen geht, spielt Diskriminierung oft eine stärkere Rolle. Vielleicht gab es auch bestimmte Annahmen, dass die Versorgung aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse eingeschränkt sein könnte.
Ärztinnen und Ärzte schwören aber doch im Genfer Gelöbnis, dass sie niemanden diskriminieren.
Auch das haben wir festgestellt: Die meisten Ärzt*innen sehen sich als neutral, und es gibt eine sehr starke Abwehr gegen die Thematisierung von Rassismus und Diskriminierung. Offenbar werden aber rassistische Wissensbestände, Vorurteile und Stereotype schon im Studium erlernt und im Praxis- oder Krankenhausalltag weitergegeben. Denken Sie an den sogenannten Morbus Mediterraneus bzw. das Mamma-Mia-Syndrom. Dies bezeichnet das Vorurteil, dass Menschen aus mediterranen Ländern bei Schmerzen grundsätzlich übertreiben. Eine solche Annahme hat konkrete Auswirkungen auf die Schmerzmedikation. Es nützt aber offenbar auch nichts, wenn man selbst rassistisch markiert ist: Ich kenne eine Ärztin, die selbst einen Migrationshintergrund hat, und trotzdem dieses Stereotyp nicht in Frage stellt. Auch bei nicht rassistisch markierten Frauen wird von Ärzt*innen übrigens häufig angenommen, dass sie bei Schmerzen übertreiben (Gender Pain Bias), und sie werden grundsätzlich weniger ernst genommen. Wenn man beide Ungleichheitsdimensionen, also rassistische Markierung und Geschlecht, zusammenbringt, sind rassistisch markierte Frauen im Gesundheitsbereich besonders benachteiligt.
Was war das zweite für Sie besonders erstaunliche Ergebnis?
Wir wollten wissen, wie häufig Personen ihre behandelnden Ärzt*innen gewechselt haben, weil sie sich nicht ernst genommen fühlten. Dabei haben wir – ganz unabhängig von rassistischer Markierung – festgestellt, dass diese schon bei jeder dritten Frau der Fall war. Jede dritte Frau – das ist schon eine erstaunliche Zahl! Wenn wir die rassistische Markierung noch mit „dazurechnen“, betrifft das sogar mehr als ein Drittel der muslimischen und asiatischen Frauen.
Gab es Unterschiede zwischen Gruppen mit rassistischer Markierung?
In unseren qualitativen Interviews haben wir festgestellt, dass muslimischen Frauen oft eine eigene Sexualität abgesprochen wird. Wenn sie bestimmte Untersuchungen zu sexuell übertragbaren Krankheiten anfordern, wird zu ihnen zum Beispiel gesagt: „In Ihrem Kulturkreis brauchen Sie sich darum keine Sorgen zu machen“. Bei Schwarzen Frauen wiederum kam es häufiger zu einer Hyper-Sexualisierung. Bei ihnen werden z.B. häufiger und sogar teilweise ungefragt HIV-Testungen durchgeführt. Insgesamt betrachtet kann man im Hinblick auf die allgemeinen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Alltag nicht sagen, dass eine Gruppe besonders benachteiligt ist. Vor allem Schwarze Männer und Frauen haben aber davon berichtet, dass sie im Alltag schlechter behandelt werden als andere, dass sie zum Beispiel beleidigt oder nicht ernst genommen werden.
Was für Konsequenzen hat Diskriminierung im Gesundheitsbereich?
Wenn Krankheiten nicht richtig diagnostiziert werden, kann das einen starken Einfluss auf den Verlauf haben. Außerdem sind die Menschen später vielleicht nicht mehr dazu in der Lage zu arbeiten. Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen können dazu führen, dass Personen seltener oder später zu einer Untersuchung gehen und ihre Krankheiten dadurch unbehandelt bleiben. Hinzu kommt das Problem von Geflüchteten, die in den ersten 18 Monaten oft gar keinen eigenen institutionellen Zugang zu Ärzt*innen haben – sondern nur über Sachbearbeiter*innen ohne medizinische Ausbildung. Diese institutionelle Diskriminierung kann für Geflüchtete fatale Folgen haben, wenn sie z.B. aufgrund ihrer Fluchterfahrungen traumatische Erlebnisse mit bringen. All dies hat sowohl Konsequenzen für die einzelnen Betroffenen als auch für die Gesellschaft als Ganzes.
Diskriminierungserfahrungen können bei den Betroffenen auch zu Vertrauensverlust führen. Wie wir herausgefunden haben, setzen gerade rassistisch markierte Menschen großes Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem. Wenn wir dies in unserer Datenanalyse mit ihren Diskriminierungserfahrungen verknüpfen, sehen wir aber: Je mehr und je häufiger schlechte Erfahrungen gemacht werden, desto niedriger fällt am Ende das Vertrauen aus. Wenn sie nicht ernst genommen oder von Ärzt*innen oder von anderem medizinischem Personal schlechter behandelt werden, sinkt das Vertrauen rapide.
Was bedeutet dies für die mentale Gesundheit der Betroffenen?
Es gibt deutliche Zusammenhänge: Je mehr Diskriminierungs- und Rassismus-Erfahrungen eine Person macht, desto eher zeigt sie Symptome einer depressiven Erkrankung oder einer Angststörung. Gleichzeitig sehen wir, dass die Diskriminierung gerade in der psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland am größten ist. Ein Gefühl der Benachteiligung kann sich nicht nur nachteilig auf den Krankheitsverlauf auswirken.
Wir haben auch herausgefunden, dass rassistisch markierte Menschen früher aufhören, sich um einen Therapieplatz zu bemühen. Jede zweite Person gibt ganz auf. Gerade bei der psychotherapeutischen Versorgung besteht aus meiner Sicht also dringender Handlungsbedarf.
Gibt es vergleichbare Studien aus anderen europäischen Ländern?
In diesem Umfang meines Wissens nicht. Der NaDiRa ist europaweit das erste Projekt, das sich so tiefgreifend und umfassend mit Rassismus auseinandersetzt. Natürlich sehen wir in der internationalen Forschungsliteratur, dass dieses Problem auch in anderen Ländern existiert. Die Studien sind allerdings nicht eins zu eins vergleichbar. Es gibt zwar schon Ideen für europa- weite Studien, aber konkret ist bis jetzt noch nichts passiert.
Haben Sie als Privatperson vergleichbare Erfahrungen gemacht?
Als Erwachsene hatte ich tatsächlich noch nie den Eindruck, dass ich durch Ärzt*innen schlechter oder anders behandelt wurde. Mein Doktortitel bringt hier natürlich auch Vorteile mit sich. Außerdem habe ich ja entsprechende Sprachkenntnisse. In meiner Kindheit und Jugend gab es allerdings schon hin und wieder schlechte Erfahrungen mit Ärzt*innen, wobei ich damals zu jung war, um das jetzt genauer zu beurteilen.
Was müsste sich aus Ihrer Sicht im Gesundheitssystem ändern?
Zum Beispiel könnte man bei der Ausbildung ansetzen und die Lehrmaterialien für das Medizinstudium überarbeiten. Es ist ja heutzutage kein Problem mehr, über einen Online-Appendix z.B. Krankheitsbilder in der Krebsdiagnostik bei verschiedenen Hauttypen darzustellen. Medizinstudierende lernen oft überhaupt nicht, wie eine Hautkrebserkrankung bei Schwarzen Menschen aussieht. Bei der Terminvergabe sind digitale Lösungen eine gute Möglichkeit – also Apps, Emails oder ein Onlinesystem, bei denen es keine Interaktion mit einer terminvergebenden Person gibt. Ansonsten sprechen wir uns sehr klar für Fortbildungen aus, bei denen aus einer rassismuskritischen Perspektive bestimmte Stereotype, Vorurteile oder rassistische Wissensbestände thematisiert werden.
Ein wichtiger großer Faktor in der Ursachenforschung ist aus meiner Sicht der Zeitmangel. Menschen neigen besonders dann dazu, auf Vorurteile zurückzugreifen, wenn sie keine Zeit haben und daher schnell ein Urteil fällen oder eine Diagnose stellen müssen. Gerade dann greift man auf Schubladen zurück und ordnet Menschen in diese ein. Es würde schon sehr viel helfen, wenn man Ärzt*innen und anderes medizinisches Personal entlasten würde. Mit mehr Zeit könnte man also auch Rassismus und Diskriminierung entgegenwirken.
Weitere Informationen zum NaDiRa: →https://www.rassis- musmonitor.de/
Stephanie Hügler
MÄA 10/2024 vom 06.05.2024