Leitartikel

Arzneimittelknappheit, leere Zeiten

Als im vergangenen Winter die Fiebersäfte für Kinder in den Apotheken fehlten, ging ein Aufschrei durch die Öffentlichkeit. Doch die Arzneimittelknappheit ist nicht vorbei, auch wenn man weniger darüber hört. Die MÄA sprachen darüber mit der Vizepräsidentin der Bayerischen Landesapothekerkammer (BLAK), Dr. Sonja Mayer
Arzneimittelknappheit, leere Zeiten
Arzneimittelknappheit, leere Zeiten

Foto: Shutterstock

Frau Dr. Mayer, wie sieht es mit der Arzneimittelknappheit dieses Jahr aus? Ist jetzt alles wieder gut?

Nein, überhaupt nicht. Von zehn Rezepten mit jeweils zwei Positionen, ist durchschnittlich bei fünf Rezepten ein Arzneimittel nicht lieferbar. Beim Fiebersaft für Kinder, der im letzten Jahr fehlte, hat sich die Situation etwas entspannt. Aber noch immer können wir in unserer Apotheke 200 bis 300 Arzneimittel nicht liefern: Das sind Antibiotika, Augentropfen, Psychopharmaka oder auch Arzneimittel gegen Diabetes, um nur einige zu nennen. Zur Zeit haben wir z.B. kein Amoxycillin, kein Penicillin, kein Clarithromycin, kein Prednisolon in Augentropfen. Einige Psychopharmaka wie Paroxetin sind genauso wenig lieferbar wie Asthmasprays mit Salbutamol. Auch Atomoxetin, ein Wirkstoff, der bei Erwachsenen bei ADHS eingesetzt wird, haben wir nicht. Es fehlen Antihypertonika, einige Analgetika, die Standardantibiotika für die Zahnärzte. Mir fällt momentan kein Bereich ein, in dem es reibungslos läuft.

Welche Auswirkungen hat das?

Wenn ein Antibiotikum nicht lieferbar ist und das Mittel der zweiten Wahl nicht wirkt, müssen die Patient*innen zur parenteralen Verabreichung ins Krankenhaus.                                Das hat wirtschaftliche Folgen. Zudem züchten wir gegebenenfalls resistente Keime heran, wenn wir z.B. ein Breitbandantibiotikum benutzen müssen. Hinzu kommen massive Beeinträchtigungen für die Gesundheit der Patient*innen: In unserer Apotheke hatten wir kürzlich eine 17-jährige Patientin, die von Penicillin auf Azithromycin, also eine andere Wirkstoffklasse, umgestellt werden musste. Weil dieses nicht wirkte und ihr Zustand immer schlechter wurde, musste sie ins Krankenhaus und dort sogar auf die Intensivstation, weil bei ihr anaerobe Bakterien wuchsen. Als sie schließlich nach Hause kam, hätte sie zwingend das Antibiotikum Metronidazol gebraucht. Aber auch das gab es nicht. Diese Woche war eine Mutter mit ihrem dreijährigen Kind in meiner Apotheke. Sie hätte ein Salbutamol-Asthmaspray gebraucht, damit die Luftwege des Kindes weit werden. Salbutamol aber ist zurzeit nicht lieferbar. Es war dramatisch, weil die Arztpraxis aufgrund der derzeitigen Infektionswelle schwer zu erreichen war, die Mutter aber dringend ein anderes Rezept brauchte, was am Ende mehr Kosten verursacht. Und das alles mit einem kleinen, kranken Kind.

Hat sich durch das Arzneimittel Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) im letzten Jahr nichts geändert?

Für die Kinderarzneimittel wurde eine Dringlichkeitsliste erstellt, mit der wir überprüfen können, ob wir die Arzneistoffe in einer anderen Darreichungsform abgeben können. Die Liste bezieht sich aber nur auf Kinder. Für Menschen wie unsere 17-jährige Patientin gibt es keine unbürokratischen Austauschregelungen ohne Rücksprache mit Arzt oder Ärztin mehr wie während der Corona-Pandemie. Damals konnten die Apotheken alle Präparate abgeben, die sie im Lager hatten. Mittlerweile müssen wir uns wieder zwingend an die Rabattverträge der vielen verschiedenen Krankenkassen halten, weil uns die Kassen sonst im Zweifelsfall die Kosten nicht erstatten. Wir Apotheken müssen also von einem Arzneimittel nicht nur das Original und die unterschiedlichen Stärken im Schrank haben, sondern auch noch zehn oder 15 unterschiedliche Generika. Dabei gab es Studien, dass die Apotheken während der Pandemie maßvoll mit den Generika umgegangen sind. Meistens gibt es hier sowieso keine großen Preissprünge.

Das heißt, Sie treten in Vorleistung?

Genau. Aktuell gehen außerdem etwa zehn Prozent unserer Arbeitszeit für das Management von Lieferengpässen drauf. In einer Apotheke entspricht dies etwa zehn Stunden pro Woche. Durch das Lieferengpassgesetz erhalten wir eine Vergütung von 0,50 Euro pro Arzneimittel. Doch für diesen Betrag muss ich oft mehrmals mit der Arztpraxis und dem Großhandel sprechen und alles dokumentieren, was ich abgefragt habe. Zudem schauen wir immer wieder im Hintergrund nach, ob ein Medikament doch wieder lieferbar ist. Die Patient*innen stehen währenddessen Schlange und verstehen nicht, warum sie das Präparat nicht bekommen. Zu Coronazeiten konnten wir manche nicht verfügbaren Arzneimittel auch ohne nächstes Rezept in der Apotheke selbst maßgeschneidert herstellen. Aufgrund des Auslaufens dieser Regelungen, höherer Herstellungskosten, Produktionsverzögerungen bei den Ausgangsstoffen oder Qualitätsproblemen einzelner Wirkstoffhersteller, ist auch dies leider nicht mehr so einfach möglich.

Sollten nicht mehr Medikamente bevorratet und in Deutschland produziert werden?

Mehr bevorraten könnte ich nur, wenn der Großhandel mehr Medikamente hätte. Dass mehr Arzneimittel in Deutschland oder zumindest in Europa produziert werden, ist schon lange eine Forderung der deutschen Apothekerschaft.             Aktuell kommen bis zu 70 Prozent der Wirkstoffe für Antibiotika aus Fernost, aus Indien oder China, die dabei Oligopole haben. Nur eine einzige Firma hat ihren kompletten Herstellerprozess in Europa. Sobald eine Lagerhalle abbrennt oder bei einem Produkt ein Qualitätsmangel besteht, kommt es zu einem Dominoeffekt in der Lieferkette, der die Produktion zahlreicher Fertigarzneimittel einschränkt. Bei uns bräuchte es keine Nuklearbombe, um uns außer Gefecht zu setzen. Es müssten nur die Hersteller in Indien oder China den Import von Antibiotika einschränken. Die internationalen Herstellerfirmen sind bei allen Arzneimitteln durch die Rabattverträge gezwungen, so günstig wie möglich produzieren, beispielsweise in Indien, wo geringere Umweltstandards gelten. Wenn bei der Antibiotikaproduktion aber Abwässer in die umleitenden Flüsse gelangen, braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass bei den Bakterien Resistenzen entstehen, die durch die Globalisierung auch uns betreffen.

Warum sind manche Medikamente in Österreich lieferbar, aber hier nicht?

Manchmal ist es auch umgekehrt. Wenn wir in Deutschland einen geringeren Betrag für die Wirkstoffe bezahlen als beispielsweise in Österreich, dann geben die Firmen ihre Produkte natürlich bevorzugt an Österreich ab. Das ist grundsätzlich so. Nehmen Sie zum Beispiel die Abnehmspritze Ozempic. Dafür berappen wir in Deutschland pro Monat etwa 50 Euro. In Amerika zahlen Sie dafür aber 1.000 Euro. Hinzu kommt: Wenn wir Arzneimittel wie Ozempic auch für Indikationen einsetzen, für die sie die Erstzulassung nicht haben, kreieren wir Wartelisten für alle. Die Versorgung unserer Diabetiker*innen hängt jetzt an der erhöhten Nachfrage durch Menschen mit Übergewicht. Wir Apotheker*innen dokumentieren die Nicht Lieferfähigkeit über eine Sonderpharmazentralnummer. Letztes Jahr haben wir damit 20 Millionen Fälle von nicht lieferbaren Medikamenten n den deutschen Apotheken dokumentiert. Die tatsächliche Zahl ist wahrscheinlich sogar noch größer, weil wir diese Nummer nur auf den gesetzlichen Rezepten dokumentieren, nicht auf den Privatrezepten.

Im letzten Jahr hatten die BLAK und das bayerische Gesundheitsministerium verschiedene Forderungen an die Politik gestellt. Sind diese berücksichtigt worden?

Das bayerische Gesundheitsministerium steht hinter uns und erkennt unsere versorgungskritische Situation an. Als Ausnahmeregelung durften wir z.B. auch mal Antibiotika aus dem Ausland importieren und konnten dann schneller wieder handeln. In die bundesweiten Listen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) allerdings tragen sich die Hersteller nur über eine Selbstverpflichtung ein.     Dort stehen aktuell 417 Arzneimittel, ich habe gestern nachgeschaut (Anm. der Redaktion: Das Interview fand am 1. März statt). Laut BfArM ist ein Lieferengpass eine über zwei Wochen hinausgehende Unterbrechung der üblichen Auslieferung. Wenn die Firma dazwischen aber mal wieder etwas ausliefert, wenn auch nur wenig, ist es laut Definition kein Lieferengpass mehr.

Wie sieht es bei Impfstoffen aus?

Das Paul Ehrlich Institut führt eine Liste über versorgungskritische Impfstoffe: Für die normalen Impfungen gibt es aktuell keinen Versorgungsengpass, aber Indikationsimpfungen wie beispielsweise Tollwut gibt es aktuell nicht. Bei einer Tollwutimpfung müsste man, wie beim Antibiotikum, das Mittel der zweiten Wahl nehmen, also unspezifisch wirkende Immunglobuline. Auch mit anderen Reiseimpfstoffen ist es schwierig. Die Impfstoffe gegen Cholera oder japanische Enzephalitis sind häufig nur als kontingentierte Auslieferung oder als Einzelimport auf Anfrage verfügbar. Kontingentiert heißt, es wird immer wieder ein geringer Teil ausgeliefert. In so einem Fall ist es praktisch, wenn ich als Besitzerin mehrere Apothekenfilialen habe. So besteht die Chance, dass eine andere Filiale den Impfstoff vielleicht noch vorrätig hat. Wer dieses Jahr weiter weg in Urlaub fahren will, sollte sich dennoch sehr frühzeitig um seine Impfungen kümmern.

Was empfehlen Sie Ärztinnen und Ärzten angesichts der Arzneimittelknappheit?

Die Patient*innen müssen früher als sonst ein Folgerezept holen, weil der Versorgungsweg länger dauern kann. Ärzt*innen empfehle ich, wirkstoffbezogen zu verordnen, ohne das Präparat auf das Rezept zu schreiben. Dann haben wir mehr Alternativen. Ärzt*innen sollten mit den Apotheken auch direkt über Alternativen sprechen. Das ist insbesondere im Notdienst sehr wichtig, z.B. wenn ein Angehöriger nach einem Hausbesuch am Wochenende mit seinem Privatrezept in die Notdienstapotheke gehen muss. Es wäre praktisch, sich schon im Vorfeld abzusprechen: Welche antibiotikahaltigen Augentropfen haben wir überhaupt da?

Was sind Ihre Forderungen?

Wir Apotheken stellen die Versorgungsqualität sicher, wo es eigentlich keine mehr gibt. Daher brauchen wir mehr Entscheidungsfreiheit beim Austausch nicht verfügbarer Medikamente – wie zu Coronazeiten. Es darf keine Zahlungsverweigerung von den Krankenkassen geben, wenn man verfügbare Alternativen abgibt. Wir sind froh, wenn wir überhaupt etwas abgeben können. Und wir bräuchten einen angemessenen finanziellen Ausgleich für das Management der Engpässe. Es ist wirklich frustrierend, dass wir uns nicht mehr um die Patient*innen kümmern können, sondern immer nur damit beschäftigt sind, zu klären: Was bekomme ich woher? Für die Patient*innen ist das alles schwer zu begreifen. Bisher hat doch alles immer geklappt. Besonders schwierig wird es, wenn jemand eine schwerwiegende Erkrankung hat. Nehmen Sie das Brustkrebsmittel Tamoxifen, das lange nicht verfügbar war. Das Gleiche gilt für Psychopharmaka wie Paroxetin gegen Depressionen. Es hat eine Zulassung für Kinder und Jugendliche, aber weil es nicht verfügbar ist, müssen wir einen komplett anderen Wirkstoff wählen – ohne Zulassung für diese Altersgruppe.

Stepahnie Hügler

MÄA 07/2024 vom 23.03.2024