Leitartikel

Die LMU-Uniklink in der Corona-Krise. Gesundheit muss Staatsaufgabe werden!

Wie bewältigen die Unikliniken die aktuelle Krise? Über das LMU-Klinikum informierte dessen Ärztlicher Direktor Prof. Dr. Karl-Walter Jauch im Gespräch mit den MÄA.
Die LMU-Uniklinik in der Corona-Krise. Gesundheit muss Staatsaufgabe werden!
Die LMU-Uniklinik in der Corona-Krise. Gesundheit muss Staatsaufgabe werden!

Foto: Shutterstock

 

Herr Prof. Jauch, wie ist die Stimmung derzeit bei Ihnen im LMU-Klinikum?

Ich würde sagen „angespannt entspannt“. Angespannt insofern, als wir alle darauf warten, wie viel an Belegung und vor allem an beatmungspflichtigen Patienten noch auf uns zukommt. Und entspannt, weil wir uns gut vorbereitet und Kapazitäten geschaffen haben, derer wir uns jetzt bedienen können. Wir haben derzeit 66 Covid-Patienten – davon 32 auf Intensivstationen, von denen ein Großteil beatmet wird, und einen an der ECMO, der künstlichen Oxygenierung. Aber wir hatten uns auf ganz andere Zahlen eingestellt. Ich glaube, es macht sich bemerkbar, dass rechtzeitig Ausgangsbeschränkungen verfügt wurden. Außerdem nehmen derzeit vor allem kleinere Häuser und Häuser der Region viele Patienten auf, sodass wir den großen „Schub“ wahrscheinlich erst bekommen, wenn diese „vollgelaufen“ sind.

Mit welchen Herausforderungen sind Sie aktuell konfrontiert?

Wir schulen unser Personal und die Medizinstudenten und stellen sie auf die kommenden Herausforderungen ein. Außerdem müssen wir das Schutzmaterial im Blick haben: Wir brauchen Masken für die Gesamtbevölkerung, besonders aber die persönliche Schutzausrüstung für Krankenhäuser, die Niedergelassenen und Pflegebereiche oder –dienste! Außerdem weiten wir die Testkapazitäten aus, zum Beispiel über das Pettenkofer-Institut, das nun über zusätzliche Geräte verfügt. Wir brauchen aber auch die für die Analyse notwendigen Chemikalien, und diese sind derzeit weltweit knapp. Daher helfen uns aktuell etwa Forschungslabore und die Fakultäten für Biologie oder Tiermedizin aus. Unter den verschiedenen Fakultäten gibt es derzeit einen großen Zusammenhalt.

Haben Sie noch genügend Schutzkleidung und -masken am Klinikum?

Werden Sie zentral vom Freistaat damit beliefert? Beim derzeitigen Verbrauch haben wir noch für die nächsten drei bis vier Wochen genügend Material, aber falls der Verbrauch steigen sollte, reicht es nicht. Die Nachlieferung ist noch immer kritisch, da 90 Prozent des Materials in China oder Indien produziert wird. Wir nutzen daher neben der zentralen Belieferung durch den Freistaat auch persönliche Kontakte. Einige Produkte erhalten wir weiter von unseren Stammlieferanten zu akzeptablen Preisen. Wir bekommen auch Spenden von Firmen. Viele Kauf-Angebote derzeit sind leider preislich unseriös.

Konnten Sie schon genesene Patienten entlassen? Sind vor allem ältere Patienten von der Krankheit schwer betroffen?

Mittlerweile konnten wir einige genesene Patienten entlassen. Zum Beispiel ist ein sechs Monate alter Säugling, der mit grippeähnlichen Symptomen, Fieber und Husten zu uns kam, mittlerweile wieder daheim. Von den bislang insgesamt 52 CovidIntensivpatienten konnten wir bis heute acht nach Hause entlassen, 15 sind auf die Normalstation verlegt worden. Leider sind auch fünf verstorben. Der Großteil unserer Patienten ist männlich, zwischen 40 und 80 Jahre alt. Die über Siebzig- und Achtzigjährigen haben aufgrund von Vorerkrankungen ein höheres Sterblichkeitsrisiko. Unsere große Sorge gilt daher aktuell den alten Menschen in den Pflegeheimen.

Wie gehen Sie damit um, dass Sie Pflegebedürftige nicht mehr in die Heime entlassen dürfen?

Das ist ein Problem. Derzeit werden uns häufig Patienten aus Pflegeeinrichtungen zuverlegt, mit zum Teil einfachen medizinischen Fragestellungen, zum Beispiel nur zum Katheterwechsel. Diese werden anschließend aber nicht mehr zurück übernommen. Das bereitet uns erhebliche Sorgen, denn wir können unsere Kapazitäten hier nicht mit Pflegepatienten ausschöpfen. Das geht zu Lasten der Patienten, die eine stationäre medizinische Versorgung brauchen. Wir haben an den Katastrophenstab geschrieben, dass wir dafür eine andere Lösung finden müssen. Dieser hat unverzüglich reagiert und Ausnahmen zugelassen.

Sind das Einzelfälle, oder passiert das häufiger?

Nein, bereits in der ersten Aprilwoche haben die Reha-Einrichtungen keine Patienten mehr übernommen. Dann kam die Verfügung zu den Pflegeheimen. Natürlich muss man die Pflegebedürftigen in den Heimen besonders schützen, denn sie haben ein hohes Risiko. Doch die Covid19-Ausbrüche dort sind fast immer von den Mitarbeiter*innen der Pflegeheime verursacht, nicht durch Besucher*innen oder kurzfristige medizinische Behandlung in den Krankenhäusern. Es kann nicht sein, dass wir Krankenhäuser nun die Pflegebedürftigen versorgen müssen!

Sind die Betten bei Ihnen dadurch schon voll besetzt?

Nein, wir haben noch immer viele freie Betten, weil wir ja auf einen reinen Notfallbetrieb umgeschaltet haben. Derzeit verschieben wir aber manche Pflegekräfte von den Normalstationen auf die Intensivstation. Und dort haben wir einen ganz anderen Pflegeschlüssel. Während wir auf einer Normalstation mit 15 Kräften 30 Patienten versorgen können, sind es auf der Intensivstation nur sechs Patienten. Bei uns am LMU Klinikum wird nicht die Zahl der Betten oder der Beatmungsplätze, sondern die Zahl der qualifizierten Pflegekräfte der entscheidende Faktor sein.

Was wünschen Sie sich von der Politik?

Wir von der Unimedizin wünschen uns, dass wir unsere Kompetenzen und Überlegungen noch besser einbringen können – wohl wissend, dass man im Katastrophenfall übergeordnete Sichtweisen haben und Entscheidungen treffen muss. Bei uns ist die Lage aber Gott sei Dank noch nicht so katastrophal, dass man nicht eine gewisse Diskussion und Expertenanhörung vornehmen könnte. Als Vorsitzender der Universitätsmedizin in Bayern habe ich frühzeitig für eine Ausgangsbeschränkung geworben, habe aber gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass man in der ganzen Pandemiesituation auch die „normalen“ Patienten ohne Covid-19 nicht vergessen darf. Sonst richtet man bei diesen Patienten mehr Schaden an als man bei den Covid-19-Patienten verhindern kann. Derzeit kommen weniger Patienten mit Verdacht auf Schlaganfall oder Herzinfarkt in die Notaufnahme und in die Praxen, offenbar, weil sie sich nicht trauen. Oder sie kommen erst in einem sehr späten Stadium zu uns. Wir machen uns Sorgen, dass wir in ein paar Wochen oder Monaten die Konsequenzen dessen erleben werden.

Sind die aktuellen Maßnahmen aus Ihrer Sicht noch sinnvoll bzw. ausreichend?

Derzeit beobachten wir eine klare Verlangsamung der Ausbreitung. Die entscheidende Frage für uns ist: Wie viele Patienten müssen wir auf der Intensivstation beatmen? Die Zahlen der Intensivpatienten haben ein Plateau erreicht. Inzwischen haben wir eine eigene Schätzung aus lokalen und regionalen Daten. Wir können nicht einfach die Annahmen aus China, Italien oder Frankreich auf Bayern übertragen. Zu berücksichtigen ist auch, wie lange die Patienten bei uns an der Beatmung bleiben. Es macht einen großen Unterschied, ob das zwei oder drei Wochen sind. Mit unserem Prognosemodell können wir selbst bei veränderten Rahmenbedingungen abschätzen, ob wir hinsichtlich unserer Beatmungsplätze ausreichend Kapazitäten haben.

Aktuell werden stichprobenartige Antikörpertests in der Bevölkerung durchgeführt...

Ja, unter Leitung von Prof. Hölscher am Tropeninstitut der LMU werden derzeit in 3.000 Haushalten rund 4.500 Proben genommen und ausgewertet. Wir hoffen, dass wir anhand der ersten 500 bis 1.000 Proben gleich ein Ergebnis sehen. Zwei Wochen später wird der Test wiederholt, um festzustellen, wie sich alles verändert. Dies soll über einen Zeitraum von etwa zwölf Monaten mehrfach wiederholt werden. Daneben nehmen wir auch kontinuierlich Proben von derzeitigen Mitarbeitern sowie von Mitarbeitern, die aufgrund von Kontakten zu SARS-CoV-2-Infizierten freigestellt wurden. Dadurch können wir die Immunität der Bevölkerung abschätzen. Wenn wir dann noch die Daten der von uns behandelten Patienten haben, können wir die Politik bei der Entscheidung, ob eine schrittweise Lockerung der Ausgangsbeschränkung erfolgen kann, unterstützen. Wir brauchen auf jeden Fall genügend Antikörpertests

Welche Schlussfolgerungen sollte man längerfristig aus der Krise ziehen?

Wir können grundsätzlich aus dieser Situation lernen. Erstens: Die Gesundheit der Bevölkerung muss künftig als Staatsaufgabe gesehen werden, nicht nur als Aufgabe der Kostenträger. Eventuell sollten wir manche föderale Strukturen und Strukturen der Selbstverwaltung anpassen. Zweitens sollten wir uns bei der Schutzausrüstung und auch bei Arzneimitteln wieder auf eine eigene Produktion rückbesinnen und uns nicht mehr von China und Indien abhängig machen. Drittens brauchen wir in der Gesundheitsversorgung mehr Netzwerke zwischen den Unikliniken und den Krankenhäusern der Region sowie eine durchlässigere Sektorengrenze. Und viertens müssen wir die Digitalisierung im Gesundheitssystem schneller vorantreiben. Hinsichtlich des Datenschutzes brauchen wir einen Konsens in der Bevölkerung, damit die Anwendung von digitaler Medizin leichter wird.

Haben Sie schon langfristige Schlussfolgerungen für Ihre Klinik getroffen?

Die Digitalisierung ist bei uns schon länger ein großes Thema. Leider mussten wir unsere Führungskräfteklausur dazu wegen Covid-19 absagen. Wir brauchen künftig mehr Telemedizin, Videosprechstunden, Patienten-Apps sowie Call-Center zur Betreuung der Patienten. Zusätzlich sind noch mehr Interdisziplinarität und der Abbau von Hierarchien nötig. Manches ist evtl. nur für die Krisensituation geeignet, aber einiges lässt sich sicher in die tägliche Routine übernehmen.