Leitartikel

Autismus-Diagnose, Alles in Ordnung?

„Autismus“ ist eine Modediagnose geworden. Romantische Vorstellungen von hochintelligenten Menschen mit Sonderbegabungen füllen Bücher und Filme – und sorgen für überfüllte Spezialambulanzen. Prof. Dr. Matthias Dose, Psychiater und ehemals Ärztlicher Direktor am kbo-Klinikum Taufkirchen/Vils, erklärt, woran sich Autismus zeigt.
Autismus-Diagnose, Alles in Ordnung?
Autismus-Diagnose, Alles in Ordnung?

Foto: shutterstock

 

Herr Prof. Dose, was macht Autismus aus?

Beschrieben hat das Phänomen zunächst Leo Kanner, ein Kinder- und Jugendarzt in den USA, dem Eltern 1939 ihren Sohn vorstellten. Dessen außergewöhnliches Verhalten schilderten sie auf 30 Seiten: Er interessierte sich nicht für Kontakte, selbst der Besuch des Weihnachtsmanns ließ ihn kalt. Dafür kannte er die Präsidenten und das Lexikon von vorne bis hinten auswendig. Zusätzlich hatte er sprachliche Besonderheiten. Wenn er baden wollte, fragte er: „Willst Du baden?“ Kanner hat dies eins zu eins in Kriterien „übersetzt“ und dazu 1943 eine Arbeit publiziert. Darauf geht der im ICD-10 genannte frühkindliche oder „Kanner-Autismus“ zurück. Zeitgleich hat auch der deutsche Kinderarzt Hans Asperger 1943, mitten im Krieg, seine Arbeit „Autistische Psychopathen im Kindesalter“ veröffentlicht. Er beschrieb Menschen mit den gleichen Auffälligkeiten wie Kanner, nur ohne Störung der sprachlichen oder kognitiven Entwicklung. Dies findet sich im ICD-10 als „Asperger-Syndrom“ wieder. Sowohl ICD-10 als auch DSM-V beinhalten als Kriterien für eine Autismus-Diagnose den Beginn in der frühen Kindheit, Störungen der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie Stereotypien und Rituale.

Viele Menschen haben ein eher diffuses Bild, geprägt etwa von Filmen wie „Rain Man“ aus den 1980ern.

Noch im ICD-9 wurde Autismus den „kindlichen Schizophrenien“ zugeordnet. In ICD-10 und DSM-IV wurde Autismus dann unter den „tiefgreifenden Entwicklungsstörungen“ zu einer eigenen diagnostischen Kategorie. Wie „Rain Man“ zeigen viele Filme Sonderbegabungen, die es bei einem Teil der Menschen aus dem Autismus-Spektrum auch gibt. Nach neueren Untersuchungen geht man davon aus, dass etwa die Hälfte aller Betroffenen über eine normale Begabung, davon etwa 5 Prozent über eine Hoch- oder Spezialbegabung verfügen, während die andere Hälfte intellektuell eingeschränkt und in der Entwicklung retardiert ist.

Wie sicher lässt sich Autismus diagnostizieren?

Wenn Sie heute bei Google „Autismus-Spektrum-Störung“ eingeben, finden Sie dazu 1,2 Millionen Einträge. Von Mozart über Einstein bis zu Bill Gates oder Elon Musk wird auch vielen anderen Berühmtheiten „Autismus“ zugeschrieben, was ein positives Identifikationspotenzial schafft. Viele Erwachsene können sich daher am ehesten mit der Vorstellung identifizieren, ihre psychischen Probleme beruhten auf „Autismus“. Im Rahmen einer leitliniengerechten Diagnostik müssen wir aber feststellen, dass weniger als 20 bis 30 Prozent der Menschen, die uns in der festen Überzeugung aufsuchen, „Autisten“ zu sein, die entsprechenden Diagnose-Kriterien erfüllen. Dies führt derzeit leider zu langen Wartezeiten in den Spezialambulanzen.

Was könnte man dagegen tun?

Wir möchten besonders Erwachsenenpsychiater*innen und Psycholog*innen durch Fort- und Weiterbildungsangebote zu einem Vor-Screening befähigen. Spezialisierte Stellen könnten dann die personal- und zeitaufwändige Diagnostik übernehmen. Neben der Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen an der psychiatrischen Klinik der LMU unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Falter-Wagner bieten -vermittelt durch das Autismus-Kompetenz-Zentrum (www.autkom-obb.de) – auch das Isar-Amper-Klinikum (Frau Dr. Bonaccurso für München-Ost, Frau Dr. Bobrowski für Taufkirchen) und ich eine leitliniengerechte Diagnostik und ggf. auch Therapie an.. Mit autkom stehen alle in engem Kontakt und können in dringenden Fällen meist zeitnah helfen. Im autkom-München findet einmal im Quartal ein Qualitätszirkel statt, bei dem interessierte Kolleg*innen eigene Fragen und Fallberichte einbringen können (Informationen dazu auf www.autkom-obb.de

unter „Veranstaltungen“)

Wie kann ein Vor-Screening aussehen? Gibt es dazu vielleicht schon fertige Fragebögen?

Es gibt „Selbsttestangebote“ wie z.B. den AQ- oder EQ-Test von Simon Baron-Cohen, einem britischen Psychologen. Dieser enthält z.B. Fragen wie „ich ziehe es vor, Dinge immer wieder auf die gleiche Art und Weise zu tun“ oder „ich lese lieber ein gutes Buch als Small Talk zu führen“, für die jeweils in der Auswertung gleich bewertete Antworten wie „stimme eindeutig (nicht)…oder ein bisschen zu“, vorliegen. Dies führt zwar zu einer hohen Sensitivität für auch in der Normalbevölkerung vorkommende „autistische Züge“, jedoch auch zu fehlender Spezifität für Autismus-Spektrum-Störungen. Denn viele Menschen – auch ich – haben z.B. morgens eine immer gleiche Abfolge, wenn sie ins Bad gehen, duschen, frühstücken etc.. Wir aber haben die Flexibilität, auf dem Weg zur Dusche noch ans Telefon zu gehen, wenn dieses läutet. Der autistische Mensch hat in solchen Fällen größte Probleme, von seinem ritualisierten Verhalten abzuweichen. Wenn er auf dem Weg zur Dusche ist, darf nichts dazwischenkommen, sonst ist „der ganze Tag kaputt“. Beim Erstellen der S3-Leitlinien zur Diagnostik im Jahr 2015 und zur Therapie im Frühjahr 2021 (unter AWMF-Leitlinien im Internet verfügbar) mussten wir deshalb festhalten, dass insbesondere für die Diagnostik bei Erwachsenen derzeit keiner der einschlägigen Fragebögen oder Selbsttests empfohlen werden kann, sie deshalb für eine valide Diagnostik auch nicht obligat sind.

Haben Sie ein weiteres Beispiel?

Als ich noch als Ärztlicher Direktor am Isar-Amper-Klinikum in Taufkirchen an der Vils gearbeitet habe, hatte ich einen jungen Patienten aus Erding, der mit seiner Mutter in einem Sechs-Familien-Haus wohnte. Vor dem Haus gab es sechs Parkbuchten für die Bewohner*innen – allerdings waren diese den jeweiligen Bewohner*innen nicht mit Nummernschildern zugeordnet. Wie die Deutschen so sind, parkten die Müllers trotzdem aus Gewohnheit meist links außen und Hubers rechts außen. Wenn aber der autistische Jakob (alle Namen von der Redaktion geändert) morgens aus dem Fenster schaute, und die Autos nicht in der gewohnten Reihenfolge parkten, konnte die Mutter ihren Sohn nicht dazu bringen, sich anzuziehen, zu frühstücken und in die Förderschule zu fahren. Teilweise blieb ihr nichts anderes übrig als die Nachbar*innen zu bitten, ihre Autos umzuparken. Die meisten Menschen haben Gewohnheiten, aber ein Mensch mit Autismus kommt eben nicht damit zurecht, wenn es damit einmal nicht klappt.

Wie kann man sonst herausfinden, ob Erwachsene autistisch sind?

Störungen der sozialen Interaktion und Kommunikation, Stereotypien und Rituale müssen in einer funktions- und sozial beeinträchtigenden Form bereits in der Kindheit vorhanden gewesen sein. Wenn bei jemandem die Probleme erst in der Pubertät oder Adoleszenz eingesetzt haben, ist es in der Regel keine Autismus-Spektrum-Störung. Wir fragen daher immer nach Eltern, Tanten, Onkels, Erzieher*innen oder Lehrer*innen, um mit ihnen eine entsprechende Fremdanamnese durchzuführen. Sind diese nicht verfügbar, en wir ersatzweise um entsprechende Dokumente wie z.B. Grundschulzeugnisse. Wenn dort zum sozialen Verhalten etwa steht: „Der fröhliche, aufgeweckte Junge fand rasch Anschluss, schloss schnell Freundschaften, kümmerte sich liebevoll um Schwächere und wurde zum Sprecher der Theater-AG gewählt“, ist ein Autismus sehr unwahrscheinlich.

Können die Betroffenen nicht selbst erzählen, wie ihre Kindheit verlaufen ist?

Nicht unbedingt, denn es gibt das Phänomen des „false memory“. Wer überzeugt ist, an einer autistischen Störung zu leiden und sich länger mit der Thematik beschäftigt hat, glaubt unter Umständen, dass die entsprechenden Symptome bei ihm hon in Kindheit und Jugend vorgelegen haben. Auch Bezugspersonen haben oft keine exakten Erinnerungen an Einzelheiten aus Kindheit und Jugend und schildern dann ihre Erfahrungen entsprechend der vermuteten Diagnose. Wenn aber dann aus Unterlagen einer Vorstellung bei einer Schulpsychologin im Alter von sieben Jahren hervorgeht, ein Junge habe mit angebotenen Figürchen phantasievoll gespielt, ist dieser heute erwachsene Patient mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Autist. Denn autistische Kinder spielen in der Regel nicht sozial imitierend „Alsob“: Sie spielen keine Rollenspiele mit Kasperlefiguren oder Puppen und sagen nicht „brumm brumm“, wenn sie mit Modellautos herumfahren. Stattdessen werden die Spielzeuge nach Farbe und Größe sortiert und hintereinander aufgereiht.

Wie ist die Prognose bei Autismus?

Sie ist umso günstiger, je früher die Diagnose gestellt und die Störung behandelt wird – zum Beispiel in Eltern-Kind-Trainings, Förderstätten, Sprach- und Ergotherapien, Entwicklungsförderung, Sozialtrainings etc. Auch die Intelligenz spielt eine Rolle. Menschen, die nicht intellektuell retardiert sind, können soziale Verhaltensweisen lernen. Auch zu mir wurde als Kind gesagt: „Du muss die Menschen beim Grüß-Gott-sagen anschauen“. Das habe ich dann auch getan. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, dass ich als Kind gefragt hätte: „Wohin soll ich denn genau schauen?“ Das war mir irgendwie klar. Ein autistisches Kind würde das aber fragen und auch wissen wollen, wie lange es dorthin schauen muss. Wir Nicht-Autist*innen lernen soziale Verhaltensweisen in der Regel durch Imitation, Generalisierung und Intuition. Das können autistische Menschen nicht so einfach. Auch ihr „idiosynkratisches“ im Gegensatz zum „pragmatischen“ Sprachverständnis“ ist für Autist*innen oft ein Problem: Wenn Sie zu einer Servicekraft sagen: „kann ich bitte zahlen?“ meinen Sie damit, dass Sie gerne zahlen möchten. Wäre die Servicekraft Autist*in würde sie antworten: „Das müssen doch Sie wissen, ob Sie zahlen können, oder nicht?“

Was kann man also tun, um das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Autismus zu erleichtern?

Mittlerweile gibt es z.B. Broschüren für Arbeitgeber*innen, die ihnen vermitteln, wie man auf autistische Mitarbeiter*innen zur Vermeidung von Problemen eingehen kann. Zum Beispiel durch strukturierte Arbeitsabläufe, einen ruhigen Arbeitsplatz sowie klare und eindeutige Ansagen wie: „Das legen Sie mir bitte am Donnerstag um 9 Uhr fertig bearbeitet auf den Tisch“. Für den Erwachsenenbereich gibt es mittlerweile auch Therapiemanuale (z.B. GATE, FASTER) zur Psychoedukation, Stress-Bewältigung sowie spezifischen Trainings zu Social Skills. So neigen beispielsweise viele Autist*innen in Stresssituationen zu für Außenstehende auffälligen motorischen Stereotypien („stimming“) – z.B. Kopf- oder Händeschütteln – die sie selbst aber entlasten. Da würde man in der Therapie versuchen, diese Stereotypien neben der Anwendung von Entspannungstechniken dadurch „sozial verträglich“ zu machen, dass die Betroffenen z.B. den Kopf in die Hand stützen und so „fixieren“, oder die „flatternde“ Hand unter den Oberschenkel schieben legen, um sie „unsichtbar“ zu machen.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 1/2022 vom 30.12.2021