Chronobiologie: Zurück zur Natur
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Herr Prof. Roenneberg, wie wirkt sich die innere Uhr auf die Physiologie des Menschen aus? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es hierzu?
Das ist eine sehr berechtigte, aber falsche Frage, denn die innere oder circadiane Uhr ist selbst ein Teil der Physiologie mit einer Aufgabe: Sie muss einen individuellen 24-Stunden- Rahmen im Körper schaffen, mit dessen Hilfe sich alle Vorgänge im Körper zeitlich, über den Tagesverlauf hinweg, koordinieren lassen. Für die Kommunikation mit den anderen Funktionen der Physiologie und des Stoffwechsels nutzt sie nervöse Verbindungen, Transmitter, Hormone, etc. bis hin zum Auslesen, An- und Abschalten von Genen. Selbst der Abbau von Proteinen wird von der inneren Uhr moduliert.
Sie haben ein Buch über den Schlaf geschrieben. Wie hängt die innere Uhr mit dem Thema Schlaf zusammen?
Schlaf ist ähnlich wie Herzrate, Blutdruck oder Aufmerksamkeit ein Ausgang der inneren Uhr: Sie macht ein Fenster auf, in dem wir optimal schlafen können. Schlaf wird aber nicht nur durch die circadiane Uhr bestimmt. Es gibt mindestens noch einen zweiten Kontrollwert für den Schlaf, die Homöostase, also der Schlafdruck, der immer größer wird je länger man wach war. Grundsätzlich können wir auch außerhalb des circadianen Schlaffensters schlafen, z.B. etwa 12 Stunden versetzt zur eigentlichen Schlafenszeit, bei einem Mittagsschlaf oder einer längeren Siesta. Kurz vor der Öffnung des Fenster können wir aber meist nicht einschlafen, selbst wenn wir sehr erschöpft sind.
Häufig haben wir ja viel zu wenig Schlaf. Welche Krankheiten können aus Sicht der Forschung dadurch entstehen?
Prinzipiell alle. Es kommt auf den jeweiligen Menschen an. Sie könnten mich auch fragen: Was kann an einem Auto kaputt gehen, wenn ich keine Inspektion machen lasse? Da kann ich Ihnen nur sagen: Wenn Sie nicht darauf achten, dass die Bremsen nicht verrostet, die Filter nicht verstopft sind oder irgendwelche Leitungen nicht funktionieren, kann alles Mögliche passieren. Schlaf ist nicht direkt mit irgendwelchen Krankheiten verbunden, aber er hat viel mit dem Reparatur-Service, dem Immunsystem, und vielen anderen Aufgaben zu tun, von denen wir viele wahrscheinlich noch gar nicht kennen. Wenn wir diese Zeit beschränken, ist es so als würden wir unser Auto nie zur Inspektion bringen.
Was müsste geschehen, welche Änderungen bräuchten wir, damit die Menschen wieder lang genug schlafen?
Da muss ich etwas ausholen: Die innere Uhr wird zunächst nur durch Licht und Dunkelheit gestellt, denn sie ist über Jahrmillionen in einem Tag-Nacht-Rhythmus entstanden. Vor der Industrialisierung und der Verbreitung des künstlichen Lichts erhielten die meisten Menschen tagsüber sehr viel Licht, weil sie draußen gearbeitet haben, nachts dafür so gut wie keines. Der Unterschied zwischen Tag und Nacht war riesig und dadurch ein sehr starker, sogenannter „Zeitgeber“ für das Stellen der inneren Uhr. Durch die Industrialisierung haben wir diesen Zeitgeber aber bis ins Lächerliche abgeschwächt. Tagsüber halten wir uns meistens in Gebäuden auf. Dort
haben wir nicht 100.000 Lux oder mehr wie draußen, sondern bekommen mit Glück vielleicht 400 Lux ab. Und nachts haben wir nicht fast 0 Lux, sondern 10 bis 50 Lux oder sogar mehr, kurz bevor wir einschlafen. Wir haben den Zeitgeber also an beiden Enden geschwächt, und das führt dazu, dass die innere Uhr individuell sehr spezifisch reagiert.
Was für individuelle Reaktionen können das sein?
Es gibt individuelle Chronotypen: Die innere Uhr stellt sich aufgrund von genetischen Faktoren, aber auch Lichtverhältnissen, individuell früher oder später ein. Wir kennen die Einteilung von Menschen in Lerchen – extreme Frühtypen – und Eulen – extreme Spättypen, je nachdem, wie sich die innere Uhr in den Tag-Nacht-
Rhythmus einbettet. Früher waren diese individuellen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung eher gering. Doch das hat sich geändert: Durch den geschwächten Zeitgeber werden die extremen Frühtypen auf noch „früher“ und alle anderen auf noch später „gepolt“. Die Verteilungskurve wird extrem auseinandergezogen, und der Mittelwert der Verteilung ist ein späterer Zeitpunkt. Die industriellen Licht-Dunkel-Bedingungen haben dazu geführt, dass die meisten inneren Uhren gegenüber den sonstigen sozialen Zeiten zu spät dran sind. Es gibt ein ganz einfaches Mittel, das zu messen. Wenn Sie nach Ihrem individuellen circadianen Fenster schlafen, wachen sie morgens nämlich von alleine auf und sind relativ frisch. Aber wie viele Menschen müssen sich früh morgens einen Wecker stellen, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen? Da kommen Sie auf Zahlen zwischen 80 und 85 Prozent! Das liegt daran, dass das circadiane Fenster aufgrund der Lichtverhältnisse zu spät dran ist, sich aber die Arbeitszeiten – gerade in Deutschland – nur wenig geändert haben.
Dann könnte man ja einfach sagen: Man muss eben früher ins Bett gehen...
Genau das funktioniert eben nicht, weil einen das System vor der Öffnung des circadianen Schlaf-Fensters wach hält. Daher sammeln wir alle während der Woche ein Schlafdefizit an. Es gibt natürlich auch andere Gründe für zu schlechten oder unruhigen Schlaf, z.B. psychische Belastungen, Krankheiten oder eine bestimmte Schlafpathologie. Aber wir könnten zwei Dinge verändern: In Zukunft müssten wir erstens die gleiche Licht-Dunkel-Situation herstellen wie wir sie hätten, wenn
wir Camping machen würden und abends nur am Lagerfeuer säßen. Dann würden die meisten wieder zu früheren Chronotypen und die ganz frühen müssten nicht mehr so früh ins Bett. Natürlich können wir das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. Aber wir können dafür sorgen, dass tags mehr Tageslicht in die Räume kommt und wir nach Sonnenuntergang die Blauanteile im künstlichen Licht wegfiltern, weil sie am Abend die innere Uhr besonders stark nach hinten verstellen. Das gilt natürlich auch für alle Bildschirme, vom Fernseher bis zum Handy.
Und zweitens?
Zweitens leben wir in einer schizophren agierenden Gesellschaft: Auf der einen Seite will sie eine 24/7-Wirtschaft haben, die global agiert. Auf der anderen Seite wird man komisch angeschaut, wenn man nicht um 8 oder 9 Uhr in der Arbeit ist. Das heißt: Wir müssen unsere Arbeitswelt viel flexibler gestalten und umdenken. Die Diskrepanz zwischen dem, was wir unter der Woche leben müssen und was unsere innere Uhr möchte und am Wochenende vielleicht darf, nennen wir den sozialen Jetlag. Dieser soziale Jetlag ist in Deutschland besonders hoch, weil wir durchschnittlich sehr früh anfangen zu arbeiten. In England haben die Menschen genau die gleichen inneren Uhren, aber der soziale Jetlag ist geringer, weil die Engländer im Schnitt später anfangen zu arbeiten. Gleichzeitig sehen wir heute bei den Berufen, bei denen man nicht um sechs oder sieben Uhr morgens am Fließband stehen muss, dass sich der Berufsverkehr ein wenig nach hinten verschoben hat. Die Menschen gehen gemäß ihrer inneren Uhr etwas später zur Arbeit.
Wie soll das gehen, dass Arbeitszeiten noch flexibler werden?
Es muss umgedacht werden. Die Prämisse der Arbeitgeber muss lauten: Ich möchte, dass Du ohne Wecker aufwachst und erst dann zur Arbeit kommst. Arbeitgeber bekommen dann die Arbeitnehmer zu ihrer besten Zeit. Das erhöht die Produktivität und erniedrigt den Krankenstand. Der Arbeitnehmer hat besser geschlafen und hat mehr Freude an seiner Arbeit. Außerdem brauchen wir tagsüber eine andere Beleuchtung in den Gebäuden, z.B. sollte das Sonnenlicht, das uneingeschränkt auf dem Dach zur Verfügung steht, in die Decken der einzelnen Stockwerke gespiegelt werden. Die ganze Bau- und Architekturbranche muss anerkennen, dass Licht, innere Uhr und Schlaf mit Produktivität, höherer Zufriedenheit und besserer Gesundheit zusammenhängen. Unproduktivität, Unzufriedenheit, und Krankheit sind viel zu teuer!
Gleitzeitarbeit betrifft leider die wenigsten Ärztinnen und Ärzte. Viele arbeiten im Krankenhaus im Schichtdienst oder müssen ihre Praxis zu einer bestimmten Zeit öffnen... Was also tun?
Die Praxis kann sich entscheiden, welchen Teil der Bevölkerung sie „abdeckt“. Es gibt viele Menschen, die es furchtbar finden, dass ihre Praxis früh morgens aufmacht und schon nachmittags schließt, weil sie erst abends Zeit haben. Als Praxisarzt mit einem späten Chronotyp könnte man sich entscheiden, abends länger aufzuhaben. Schichten sind übrigens nicht schlecht. Wenn ein Schichtsystem an den Chronotyp angepasst ist, ist es sogar gut. Denn der normale“ Arbeitsbeginn morgens zwischen sechs und acht Uhr ist für die Mehrheit der Eulen so gut wie eine Dauerfrühschicht. Täglich müssen sie entgegen ihrer inneren Uhr aufstehen. In der Stahlindustrie haben wir in einem Experiment zum Beispiel die Mitarbeiter in verschiedene Gruppen eingeteilt: Die Spättypen mussten keine Frühschicht mehr machen, die Frühtypen keine Nachtschicht. Es zeigte sich, dass danach alle Mitarbeiter im Schnitt eine Stunde mehr pro Tag geschlafen haben – das sind fünf Stunden in einer Woche, obwohl manche mehr Nachtschichten übernommen hatten.
Waren die Menschen dann auch zufriedener?
Es kann ja auch soziale Gründe geben, warum eine Früh-oder Spätschicht trotz anderem Chronotyp evtl. attraktiver ist. Wenn Sie Menschen zu mehr Schlaf verhelfen und sie individuell mehr nach ihrer Biologie leben lassen, werden die meisten zufriedener. Alles andere muss man eben arrangieren. Das müssen Sie aber auch, wenn sie rotieren und alle Schichten machen. Aber zurück zum Krankenhaus: Wir haben gemeinsam mit Berliner Kollegen festgestellt, dass die Zahl der Folgerisiken einer Operation im Laufe eines Tages steigt. Das kann mehrere Gründe haben, aber einer ist sicherlich, dass viele Operateure und Anästhesisten von sieben Uhr morgens an im OP stehen – und gegen Abend nicht mehr fit sind. Die meisten Ärzte sind wahrscheinlich Frühtypen, da hauptsächlich Frühtypen ausgewählt werden, um Medizin zu studieren. Das fängt schon in der Schule an: Sie müssen ein Frühtyp sein, um mit relativ wenig Aufwand eine 1,0 zu erreichen. Wenn Sie ein Spättyp sind, sind Ihre Chancen auf gute Noten viel geringer, da Sie Ihre Prüfungen quasi in Ihrer biologischen Nacht ablegen müssen. Auch das haben wir gezeigt: Erst wenn Prüfungen nach 13 oder 14 Uhr abgelegt werden, haben Früh- und Spättypen die gleichen Chancen.
Was also sollten die Schichtplaner und Klinikdirektoren tun?
Im Krankenhaus könnte man mehrere relativ kurze Schichten von vier Stunden OP-Zeit einführen. Dadurch könnten die späteren Chronotypen ihre Schichten erst um 11 Uhr beginnen und die ganz späten Chronotypen womöglich erst um 15 Uhr. So ginge mit Sicherheit der Anstieg der postoperativen Komplikationen zurück. Natürlich haben die meisten Ärzte auch Familie, was dies kompliziert machen könnte. Aber wenn man umdenkt, könnte man zum Beispiel eine Gemeinschaftspraxis eröffnen, die morgens um sechs oder sieben Uhr aufmacht, damit diejenigen, die Frühtypen sind, dort von einem Frühtyp- Kollegen behandelt werden können.
Ein Spättyp kann dann den Spätdienst übernehmen. Sie könnten auch eine Siesta einführen, wenn mittags nicht so viele Patienten kommen. Die Siesta-Kultur in Südeuropa ergab sich ja daraus, dass man mittags wegen der Hitze einfach nicht arbeiten konnte, aber bis spät in die Nacht und schon früh am Tag die Arbeit unterbringen musste. Da einen die inneren Uhr gegen Mittag wieder relativ gut schlafen lässt, ist auch das eine gute Lösung.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler