Leitartikel

„Dieses System können wir nicht weiterführen“ – Der Pflegebevollmächtigte Andreas Westerfellhaus im Interview

Immer häufiger werden Betten in Kliniken abgemeldet, immer mehr Patienten leiden unter dem allgemeinen Pflegemangel. Der ÄKBV stellte sich dem Thema in der Veranstaltung „Notfall Pflege“ am 20. Juni. Mit dabei: der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus. In einem Gespräch mit der MÄA erläuterte er, was geschehen muss und kann, damit die pflegerische Versorgung künftig wieder besser klappt.
Pflegebevollmächtigter Andreas Westerfellhaus, Fotograf: Kai Abresch
Pflegebevollmächtigter Andreas Westerfellhaus, Photo: Kai Abresch

Herr Westerfellhaus, was waren Ihre wichtigsten Anliegen bei der ÄKBV-Veranstaltung „Notfall Pflege“?

Meine Grundthese ist: Wir benötigen eine sichere und qualifizierte Patientenversorgung, und dafür brauchen wir in allen Sektoren interprofessionelle Teams. Elementarer Bestandteil dieser Teams ist ausreichend qualifiziertes Pflegefachpersonal. Die Realität ist aber derzeit ein Fachkräftemangel in allen Sektoren. In der ÄKBVVeranstaltung haben wir uns gefragt: Wie konnte es dazu kommen? Und was muss man tun, um dieser Entwicklung entgegen zu steuern? Es geht schließlich hier nicht um die Ideologie einer Berufsgruppe. Pflege ist kein Selbstzweck: Ohne Pflege gibt es keine OPs, keine Krankenhausaufenthalte und auch keine sichere Versorgung zu Hause als Neugeborener oder alter Mensch.

Was für Lösungsansätze gibt es? Was können Sie sich für Großstädte wie München vorstellen?

Das Problem ist nicht auf München beschränkt, sondern gilt generell in Deutschland, obwohl natürlich die Ballungszentren ganz besondere Herausforderungen zu bewältigen haben. Der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat zu Recht ein Sofortprogramm für die Pflege aufgelegt, das zum Beispiel zusätzliche Pflegefachkräfte in der Behandlungspflege, die Zahlung von Tariflöhnen in Krankenhäusern, die Festsetzung und Verhandlung von Personaluntergrenzen usw. zum Inhalt hat. Trotz all dieser strategischen Lösungen bleibt aber die Frage: Wo bekommen wir die Pflegekräfte her? Eine wichtige Ursache für den Pflegemangel ist doch, dass viele Pflegenden aus dem Beruf aussteigen oder sich in Teilzeit anstellen lassen, weil sie zu wenig Kolleginnen und Kollegen haben. Wenn aber immer mehr Pflegekräfte wegen des Personalmangels kündigen oder weniger arbeiten, vergrößert sich das Problem. Die Frage ist also: Wie können wir diese Spirale stoppen?

Was kann und muss man Ihrer Ansicht nach tun?

Wir müssen verhindern, dass noch mehr Pflegekräfte aus dem Beruf aussteigen. Und diejenigen, die bereits ausgestiegen sind, müssen wir wieder zurückholen. Dazu überlegen wir, zumindest für einen befristeten Zeitraum mit Prämien für Berufsrückkehrer zu arbeiten. Wir möchten das Vertrauen der Pflegekräfte zurückgewinnen, indem wir ihnen versprechen: „Es wird sich an den Strukturen etwas ändern!“ Ein zweiter Schritt wäre, die Arbeitszeit von 100 auf 80 Prozent bei Beibehaltung des vollen Lohns zu reduzieren, um damit die hohen Krankheits- und Ausfallzeiten vieler Pflegender durch die hohe Arbeitsbelastung drastisch zu reduzieren. Schweden hat mit diesem Modell große Erfolge verzeichnet. Das Deutsche Institut für angewandte Pflegewissenschaften (DIP) hat für Deutschland ausgerechnet, dass wir damit über 40.000 zusätzliche Vollzeitstellen schaffen könnten.

Was könnten diese Schritte bewirken?

Wenn wir mehr Personal haben und das Personal dadurch weniger belastet ist, können die Pflegenden bei den Patienten präsenter sein. Außerdem brauchen wir eine erhebliche tarifliche Aufwertung der Arbeitsverhältnisse und eine stärkere berufliche Autonomie. Das wird bei Teilen der Ärzteschaft womöglich Stirnrunzeln verursachen. Aber viele Pflegende beklagen, dass sie zwar gut ausgebildet sind, aber in der Praxis aus berufsrechtlichen Gründen ausschließlich von Delegationsanweisungen abhängig sind.

Was möchten Sie tun, um die Verantwortung der Pflegenden aufzuwerten?

Pflegende brauchen berufsrechtliche Grundlagen, die auch eigenständige Tätigkeiten zum Wohle des Patienten ermöglichen – immer im Rahmen von Teams und interprofessioneller Arbeit. Sie wollen keine „kleinen Ärzte“ sein oder ärztliche Aufgaben abnehmen, aber es müssen ihnen klar definierte Aufgaben zustehen. In der letzten Legislaturperiode haben wir das Pflegeberufe-Reformgesetz verabschiedet, und derzeit wird die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung überarbeitet, die genau das und die selbstständige Ausübung der Heilkunde regeln soll. Außerdem brauchen wir andere Arbeitszeitmodelle und eine Eindämmung der Leasingquoten bei Pflegekräften in den Krankenhäusern. 

Hohe Leasingquoten können einen erheblichen Einfluss auf die Arbeitsatmosphäre bewirken. Attraktive Arbeitszeiten werden möglicherweise für Leasingkräfte ermöglicht. Das Stammpersonal muss allerdings im Rahmen von Sicherstellung auftretende Besetzungslücken kontinuierlich ausgleichen. Zusätzlich entstehen durch Leasingkräfte immens hohe Personalkosten, die wiederum die anderen Pflegenden und die Allgemeinheit ausbaden müssen. Ich denke, dass wir über meine Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitssituation der Pflegenden das Personal-Hopping in den Krankenhäusern reduzieren, wenn nicht sogar ganz überflüssig machen können. Die Identifikation mit einem Arbeitgeber und die kontinuierliche Zusammenarbeit im Team ist eine entscheidende Voraussetzung für gute Arbeitsatmosphäre und damit auch für eine bessere Personalbesetzung.

Lässt sich Ihr Vorschlag, dass Pflegekräfte nur noch 80 Prozent arbeiten sollen, denn gesellschaftlich durchsetzen?  Kommen dann nicht auch Lastwagenfahrer und Angehörige anderer unterbezahlter Berufe auf die gleiche Idee?

Zunächst bin ich ja nicht der Lastwagenfahrer-, sondern der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, und ich habe einen klaren Auftrag, mich darum zu kümmern, dass wir dieses gesamtgesellschaftliche Problem lösen. Gerade habe ich Zahlen aus einem Krankenhaus in Münster gelesen: Dort fehlen derzeit 120 Pflegekräfte. In Deutschland werden Intensivplätze aus Personalmangel reduziert, Operationen werden verschoben, ambulante Pflegedienste nehmen in einigen Regionen keine Patienten mehr auf. Es ist also schon fünf oder sogar zehn nach zwölf. Natürlich müsste man ein solches Programm wie das von mir vorgeschlagene für eine begrenzte Zeit, also z. B. für die nächsten drei Jahre, konzipieren, und seine Wirkung währenddessen wissenschaftlich evaluieren. Und natürlich kann man ein solches System nicht auf Dauer finanzieren, sondern es muss sich irgendwann selbst tragen. Wir möchten auch nicht dauernd mit Prämien arbeiten, sondern wollen langfristig die Rahmenbedingungen in der Pflege so verbessern, dass es wieder mehr Pflegende gibt. Die Rahmenbedingungen in der Pflege haben sich ja deshalb so existentiell verschlechtert, weil zu häufig Pflegestellen im Rahmen von Kosteneinsparungen reduziert wurden.

Aber ist das alles denn überhaupt finanzierbar?

Dass es finanziell nicht machbar ist, ist ein Totschlagargument für alles. Erst vor Kurzem ging durch die Presse, dass unser Staat 64 Milliarden Euro an Überschüssen erwirtschaftet hat. Hier geht es nicht um finanzielle Wohltaten, sondern um die existentielle Versorgung der Menschen mit dem höchsten Gut, nämlich mit Leistungen, die unserer Gesundheit zugute kommen. Dazu muss dieser Staat das Thema angehen. Es kostet auch nicht alles Geld, was ich vorgeschlagen habe. Im Gegenteil: Wenn es funktioniert, können wir durch die Verringerung der Arbeitszeit auf 80 Prozent geringere Ausfallzeiten beim Personal erreichen und dadurch Geld einsparen. Wenn man Tariferhöhungen durchsetzt, so wie das vor Jahren auch die Ärzteschaft geschafft hat, geht das natürlich nicht ohne zusätzliche Kosten. Aber diese Gesellschaft muss sich entscheiden, was sie will. Sie kann nicht nur kritisieren, dass es Wartezeiten bei der Versorgung gibt, dass man für eine Entbindung 50 Kilometer fahren und eine Intensivstation mit dem Hubschrauber von einem Krankenhaus zu Krankenhaus fliegen muss.

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Pflegende brauchen berufsrechtliche Grundlagen, die auch eigenständige Tätigkeiten zum Wohle des Patienten ermöglichen – immer im Rahmen von Teams und interprofessioneller Arbeit. Sie wollen keine „kleinen Ärzte“ sein oder ärztliche Aufgaben abnehmen, aber es müssen ihnen klar definierte Aufgaben zustehen.

Pflegebevollmächtigter Andreas Westerfellhaus

 

Sie haben vorhin auch die ambulanten Pflegedienste angesprochen. Sind sie nicht die Leidtragenden, wenn die
Pflegekräfte in den Kliniken entlastet werden?

Meine Reformvorschläge gelten für alle Sektoren, gerade auch für die ambulante Versorgung. Hier geht es neben der Verbesserung der Arbeitsbedingungen auch um eine sachgerechte Entlohnung von Leistungen durch den Pflegedienst durch die Kostenträger. Dieses System können wir so nicht weiterführen.

Ist der Pflegemangel denn vor allem eine Geldfrage? Manche sagen, die Pflege habe vor allem ein Imageproblem...

Natürlich hat die Pflege auch ein Imageproblem, aber das ist nicht dadurch zu lösen, dass wir z.B. in München am Stachus Werbeplakate an die Wände der U-Bahn- Stationen hängen. Wertschätzung drückt sich unter anderem darin aus, wie eigenständig jemand arbeiten darf und wie die Tätigkeit einer Profession wahrgenommen wird. Wenn ich jemanden drei Jahre lang hoch qualifiziert ausbilde und dieser Person anschließend sage: „Du darfst keine eigenständige Entscheidung z.B. bei der Versorgung. chronischer Wunden treffen, sondern bist ausschließlich auf Delegation angewiesen“, dann zeigt das eine geringe Wertschätzung dieser Person und ihrer Qualifikation. Fehlende Autonomie ist das, was viele Pflegekräfte neben der Personalmangelsituation am häufigsten beklagen. Und natürlich zeigt sich die Wertschätzung einer Profession auch darin, wie sie finanziell ausgestattet wird.

Wie können Ärztinnen und Ärzte als eng mit den Pflegekräften zusammen arbeitende Berufsgruppe dazu beitragen, 
den Pflegemangel zu entschärfen?

Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Physiotherapeuten usw. sind die Leistungsträger in den Krankenhäusern. Es ist wichtig, dass sie alle sehr viel mehr ihre Gemeinsamkeiten betonen und ihre gemeinsamen Interessen vertreten. Wenn jeder nur seiner eigenen Ideologie folgt, lassen sie sich in der Diskussion um eine bessere Versorgung auseinander dividieren. Wir brauchen ein neues Miteinander! Viele ärztliche Fachgesellschaften gehen bereits diesen Weg. Beim Deutschen Pflegetag 2018 hielt der Vorsitzende der Deutschen

Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Prof. Dr. med. Cornel Sieber, die Keynote. Er hat betont, dass ohne professionelle Pflege in den Krankenhäusern nichts geht. Auch der Deutsche Chirurgenverband, die Kardiologen und Intensivmediziner sagen: Ohne professionelle Pflege können wir in den Krankenhäusern keine sichere Versorgung garantieren.

Ist die Kooperation mit der Ärzteschaft also bereits gut, oder gibt es noch Luft nach oben?

Es gibt in jedem Fall noch Luft nach oben. In vielen Bereichen haben wir schon gute Ansätze und vor Ort in vielen Krankenhäusern klappt es auch gut mit der Zusammenarbeit. Aber wir brauchen auch eine institutionelle Zusammenarbeit. Je weiter man in den Institutionen nach oben geht, desto schwieriger wird die Diskussion. Nehmen Sie etwa die berufsständischen Vertretungen. Hier neigt man häufig – nicht immer – eher dazu, alte Strukturen zu bewahren. Ich glaube, dass die Institutionen zeigen müssen, wie wichtig ihnen das Miteinander ist. Diese Gesellschaft kann nicht ohne Ärzte funktionieren, sie kann es aber auch nicht ohne Pflegende! Um es überspitzt zu formulieren: Die Menschen gehen ja wegen der Pflege ins Krankenhaus, weil Diagnostik und Therapie eben anschließend professionelle pflegerische Versorgung erfordern.

Beim Deutschen Ärztetag 2018 sind die Delegierten spontan aufgestanden und haben eine Minute lang für den Spot „1min.care“ geklatscht. Was halten Sie davon?

Das war ein wichtiges Zeichen. Als ich damals davon gelesen habe, war ich zunächst ungläubig. Als sich mein Erstaunen dann gelegt hatte, habe ich mich sehr gefreut. Das war ein wichtiges Zeichen, aber dem müssen nun auch Taten folgen. Dass ich als Pflegebevollmächtigter vom Ärztlichen Kreis- und Bezirksverband eingeladen wurde, um über das Thema Pflege zu sprechen, war ein wichtiges Signal. Es ist wichtig, das Gemeinsame zu betonen, und nicht das Trennende.


Das Gespräch führte Stephanie Hügle