Altersdepression: Oft verkannt, leicht unterschätzt
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Herr Prof. Keck, wie einfach oder schwer ist es, im Alter seelisch gesund zu bleiben?
Das lässt sich nicht so einfach beantworten. In jedem Lebensalter ist es vermutlich gleich leicht oder schwer. Im Alter kumuliert aber vieles über die Lebensspanne hinweg. Daher gibt es viel mehr epigenetische Veränderungen, also umweltbedingte Veränderungen, die Gene an- oder abschalten. Auf epigenetische Veränderungen haben unser Lebensstil, unsere Lebensgestaltung einen wesentlichen Einfluss, sodass wir heute sagen können: Diejenigen, die im mittleren Lebensalter gesund und aktiv leben, haben auch im Alter eine weit höhere Chance, körperlich und psychisch gesund zu bleiben als solche, die das nicht tun.
Was bedeutet das konkret?
Ausreichende Bewegung, eine ausgewogene, mediterrane Ernährung und genügend Schlaf sind sehr wichtig. Hinzu kommen ein adäquates Stressmanagement und Sozialkontakte. Wem es gelingt, früh einen gesunden „salutogenetischen“ Lebensstil zu etablieren und bis ins hohe Alter beizubehalten, natürlich angepasst an die äußeren Umstände, der hat gute Chancen, im Alter ein zufriedenes, selbstbestimmtes Leben zu führen und gesund zu bleiben. Natürlich ist Alter an sich der größte Risikofaktor für Krankheit.
Wie häufig sind psychische Erkrankungen im Alter?
Depressionen sind bis ins ganz hohe Lebensalter, bis ungefähr 90, mit ungefähr zehn bis zwanzig Prozent die häufigste psychische Erkrankung. Es gibt sogar Experten, die von etwa 25 Prozent ausgehen. Allerdings werden die Erkrankungen bei bis zu 70 Prozent aller Betroffenen nicht erkannt oder nur unzureichend behandelt. Dabei sind Depressionen ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Schlaganfall, Diabetes, Osteoporose und Demenz. Eine Demenz wiederum wird umso häufiger je älter die Personen werden. Mit 65 bis 70 sind nur etwa 1 bis 2 Prozent betroffen, ab 80 sind es bereits 15, ab 85 Jahren 25 Prozent und ab 90 „überholt“ die Demenz mit etwa 40 Prozent die Depression hinsichtlich der Häufigkeit. Beide Erkrankungen erhöhen aber fatalerweise das Risiko für die jeweils andere Erkrankung. Häufig sehen wir im Alter, auch sekundär, Suchterkrankungen, also Abhängigkeit von Alkohol oder Benzodiazepinen und delirante Syndrome. Je älter die Patienten sind, umso häufiger tritt auch das Delir auf, häufig durch einen Krankenhausaufenthalt oder eine Infektion ausgelöst.
Treten die Erkrankungen einmalig oder rezidivierend auf?
Die meisten Erkrankungen sind chronisch oder rezidivierend: Depression und Demenz sind chronische Erkrankungen, auch das Delir hat oft eine chronische Ursache, etwa Suchterkrankungen oder Demenzen. Depressionen treten häufig schon im jüngeren Erwachsenen- oder mittleren Lebensalter auf. Sie können aber auch im höheren Alter neu auftreten, da mit zunehmendem Lebensalter eine größere Vulnerabilität besteht: Es gibt deutlich mehr Rollenwechsel und Verlustsituationen, die Mobilität ist zunehmend eingeschränkt, die Funktion der Sinnesorgane lässt nach. Wenn man nicht rechtzeitig gegensteuert, sind das zusätzliche Risikofaktoren.
Wie sieht es mit Psychosen im Alter aus?
Sie sind im Allgemeinen nicht wesentlich häufiger als in anderen Lebensabschnitten und liegen bei etwa 3 bis 5 Prozent. Die weitaus häufigeren Erkrankungen sind Depressionen und Demenzen.
Welche Patientengruppen sind betroffen?
Bei der Demenz haben Frauen ein höheres Risiko, weil sie im Durchschnitt älter werden. Auch unter Depressionen leiden im jüngeren und mittleren Lebensalter mehr Frauen als Männer. Im höheren Lebensalter gleicht sich das aber wieder an, sodass schließlich beide Geschlechter gleichermaßen betroffen sind. Wichtig bei Depressionen ist: Sie sind eine potentiell tödliche Erkrankung! 15 bis 20 Prozent der Betroffenen begehen Suizid, weil das persönliche Leid so groß ist, dass sie es nicht mehr aushalten. Und dafür sind wiederum ältere Männer ab 70 Jahren die Hauptrisikogruppe.
Spielen noch andere Faktoren eine Rolle – wie Bildungsgrad, Herkunft oder Einkommen?
Ein höherer „sozioökonomischer Status“, der Bildung, Einkommen und oft auch die Herkunft berücksichtigt, schützt allgemein vor Erkrankung, auch vor Demenz. Je höher der Bildungsgrad ist desto seltener ist eine Demenz. Bei der Depression ist das nicht ganz so klar. Man kann aber umgekehrt sagen: Ein niedriger sozioökonomischer Status ist generell ein Risikofaktor für Krankheit – auch für Krankheit im Alter.
Was sind häufige Ursachen für Depressionen im Alter?
Eine Depression hat immer viele verschiedene Ursachen. Eine davon ist eine genetische Prädisposition, die nach heutigem Kenntnisstand zu etwa 30 bis 40 Prozent für das Auftreten verantwortlich ist. Hinzu kommen psychosoziale sowie Umgebungs- und Lebensstilfaktoren. Mit Verlusten fertig zu werden ist jedesmal eine gravierende Herausforderung, und je mehr Verluste es sind, umso höher ist im Einzelfall das Risiko für eine Depression. Daher gibt es speziell abgestimmte Programme wie die interpersonelle Psychotherapie für im höheren Lebensalter häufiger auftretende Situationen wie Verlust und Rollenwechsel: Berentung, Verwitwung, die Kinder sind nicht mehr da, Freunde sterben, Hobbies können vielleicht nicht mehr so ausgeübt werden wie früher – all das erfordert eine hohe Anpassungsleistung. Wenn man die Anpassung nicht rechtzeitig geübt hat, kann das bei einer genetischen Vorbelastung zu einer größeren Anfälligkeit für Depressionen führen. Die Vorbereitung auf neue Lebensphasen ist daher extrem wichtig. Das ist in jedem Alter so, im höheren Alter aber besonders. Sie wird aber leider häufig versäumt. Für viele kommt z.B. die Pensionierung dann doch überraschend, obwohl sie bereits seit 65 Jahren feststeht.
Wie könnte man die Pensionierung vorbereiten?
Man muss sich rechtzeitig damit auseinandersetzen, was sich verändern wird, was man aktiv mitgestalten oder auch nicht gestalten kann. Welche Aktivitäten könnte ich aufbauen, damit ich sie dann habe, wenn ich sie brauche? Welche Sozialkontakte kann ich pflegen? Das ist ganz wichtig: Fehlende Sozialkontakte sind ein höherer Risikofaktor für eine vorzeitige Sterblichkeit und Morbidität als Übergewicht, Rauchen oder Bewegungsmangel, auf die wir uns viel mehr konzentrieren! Im Alter ist das noch ausgeprägter, weil Sozialkontakte naturgemäß abnehmen, wenn man nicht gegensteuert: Menschen sterben, der Radius der Mobilität wird geringer, etc. Verluste müssen ja alle Menschen mehr oder weniger durchleben, die das Glück haben, alt zu werden.
Wie einfach ist es, zwischen normaler Trauer und einer Depression zu unterscheiden?
Die wichtigsten Kriterien sind die Schwere bzw. der Ausprägungsgrad sowie die Dauer. Trauer lässt, wenn sie „normal“ verläuft, nach einer gewissen Zeit nach und die Stimmung ist zwischendurch aufhellbar, wenn erfreuliche Ereignisse passieren. Das ist bei einer Depression in der Regel nicht der Fall. Eine Depression
ist im Alter aber deutlich schwerer zu erkennen als sonst, weil sie sich oft weniger durch eine emotionale Herabgestimmtheit manifestiert, sondern durch Erstarrtheit, Gefühls- oder Freudlosigkeit, die man von außen oft gar nicht so leicht sieht. Im Alter stehen außerdem häufig somatische Symptome im Vordergrund, weil körperliche Probleme im Alter eben oft vorkommen. Menschen mit einer Depression benennen diese auch häufiger, sodass sich viele Ärztinnen und Ärzte fälschlicherweise darauf konzentrieren und die dahinterstehende Depression dann zu spät erkennen.
Wie lassen sich Depressionen im Alter behandeln?
Eine Behandlung muss immer multimodal sein. Je nach Schweregrad der Erkrankung ist die medikamentöse Therapie sehr wichtig, um erst einmal wieder Handlungsfähigkeit zu erreichen. Psychotherapie muss aber in jedem Alter dazugehören. Derzeit sehen wir eine Generation älterer Menschen, die zum Kriegsende
bzw. in der frühen Nachkriegszeit geboren wurde. Diese Menschen sind zum Teil schwer traumatisiert, konnten das aber nie thematisieren: Sie haben Menschen sterben sehen, der Vater kam nicht aus dem Krieg zurück oder die Familie hat den ganzen Besitz verloren. Die Botschaft lautete damals, einfach weiterzumachen.
Es gab keine Zeit dafür, aufzuarbeiten, was man als Kind gesehen hat. Im höheren Lebensalter kommt diese Last im Rahmen einer Depression häufig wieder zum Vorschein. Diese Themen kann man psychotherapeutisch jedoch gut bearbeiten. Wichtig ist: Wir müssen wegkommen vom Defizitmodell des Alters nach dem Motto „das ist eben so, wenn man alt ist und man kann nichts machen“. Natürlich muss man eine Psychotherapie entsprechend anpassen, aber sie ist in jedem Lebensalter möglich und sinnvoll.
Man kann den Tod des Partners, die Abwesenheit der Kinder oder den Verlust von Hobbies aber nicht wirklich schönreden...
Nein, aber man kann einen Umgang damit entwickeln, mit dem man leben kann. Neben der interpersonellen Psychotherapie helfen auch Tagesstrukturierung, Kreativität etc.In Großstädten wie München gibt es mittlerweile ja hervorragende Angebote für ältere Menschen: Sportliche und musikalische, Seniorenuniversität usw. Die Seniorenzentren und alterspsychiatrischen Dienste der Stadt München bieten exzellente Programme und Unterstützung an. Aber man muss davon wissen und sie wahrnehmen. Wer depressiv ist, schafft das alleine nicht mehr. Wir müssen die Patienten also an diese Angebote heranführen.
Ältere Menschen müssen oft sowieso schon viele Medikamente nehmen. Wie leicht steckt es ein älterer Körper weg, wenn dann noch Psychopharmaka dazukommen?
Dieser Punkt ist sehr wichtig: Die Medikation muss an die Altersphysiologie angepasst werden. Die Organfunktion von Leber und Niere und die Körperzusammensetzung verändern sich. Damit verändern sich auch Pharmakokinetik und -dynamik. Und nur ungefähr zehn Prozent der Über-65-Jährigen sind
noch vollkommen gesund. Ungefähr ein Viertel der über 70-Jährigen hat fünf oder mehr Erkrankungen gleichzeitig und muss auch dagegen Medikamente nehmen. Beim Thema Polypharmazie und Interaktion der verschiedenen Medikamente muss man sehr sorgfältig vorgehen, aber man kann dies gut in den Griff bekommen.
Probleme entstehen dann, wenn unterschiedliche Fachärzte Unterschiedliches verordnen und keiner vom anderen weiß. Das ist auch ein hohes Risiko für ein Delir.
Wir müssen also immer wieder überprüfen, welche Medikamente wirklich noch notwendig sind, priorisieren und Interaktionen sorgfältig eruieren. Das erfordert allerdings eine zusätzliche Expertise, die es noch zu wenig gibt: Altersmedizin ist als Spezialisierung in Deutschland nicht häufig anzutreffen. In der Schweiz
gibt es zusätzlich die sinnvolle Spezialisierung Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie, die hierzulande leider nicht existiert.
Was raten Sie den Hausärzten, die verschiedene Medikamente für ihre Patienten koordinieren müssen?
Hausärzte leisten hierbei eine sehr wichtige und hervorragende Arbeit, aber sie befinden sich in Deutschland unter einem massiven ökonomischen und Zeitdruck. Alter bedeutet ja oft: weniger Tempo. Das heißt: Hausärzte müssen sich deutlich mehr Zeit nehmen. Das wird von der Politik leider nicht so gesehen. Die Münchner Seniorenheime sind teilweise hervorragend, aber bezüglich der ärztlichen Betreuung nahezu alle skandalös unterversorgt. Und das ist vermutlich einer der größten Risikofaktoren in der Altersmedizin und auch für eine Altersdepression.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler