Leitartikel

Anonyme Suchtberatung des ÄKBV, Keine Angst vor dem Anruf!

Wenn Ärzt*innen zu oft zur Flasche oder anderen Drogen greifen, kann dies gefährlich für ihre Patient*innen werden. Trotzdem brauchen sie Hilfe ohne Stigmatisierung. Ab Oktober bietet der ÄKBV gemeinsam mit Prof. Dr. Oliver Pogarell und Prof. Dr. Gabriele Koller vom LMU Klinikum ein anonymes Beratungstelefon zu Suchtfragen. Mit den MÄA sprachen die beiden über das neue Angebot.
Anonyme Suchtberatung des ÄKBV, Keine Angst vor dem Anruf!
Anonyme Suchtberatung des ÄKBV, Keine Angst vor dem Anruf!

Foto: shutterstock

Frau Prof. Koller, Herr Prof. Pogarell, wieviele Ärzt*innen in Deutschland sind suchtkrank und warum?

Pogarell: Um die 20 Prozent der Ärztinnen und Ärzte konsumieren laut Schätzungen riskante Mengen an Alkohol. Eine Online-Befragung von Wissenschaftler*innen der Technischen Universität München um Prof. Florian Eyer aus dem Jahr 2018 etwa bestätigt diese Schätzung. Daraus kann sich im weiteren Verlauf eine Abhängigkeit entwickeln. In Bezug auf den Konsum von Alkohol oder anderen suchterzeugenden Substanzen ist unsere Berufsgruppe besonders vulnerabel. Substanzkonsum, der sich problematisch entwickeln kann, ist aber auch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen: Über 80 Prozent der Deutschen trinken immer wieder Alkohol, nur unter 20 Prozent leben komplett abstinent. Zusätzlich haben rund sieben bis acht Prozent der Bevölkerung Erfahrung mit einer illegalen Substanz. Vermutlich bewegt sich der Konsum dieser Substanzen bei Ärzt*innen ebenfalls in diesem Bereich.

Koller: Durch die spezifischen Arbeitssituationen und -belastungen sind Ärztinnen und Ärzte häufig Stresserfahrungen und Überlastungssituationen ausgeliefert. Als Entlastungsstrategie können sich riskante Konsumformen entwickeln. In Untersuchungen gaben viele Ärzt*innen an, die Arbeitsanforderungen hätten zugenommen und es gebe eine Arbeitsverdichtung. Zusammen mit dem Anspruch, intensiv für die Patientinnen und Patienten da zu sein, führt das häufig zu Überstunden oder zu Arbeit an Sonn- und Feiertagen. Beruflicher Dauerstress entsteht zum Beispiel durch lange Arbeitstage, Verdichtungen, administrative Aufgaben oder das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Ärztinnen und Ärzte zeigen dabei offenbar eher einen stressbedingten Substanzkonsum als Angehörige vieler anderer Berufe.

Sind Ärzt*innen vielleicht auch häufiger von Medikamenten abhängig, weil sie sich diese leicht selbst besorgen können?

Koller: Ich habe tatsächlich einige Einzelfälle vor Augen, in denen sich Ärztinnen oder Ärzte z.B. Benzodiazepine, Opiate oder auch Ketamine besorgt haben. Auch bei Angehörigen anderer medizinischer Berufen wie in der Gesundheits- und Krankenpflege habe ich solche Fälle erlebt. Medikamentenabhängigkeit ist auch in der Allgemeinbevölkerung ein großes Problem. Laut Bundesministerium für Gesundheit sind schätzungsweise 1,4 bis 1,5 Millionen oder sogar bis zu 1,9 Menschen medikamentenabhängig – mehr als von Alkohol. Auch die Bundesärztekammer geht von rund 1,5 Millionen Süchtigen aus. Durch die bessere Verfügbarkeit von Medikamenten in Gesundheitsberufen könnte die Zahl der Betroffen dort noch höher sein, aber dazu habe ich aktuell leider keine Daten.

Pogarell: Wer viel selbst mit Narkotika, Sedativa oder opiumhaltigen Schmerzmitteln in Kontakt kommt, ist sicher stärker gefährdet. Und Ärztinnen und Ärzte haben die Möglichkeit, sich über Privatrezepte bestimmte Substanzen selbst zu verordnen. Dass die Beschaffungswege somit einfacher sind, kann durchaus zu einem verstärkten Konsum führen.

 

Warum braucht es ein spezielles anonymes Beratungsangebot für Ärztinnen und Ärzte? Gibt es nicht genügend Angebote für die Gesamtbevölkerung?

Koller: Es ist grundsätzlich wichtig, frühzeitig präventiv einzuschreiten. Bei ärztlichen Kolleginnen und Kollegen gibt es aber eine große Scheu, sich als möglicherweise abhängig zu outen und sich bei „normalen“ Behandlungsangeboten anzumelden. Einige befürchten wahrscheinlich, dass andere sie erkennen könnten und dies negative Konsequenzen für sie haben könnte. Manche haben auch Angst, ihre Arbeit oder sogar ihre Approbation zu verlieren, wenn ihre Abhängigkeit oder ihr riskanter Konsum entdeckt wird. Ich habe selbst erlebt, dass betroffene Kolleginnen und Kollegen lieber Beratungs- und Therapieangebote in anderen Städten genutzt haben.

Pogarell: Eine Sucht oder ein problematisches Konsummuster entwickeln sich in der Regel über viele Jahre oder Jahrzehnte. Oft werden diese Muster lange nicht als krankhaft erkannt. Der Konsum fügt sich in den Alltag ein – wie das Glas Bier oder Wein abends zum „Runterkommen“ oder ein Schlafmedikament bei Schlafstörungen. Über sehr lange Zeit führt das oft auch nicht zu Problemen. Die Kipppunkte zu einem problematischen Konsum oder einer Abhängigkeit zu erkennen, ist oft schwierig, und die Verleugnungskräfte sind groß. Sich Rat bei anderen zu holen, kostet Überwindung. Unser Konzept beruht daher auf einer sehr niedrigschwelligen und anonymen Beratungsmöglichkeit –  ohne, dass man persönliche oder approbationsrechtliche Konsequenzen fürchten muss.

Wann wird ein Konsum problematisch oder überschreitet gar die Schwelle zur Sucht?

 Pogarell: Die Leitlinien empfehlen zum Screening zum Beispiel den AUDIT-C – einen Fragebogen, der auch zum Selbsttest geeignet ist. Beim Alkohol beschränkt sich dieser auf drei Fragen: Wie oft, wie viel und wie exzessiv trinken Sie? Daraus werden Punktwerte generiert, an denen man erkennen kann, ob ein weiterer Beratungsbedarf besteht. Den AUDIT-C kann man über die Bundesärztekammer oder andere Seiten im Internet herunterladen (s. QR-Codes). Es geht um eine ehrliche Einschätzung, ob noch ein kontrollierter Konsum besteht, oder ob einem das eigene Trinkverhalten schon entglitten ist. Grundsätzlich gilt: wenig trinken, nicht täglich, nicht alleine und nicht, um sich zu entlasten oder Problemen zu entgehen.

Koller: Manche Menschen möchten vielleicht auch einfach so weniger trinken und wünschen dazu eine Beratung, obwohl sie die Kriterien des AUDIT-C noch nicht erfüllen. Zur Prävention raten wir, die konsumierte Menge „mitzustricheln“ bzw. z.B. ein Trinktagebuch zu führen.

Ab wann und wie kann ich mich als Arzt oder Ärztin anonym beraten lassen?

Koller: Wir starten schon am Mittwoch, den 4. Oktober. Unser Handy mit der Rufnummer +49 1525 489 49 86 (s. Button auf S. 4) ist immer mittwochs von 17 bis 18 Uhr freigeschaltet. Bei der Beratung bitten wir dar - um, uns keine Namen zu nennen. Sollte der Bedarf bestehen, kann ein weiteres Beratungsgespräch vereinbart werden. Allerdings hat dies natürlich Grenzen: Wenn es in Rich - tung einer längeren therapeutischen Intervention geht, muss man irgend - wann die Anonymität verlassen und eine reguläre Therapie beginnen.

Pogarell: Wir teilen uns die Beratungstermine auf und wechseln uns ab. Die Anrufe werden von uns nicht aufgezeichnet oder notiert, und wir heben auch ab, wenn die Rufnummer unterdrückt ist. Wir fragen auf keinen Fall nach Namen oder Tätigkeitsgebieten, sondern stehen nur als informierende, aufklärende, beratende Ansprechpersonen zur Verfügung. Aufgrund des anonymen Charakters haben wir weder den Auftrag noch die Verpflichtung, unser Wissen an irgendjemanden weiterzugeben oder berufsrechtlich anzuzeigen. Jede*r Betroffene entscheidet selbst, was er oder sie sagen möchte. Wir ordnen dies dann ein und zeigen Handlungsoptionen auf. Zusätzlich unterliegen wir der ärztlichen Schweigepflicht

Darf ich aus moralisch-ethischer Perspektive nach einem Gespräch mit Ihnen noch weiterarbeiten?

Koller: Das Entscheidungskriterium dafür ist nicht der Anruf. Sollte es ein moralisch-ethisches Dilemma geben, besteht dieses in der Regel schon früher.

Pogarell: Es ist das gleiche Dilemma, das wir oft im geriatrischen Bereich haben, wenn wir wissen, dass Menschen schon starke kognitive Einschränkungen haben, aber weiterhin Auto fahren. Das Angebot ist trotzdem oder gerade deshalb umso wichtiger. Es geht darum, in einen Reflexionsprozess zu kommen, um das eigene Verhalten mit dieser Perspektive einzuordnen.

Was beinhaltet das Gespräch, und wie geht es danach weiter?

Pogarell: Auf konkrete Fragen geben wir konkrete Antworten. Bei uns in der Klinik gibt es voll- und teilstationäre sowie ambulante Angebote, die allen Anrufer*innen natürlich grundsätzlich offen stehen. Wir betreiben mit dem Angebot aber keine Patientenakquise, sondern informieren all - gemein – über das Suchthilfesystem, die nächsten Schritte und Möglichkeiten der ambulanten, stationären oder teilstationären Begleitung im Bezirk und Kreis München. Es ist egal, ob eine (teil-)stationäre Behandlung letztlich bei uns, am Klinikum rechts der Isar, dem Max-Planck-Institut oder den kbo-Kliniken stattfindet. Wir benennen alle Behandlungsmöglichkeiten – vom kommunalen Hilfesystem über somatische Kliniken zur körperlichen Entzugsbehandlung bis hin zu spezialisierten Einrichtungen mit qualifizierten Angeboten und spezifischer Suchtberatung.

Welche Botschaften haben Sie an Ärztinnen und Ärzte, die fürchten, problematisch zu konsumieren oder suchtkrank zu sein?

Koller: Es gibt gute Behandlungsmöglichkeiten. Manchmal hilft es, sich dem Arbeitgeber zu offenbaren, aber das muss gut überlegt und vor - bereitet werden.

Pogarell: Sucht ist eine Erkrankung. Sie kann jede*n treffen, ist aber ein hoch stigmatisiertes Phänomen. Umso wichtiger ist es, offen vor sich selbst damit umzugehen. Wir möchten dazu beitragen, von diesem Stigma wegzukommen. Erst dann haben die Betroffenen genügend Spielräume und Handlungsmöglichkeiten.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler

MÄA Nr. 21 vom 07.10.2023