Leitartikel

Die Versorgungsärzte im Interview. "Die Hausärzte tragen die Hauptlast"

Wie lässt sich verhindern, dass die Kliniken mit relativ leicht erkrankten Covid-19-Patienten überlastet werden? Wie kann man die hausärztliche Versorgung in Krisenzeiten weiter sicherstellen? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigen sich die beiden Versorgungsärzte ?ür München Stadt und Land, Dr. Florian Vorderwülbecke und Dr. Oliver Abbushi.

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Herr Dr. Vorderwülbecke, Herr  Dr. Abbushi, was sind Ihre Aufgaben als Versorgungsärzte und für wen arbeiten Sie?

Abbushi: Wir sind für insgesamt vier Punkte im Zusammenhang mit der Coronaversorgung zuständig: Erstens für die Einrichtung von Schwerpunktpraxen zur Untersuchung und Behandlung von Covid-19 Patienten und die Rekrutierung des dafür nötigen Personals. Zweitens für die Planung und Vorbereitung von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der ärztlichen Grundversorgung. Drittens für die Unterstützung der Führungsgruppe Katastrophenschutz bei der Beschaffung und Verteilung der Schutzausrüstung für die Arztpraxen. Und viertens für die Unterstützung bei der Einrichtung und dem Betrieb von örtlichen Testzentren, einschließlich der etwaigen Verpflichtung medizinischen Personals. Als Versorgungsarzt für München / Land ist mein Arbeitgeber das Landratsamt München, und ich bin direkt dem Landrat unterstellt.

Vorderwülbecke: Ich bin seit dem 01. April als Versorgungsarzt in der Führungsgruppe Katastrophenschutz der Stadt München tätig und unterstehe dem Oberbürgermeister Dieter Reiter.

Wie viele Schwerpunktpraxen gibt es, und betreiben Sie diese selbst?

Vorderwülbecke: Im städtischen München haben wir eine Schwerpunktpraxis eingerichtet, in der ich aber nicht selbst arbeite. Wir nutzen dafür ein festes Gebäude mit einer schlagkräftigen Ambulanz auf der Theresienwiese, das sonst während des Oktoberfests als „Wiesnwache“ dient. Die Praxis wird von der Firma Aicher betrieben, die auch in den letzten beiden Jahren während des Oktoberfests dort ihren Sanitätsstandort hatte. Aktuell arbeitet dort jeweils ein Arzt, im Schichtbetrieb von 8.30 bis 21 Uhr. Wir hatten aber auch schon zwei Ärzte gleichzeitig vor Ort, und theoretisch könnte man noch mehr Kolleg*innen dort beschäftigen, ohne dass es eng wird. Aktuell behandeln wir im Schnitt vier Infektpatienten pro Stunde unter Vollschutz.

Wie voll ist die Schwerpunktpraxis derzeit?

Vorderwülbecke: Die Infektzahlen sind ja erfreulicherweise deutlich rückläufig, was sich auch in der Schwerpunktpraxis zeigt: Zuletzt hatten wir am Tag nur 20 bis 30 Patienten, ein deutlicher Rückgang im Vergleich zum April mit bis zu knapp 80 Patienten am Tag. Wir beobachten die Situation jeweils für ein paar Tage und entscheiden dann neu.

 Wie kommen die Patienten zu Ihnen?

Vorderwülbecke: Wir sind eine reine Terminpraxis. Wir möchten unbedingt verhindern, dass jeder dort einfach spontan vorbeikommt – auch, damit sich infektiöse Patienten nicht einfach mit der U-Bahn durch München bewegen. Einen Termin erhält man entweder über die Vermittlungszentrale der KVB, über die Nummer 116117, oder aber über seinen Hausarzt.

Genügt diese Versorgung aus Ihrer Sicht?

Vorderwülbecke: Derzeit genügt es, weil wir genügend Kapazität haben, um bei Bedarf flexibel reagieren zu können. In der Hinterhand haben wir noch einen Plan B, bei dem wir ggf. über die Stadt verteilt mehrere Schwerpunktpraxen einrichten würden. Der Patient wird in der Schwerpunktpraxis wie in einer Bereitschaftspraxis untersucht. Ein Abstrich wird nur dann gemacht, wenn der untersuchende Kollege das für notwendig hält – das ist derzeit schätzungsweise bei etwa dreiviertel aller Patienten der Fall. In München /Stadt haben wir den Vorteil, dass wir quasi direkt neben der Praxis die Teststation haben. Das schafft eine gute Synergie. Ich schätze, dass derzeit in ganz München etwa zehn Prozent der Getesteten positiv sind.

Abbushi: Als ich den Job für den Münchner Landkreis übernommen habe, gab es schon ca. 20 Testzentren, viele als „Drive-through“, für die insgesamt 29 Gemeinden. Diese wurden meist in Zusammenarbeit mit den Gemeinden und dortigen Ärzten und der KVB aufgebaut. Mittlerweile sind zudem vier Schwerpunktpraxen in Betrieb – in Unterföhring, Ottobrunn, Oberhaching und Gräfelfing. In einem Rundschreiben an die niedergelassenen Ärzte haben wir diese darüber informiert. Vorher hatten wir in einer Umfrage herausgefunden, welche Kolleg*innen dort mitarbeiten möchten. Allerdings möchte ich betonen, dass ein Großteil der Infektpatienten noch immer in den niedergelassenen Praxen versorgt wird. Vor allem die Hausärzt*innen tragen die Hauptlast. Unsere Schwerpunktpraxen sind vor allem für diejenigen Patienten konzipiert, die aus irgendwelchen Gründen nicht im niedergelassenen System unterkommen, weil ihr Arzt sie nicht behandeln kann – z.B. wegen fehlender räumlicher Gegebenheiten, fehlender Schutzkleidung oder weil er oder seine Angestellten selbst Risikopatienten sind.

 Erhalten Sie von den Hausärzt*innen eine Rückmeldung, wie stark diese derzeit ausgelastet sind?

Abbushi: In den ersten Märzwochen hatten wir dort einen massiven Andrang und auch viel Arbeit auf den Teststrecken. Das hängt damit zusammen, dass Corona damals deutlich aktiver war als jetzt. In den Landkreisen werden zur Zeit täglich zwischen fünf und zehn Fälle gemeldet. Der Bedarf ist nicht mehr der Gleiche wie im März, weil die Erkältungssymptomatik insgesamt deutlich zurückgegangen ist.

Vorderwülbecke: In München sind es ein bisschen mehr – in der ersten Maiwoche waren es im Schnitt 35 neue Fälle pro Tag. Eine unserer Herausforderungen ist es, angesichts der schwankenden Zahlen beweglich zu bleiben und uns anzupassen, wenn das notwendig wird. Allerdings kommen viele Schwankungen auch einfach durch Wochenendverschiebungen zustande oder weil es ein paar Tage dauern kann, bis die Zahlen in die Statistiken einfließen.

Ihre zweite Aufgabe ist es, die ärztliche Grundversorgung aufrecht zu erhalten. Wie gut klappt das derzeit?

Vorderwülbecke: Aus unserer Sicht ist das unsere Kernaufgabe. Jeder Patient muss gut versorgt sein – egal, ob akut oder chronisch erkrankt, ob mit oder ohne Infektion. Wir unterstützen dabei, organisieren und treffen dazu Absprachen. Aus meiner Erfahrung, läuft das derzeit gut. Wenn es bei Einzelheiten hakt, zum Beispiel, wenn die Praxen kein Schutzmaterial haben, kümmern wir uns darum. Unsere Aufgabe ist es, das Material aus dem Katastrophenschutzfundus so zu verteilen, dass die Bedürfnisse der Praxen neben denen der Kliniken und Altersheime nicht vergessen werden. Schließlich ist es die Aufgabe des ambulanten Bereichs, den Kliniken den Rücken freizuhalten, was die Kolleginnen und Kollegen in den Praxen auch erfolgreich tun

Ist aus Ihrer Sicht derzeit genügend Material vorhanden?

Vorderwülbecke: In der Stadt München ist es besser geworden. Uns wurden Masken, Desinfektionsmittel und Handschuhe nachgeliefert, es mangelt aber noch an Einwegschutzanzügen. Testkits hingegen gibt es in der Stadt München noch genügend.

Abbushi: Das Gleiche gilt für uns. Schutzkittel sind auch im Landkreis ein sehr schwieriges Thema, insbesondere in den Seniorenheimen. Auch bei uns hilft in diesen Fällen die Führungsgruppe Katastrophenschutz des Landkreises und in den Arztpraxen die KVB aus.

Vorderwülbecke: Schutzkittel sind offenbar bundesweit oder sogar weltweit noch immer knapp. Unser bisheriges Regelsystem ist für diese Katastrophensituation einfach nicht ausgelegt. Wir müssen also einfallsreich sein und zudem verantwortbare Kompromisse eingehen.

Wie ist es aus Ihrer Sicht grundsätzlich um die Versorgung in den Pflegeheimen bestellt?

Abbushi: Pflegeheime sind bei einer Coronainfektion sicher einer der empfindlichsten Orte. Wenn das Virus erst einmal in ein solches Haus Einzug gehalten hat, ist das für alle Beteiligten sehr, sehr belastend. Wir als Ärzt*innen versuchen trotzdem, die Versorgung dort aufrecht zu erhalten. Denn erkrankte Heimbewohner müssen bei Bedarf weiterhin untersucht und behandelt werden, und es muss z.B. darüber entschieden werden, ob sie ins Krankenhaus müssen, oder nicht. Die Heime müssen währenddessen die hygienischen Voraussetzungen zur Verhinderung von Neuinfektionen schaffen und die Infizierten isolieren.

Auch das Personal muss sich umstellen: Zum Beispiel versorgen in vielen Heimen die einen Pfleger*innen nur die Infizierten, während sich die anderen nur um die Nichtinfizierten kümmern. Ein besonderes Problem sind die Demenzstationen. Viele ältere Patienten vereinsamen außerdem derzeit in den Heimen und hören dann z.B. auf zu essen oder sind anderweitig psychologisch beeinträchtigt. Hinzu kommen die besorgten Angehörigen am Telefon. Ich kann nur meinen höchsten Respekt vor denjenigen ausdrücken, die dort derzeit die Verantwortung tragen. Ich habe aber noch ein anderes Anliegen: Neben den Pfleger*innen in den Heimen und Krankenhäusern waren auch unsere medizinischen Fachangestellten in den letzten Wochen massiv mit Corona konfrontiert. Auch sie wünschen sich Anerkennung, und auch für sie sollten meiner Ansicht nach mehr Anerkennung und ein finanzieller Bonus ins Auge gefasst werden.