Leitartikel

Ambulante psychosomatische Rehabilitation: Konfrontation statt Kur

Nur vier bis fünf Prozent der psychosomatischen Reha-Verfahren werden bisher ambulant durchgeführt. In München gibt es mit dem Reha-Zentrum Ottobrunn seit 2017 eine erste Möglichkeit zur ganztägig ambulanten psychosomatischen Reha. Eine Reha ist oft sinnvoll, sagt der dortige Institutsarzt Dr. Meinrad Linsenmeier. Sie helfe dem Einzelnen und rechne sich auch für die Gesellschaft.

Foto: Rehazentrum Ottobrunn

Herr Dr. Linsenmeier, wer ist für eine psychosomatische Reha geeignet?

Linsenmeier: Die Indikation ergibt sich in der Regel daraus, dass die berufliche Leistungsfähigkeit gefährdet ist. Ausgangspunkt kann eine lange Krankschreibung sein – dann gibt häufig die Krankenkasse den Anstoß für die Reha. In anderen Fällen sind die Patienten zwar grundsätzlich noch arbeitsfähig, aber im Grunde nicht mehr richtig leistungsfähig. Das ist bei vielen der Fall, die sich in Richtung eines Burnouts bewegen, aber versuchen, ihre Leistung durch Mehrarbeit und Überanstrengung zu halten. Für sie wäre es gut, eine Reha-Maßnahme einzuleiten, bevor es zu einem depressiven Zusammenbruch kommt.

Wann ist eine ganztägig ambulante Reha sinnvoll?

Linsenmeier: Sie ist immer dann zu bevorzugen, wenn ein Bezug zum Alltag wichtig ist. Für manche Patienten ist es nur so möglich, eine Reha in Anspruch zu nehmen – z.B. wenn Kinder oder Pflegebedürftige zu versorgen sind oder man ein Haustier hat, das man nicht gern alleine lässt. Geeignet ist eine ambulante Reha auch für Menschen, die sich schwer tun, den Ort zu wechseln, weil sie einen Bezug zum Umfeld brauchen und nicht z.B. fünf Wochen im Schwarzwald verbringen möchten.

Ist sie für alle Diagnosen im psychischen Bereich geeignet? 

Linsenmeier: Über zwei Drittel der Menschen, die zu uns kommen, haben Diagnosen aus dem Bereich Depression / Burnout. Hinzu kommen Angststörungen und somatoforme Störungen sowie Kombinationen daraus. Manchmal haben wir auch Fälle eines Belastungshochdrucks, bei denen der Hausarzt feststellt, dass der Patient vor lauter Stress nicht mehr schläft und sich auch am Wochenende nicht mehr erholen kann. Auch wenn keine Depression diagnostiziert wird, haben solche Menschen – zum Beispiel bei chronischem Schmerz-Syndrom – oft mehrere Klinikaufenthalte hinter sich und einen Krankheitsverlauf, der sich über Jahre erstreckt,
wenn sie zu uns kommen. Dann geht es häufig darum, ob derjenige nochmal ins Erwerbsleben zurückkehren kann. Die Rehabilitation wird eingeleitet, um eine Wiedereingliederung ins Arbeitsleben zu erreichen oder aber um die Betroffenen auf dem Weg in die Rente zu unterstützen.

Können auch Menschen z.B. mit bipolaren Störungen oder Schizophrenie zu Ihnen kommen?

Linsenmeier: Diese Diagnosen fallen eher in den Bereich der Rehabilitation der psychisch Kranken (RPK). Auch dafür gibt es seit zwei oder drei Jahren eine ambulante Versorgungsmöglichkeit in München. Leider ist auch die ambulante RPK, wie die psychosomatische ambulante Reha, in Bayern noch nicht  flächendeckend entwickelt. Die RPK ist eine gute Möglichkeit bei psychiatrischen Diagnosen. Das Angebot ist meist längerfristig geplant, z.B. für bis zu ein oder eineinhalb Jahre, und wird  auch immer mit einem arbeitsrehabilitativen Ansatz verknüpft – also etwa mit einem Praktikum oder einer Arbeitsförderungsmaßnahme. Bei uns hingegen bewegt sich die Reha zeitlich eher im Bereich von fünf oder sechs Wochen, sodass solche Maßnahmen lediglich durch uns eingeleitet werden können. Auch für vorrangig Suchtkranke gibt es einen eigenen Versorgungsweg.

Gibt es weitere Kontraindikationen? 

Linsenmeier: Wir in Ottobrunn haben derzeit noch keine Zulassung für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen sowie schweren Ess-oder Traumafolgestörungen, solange sich die Erkrankung noch in einem akuten Stadium befindet. Wenn das Stadium bereits kompensiert ist oder es sich um eine Komorbidität handelt,
können wir auch solche Patienten behandeln. Bei einer Depression oder Angststörung muss der Patient noch in der Lage sein, hierher zu kommen. Das häusliche Umfeld sollte nicht einer Gesundung im Wege stehen. Ansonsten sind der Ortswechsel bzw. die stationäre Reha die erste Option.

Wie erreichen Sie eine Wiedereingliederung in den Beruf?

Linsenmeier: Nach längerer Arbeitsunfähigkeit beobachten wir oft eine große Angst, wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Das Problem gemeinsam zu lösen ist unsere Aufgabe. Wir schauen: Wo genau liegen die Hemmnisse und Ängste? Kann man eine Annäherung schaffen, indem man beim ersten Telefonat dabei ist, es vorbereitet oder strukturiert? Oder möchte der oder die Betroffene jemanden zum ersten Arbeitsrückkehrgespräch, auch BEM-Gespräch (betriebliches  Wiedereingliederungsmanagement) genannt, mitnehmen?

Warum ist die ambulante psychosomatische Reha noch nicht flächendeckend verbreitet?

Linsenmeier: Ambulante Rehamaßnahmen gibt es erst seit Ende des letzten Jahrhunderts. In der Orthopädie und der Kardiologie sind sie mittlerweile relativ weit verbreitet. Wir hinken leider noch etwas hinterher. Viele Patienten und Ärzte denken beim Wort „Reha“ an einen ruhigen, schönen Ort zur Erholung. Doch das Verständnis von Rehabilitation im modernen Sinne rückt immer weiter weg vom Heilbäderkurwesen. Die Vorstellung, dass Zeit und Abstand zum Alltag, ähnlich wie ein Urlaub, einen unspezifischen Heilungseffekt entfaltet, ist einerseits zutreffend, andererseits nicht mehr zeitgemäß und auch nicht für alle passend. Dem Patienten wird heute zunehmend mehr aktiv abverlangt, auch die Konfrontation mit dem Alltag. Während einer ambulanten Reha kann man diese gut vorbereiten,
während man nach fünf oder sechs Wochen im Allgäu oder am Chiemsee gerne mal aus einer „Wohlfühlwolke“ herausfällt.

Warum wird das moderne Reha-Verständnis nicht stärker umgesetzt?

Linsenmeier: Speziell für München spielen die Kosten eine Rolle. Die Personal- und Mietkosten hier sind immens. In der zweiten Jahreshälfte 2017 haben wir die Arbeit in Ottobrunn begonnen. Derzeit haben wir 20 bewilligte Plätze, aktuell aber nur 12 bis 15 Patienten, so dass wir kurzfristig aufnehmen können. Es wird eine spannende Frage sein, wie sich das auf Dauer einpendeln wird. Den Patienten ist das allerdings gar nicht so unrecht, weil sie rasch mit der Reha starten können und wir auch etwas mehr Zeit für sie haben.

Welche Rückmeldung bekommen Sie von den Patienten?

Linsenmeier: Die Patienten schätzen die persönliche Zuwendung und die vielen Angebote auch für den Körper – von der medizinischen Trainingstherapie, der Sport- und Bewegungstherapie und Physiotherapie bis hin zu Massagen. Unsere Einrichtung ist aus einer orthopädischen Reha-Einrichtung hervorgegangen, daher haben wir in diesem Bereich viele Ressourcen. Im gleichen Gebäude gibt es eine ambulante Physiotherapie- und eine Ergotherapiepraxis. Die Ergotherapie nutzen wir im Hinblick 
auf eine handwerkliche Schulung und zur Steigerung der Konzentrationsleistung. Das ist auch häufig nötig, denn vor allem depressive Menschen leiden ja oft an Konzentrationsstörungen.

Welche psychotherapeutischen Verfahren nutzen Sie?

Linsenmeier: Die beiden Psychologinnen und ich bieten Gesprächstherapie auf tiefenpsychologischer und verhaltenstherapeutischer Basis an, je nach Bedarf auch ein soziales Kompetenztraining. Der Hauptteil der Behandlung findet in Gruppen statt, die Patienten haben aber auch Aufnahme- und Einzelgespräche. Darüber hinaus gibt es Kunsttherapie, Ernährungsberatung und Sozialberatung sowie Entspannungsverfahren wie Autogenes Training und Progressive Muskelrelaxation sowie Psychoedukation. Auf unserer Wunschliste stehen noch ein Achtsamkeitstraining und Körperpsychotherapie im engeren Sinne. Dafür suchen wir noch personelle Unterstützung.


Wie hilft die Reha, Erfolge aus der akuten Versorgung zu sichern?

Linsenmeier: Die Akutbehandlung kann immer nur zu einem bestimmten Ergebnis kommen und arbeitet immer im Wettlauf mit der Zeit, die ihr zur Verfügung gestellt wird. Früher hatten wir in der Psychosomatik viel längere Behandlungszeiten. Heute bleiben bei der Entlassung häufig Therapieziele auf der Strecke. Die Reha springt ein, damit die Patienten zu Hause nicht in einen Rückfall geraten, was ja allzu oft passiert. Daher sollte eine Reha stets zeitnah mitgedacht und -geplant werden. Eine Reha ist auch deshalb wichtig, weil sie mit den sogenannten IRENA-und Psy-RENA-Gruppen eine Nachsorgemöglichkeit geschaffen hat, die einem Rückfall vorbeugen kann.

Wie einfach ist es, eine psychosomatische Reha zu erhalten?

Linsenmeier: Wenn Anträge abgelehnt werden, liegt das häufig daran, dass sie nicht gut begründet oder nur halbherzig ausgefüllt sind, manchmal auch an den sprachlichen Fähigkeiten bzw. dem Bildungsgrad der Patienten. Man kann Widerspruch einlegen, dann wird fast immer bewilligt. Ich denke, bei der Rentenversicherung besteht ein Interesse, das Prinzip „Reha vor Rente“ umzusetzen. Sonst müssten sie mit den Betroffenen ja Renten verhandeln. Kolleginnen und Kollegen sollten in der ärztlichen Stellungnahme schreiben, dass die Erwerbsfähigkeit der Patienten gefährdet ist. Sie können ihre Patienten auf die Vorteile einer ambulanten  Reha hinweisen: Dass sie abends zu Hause sein können und dass man vor Ort die Arbeitsrückkehr evtl. besser vorbereiten kann. Dass der Verwöhnungscharakter vielleicht nicht so stark ist, dass die Ergebnisse aber genauso gut oder sogar besser sein können. Stimmt der Patient zu, sollten die Kolleginnen und Kollegen im Antrag vermerken, dass eine ambulante Reha möglich und gewünscht ist. Das ist auch im Sinne der Rentenversicherung, denn der
Patient hat ein Wunsch- und Wahlrecht zur Einrichtung.

Was würden Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen gern mitteilen?

Linsenmeier: Wichtig ist, den Patienten zu sagen, dass sie profitieren können, auch wenn sie die Reha zunächst unter dem Druck der Krankenkasse beginnen. Nicht vorbehandelte Patienten sollten keine Angst vor dem „Psycho-Etikett“ haben. Auch Manager und berühmte Menschen bekommen Depressionen oder einen Burnout und unternehmen etwas dagegen. Es ist ganz wichtig, die Schwellenängste zu nehmen. Leider gibt es noch immer Vorurteile gegenüber der Psychosomatik . So ist es mitunter sehr beschämend zu sagen, dass man eine Angststörung oder Depression hat. Schmerzen, oder besser sichtbare Krankheiten, werden viel eher toleriert.


Das Gespräch führte Stephanie Hügler