Leitartikel

Ärztliches Management der Coronakrise "Alle sind zusammengestanden"

Die Schnittstelle zwischen Rettungsdienst, Kliniken und Politik zu bilden ist die Aufgabe von PD Dr. Viktoria Bogner-Flatz und Dr. Dominik Hinzmann in der Coronakrise. Wie sie die Krise beurteilen und welche Lehren sie daraus ziehen, erzählten sie im Interview mit den MÄA.
Ärztliches Management der Coronakrise "Alle sind zusammengestanden"
Ärztliches Management der Coronakrise "Alle sind zusammengestanden"

Foto: Schutzanzug_Bildnachweis_Muenchen Klinik Klaus Krischok

 

Herr Dr. Hinzmann, Frau Dr.  Bogner-Flatz, was für Aufgaben haben Sie in Corona-Zeiten übernommen?

 Hinzmann: Wir arbeiten beide zu 50 Prozent als Ärztliche Leiter Rettungsdienst beim Rettungszweckverband München. Zur anderen Hälfte sind wir an den beiden Unikliniken angestellt – ich als Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Klinikum rechts der Isar, Frau Dr. Bogner-Flatz als Sektionsleiterin der Notaufnahme am Klinikum der LMU. Im Rahmen der Corona-Pandemie waren wir als Ärztliche Leitung der Führungsgruppe Katastrophenschutz (FüGK) für Stadt und Landkreis München tätig. Im Rettungsdienst zählen unter anderem das Qualitätsmanagement und die Betreuung der Notfallsanitäter zu unseren Aufgaben. Wir überwachen ihre Maßnahmen, die Ausstattung der Fahrzeuge, ihre Weiterbildung etc.

Bogner-Flatz: Außerdem sind wir gemeinsam mit der Leitstelle für die Organisation der Zuweisungen der Patienten in die Kliniken zuständig. Da wir in München schätzungsweise etwa ein Achtel aller Rettungsdienstzuweisungen von ganz Bayern haben, arbeiten wir, wie die Kollegen in Augsburg und Nürnberg, zu zweit.

Wie ist es Ihnen in der Corona- Zeit ergangen? Was war anders als vorher?

Hinzmann: Alles war anders. Am 16. März wurde in Bayern der Katastrophenfall ausgerufen, am 24. März wurde eine Allgemeinverfügung zur Bewältigung der Pandemie als eine Art Notfallgesetz erlassen. Daraufhin wurden wir als Ärztliche Leitung in die FüGK berufen. Diese Position gab es vorher nicht. Die Ärztliche Leitung wurde basierend auf der Allgemeinverfügung mit zahlreichen Rechten ausgestattet, um die Koordination der Patientenströme vornehmen zu können. Erstmals in Bayern wurden die gesamte elektive medizinische Versorgung und um den Höhepunkt der Krise am 6. April auch „Operationen nachrangiger Dringlichkeit“ eingestellt. Ohne die Notbeatmungsplätze hatten wir so in ganz München 883 Intensivbetten – mehr als das Doppelte der ursprünglichen Bettenzahl konnte durch Umstrukturierungsmaßnahmen geschaffen werden. In extremen Fällen hätte man noch weitere 150 bis 200 Notbeatmungsplätze schaffen können.

Gab es Probleme, all das an die Kliniken zu kommunizieren?

Bogner-Flatz: Nein, alle haben mitgemacht. Aus meiner Sicht war das einer der Gründe, warum wir bis heute „mit einem blauen Auge davongekommen“ sind. Die politischen Entscheidungsträger haben innerhalb kürzester Zeit Strukturen wie unsere möglich gemacht. Dafür gebührt ihnen Respekt. Zudem konnten wir durch den früheren Epidemie-Verlauf in Italien, Österreich und der Schweiz manche Fehler vermeiden und Maßnahmen modifizieren.

Hinzmann: Aus meiner Sicht wurde die Entscheidung zum teilweisen Lockdown zum letztmöglichen und richtigen Zeitpunkt getroffen. Auch nur eine Woche später wäre uns die Situation vermutlich „um die Ohren geflogen“. Anfangs hatten wir Hochrechnungen, dass wir in der Region München rund 5.000 bis 6.000 Intensivbetten brauchen würden. Das hätten wir nicht geschafft.

In einem Interview berichtete uns Prof. Dr. Jauch als Direktor der LMU-Klinik, dass dort nur ein Bruchteil der Betten gebraucht wurde (s. MÄA 09/2020).

Hinzmann: Durch den teilweisen Lockdown konnten wir eine relativ rasche Abflachung der Kurve erreichen und mussten die Kapazitäten in keiner Klinik ausreizen. Zum Höhepunkt der Krise hatten wir in ganz München an einem Tag 279 belegte Intensivbetten. Aufgrund der hohen Liegedauer haben wir aber auch jetzt noch Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Mittlerweile können wir die Bettenkapazitäten teilweise wieder zurückbauen. Das tun wir so, dass wir sie notfalls innerhalb weniger Tage wieder hochfahren können.

Gab es für Sie Widersprüche zwischen Ihren Rollen als Klinikmitarbeiter und als Ärztliche Leiter Rettungsdienst?

Bogner-Flatz: Aus meiner Sicht nein. Aber wir konnten vor Ort sehen, was es bedeutet, wenn man alle elektiven Eingriffe radikal absagt. Denken Sie zum Beispiel an Patienten mit einer schweren Arthrose des Hüftgelenks. Wenn Sie bei jedem Schritt Schmerzen haben, mindert das Ihre Lebensqualität extrem. Gleichzeitig gelten diese Patienten durch ihr Alter und Vorerkrankungen meist als Risikopatienten, und sie brauchen oft nach der Operation für einige Tage eine Intensivbehandlung. Auch bei der Planung des jetzigen Rückbaus der Betten ist es nicht einfach, zu definieren, was dringend, „mitteldringend“ und was verschiebbar ist.

Welche Herausforderungen mussten Sie sonst noch bewältigen?

Hinzmann: Auch während der Coronakrise mussten die großen Kliniken die umliegenden Landkreise weiterhin bei anderen Notfällen ohne Covid-19 unterstützen, z.B. bei schweren Kopfverletzungen. Wir mussten alle Patienten so steuern, dass man ihnen gerecht werden konnte. Dazu hatten wir 24/7 eine zentrale Hotline geschaltet. Gleichzeitig mussten wir die Entlassung der Genesenen organisieren. Viele Altenheime haben ihre zum Teil schwerst pflegebedürftigen Patienten aufgrund der Verfügungen zu ihrem Schutz nicht wieder zurück übernommen. Dankenswerter Weise sind viele kleinere Kliniken eingesprungen und haben diese pflegebedürftigen Patienten solange versorgt, bis sie wieder zurück nach Hause konnten.

Bogner-Flatz: Die Zusammenarbeit war hervorragend – mit den Kliniken, den Behörden wie z.B. dem RGU, aber auch mit Praxen, die uns teilweise sogar die Verwendung ihrer Materialien und Ausstattung angeboten haben. Dafür möchten wir allen Beteiligten danken.

Hatten auch Sie mit fehlender Schutzkleidung und fehlenden Tests zu kämpfen?

Hinzmann: Zu Anfang ja. In München wurden wir aber zum Glück durch die Berufsfeuerwehr unterstützt. Trotz Engpässen gab es immer noch ein paar Reserven. Bedenken Sie: Allein im Klinikum rechts der Isar verbrauchen wir normalerweise pro Tag ca. 5.000 Schutzkittel. Die Reserven dafür wurden aber nie ganz aufgebraucht, weil alle zusammen geholfen haben. Einmal brauchte eine kleinere Klinik an einem Samstagmorgen spezielle Systeme zum infektionsfreien Absaugen. Eine größere Klinik hat ihr diese kurzfristig ausgeliehen. Alle haben an einem Strang gezogen

Die erste Welle scheint abgeebbt, ob eine zweite kommt, wissen wir noch nicht. Was können wir aus der ersten Welle lernen?

Hinzmann: Aktuell ist es aus meiner Sicht für ein Resümee noch zu früh. Wahrscheinlich wird das aber nicht die letzte Pandemie gewesen sein, sodass man sich z.B. auch politisch fragen muss, ob und wie die Funktion des Ärztlichen Leiters FüGK weitergeführt werden muss. Ich habe in dieser Zeit viel Erfahrung gewonnen. Anfangs habe ich etwa so viel gearbeitet wie bei 2,5 Vollzeitstellen. Für die Zukunft könnten wir vieles vorbereiten und darauf im Notfall aufbauen.

Bogner-Flatz: Wir mussten bisher noch nie in Echtzeit testen, wie schnell die Münchner Kliniken neue Intensivbetten schaffen können. Dazu mussten Personal verlagert, Umbaumaßnahmen durchgeführt und neue Geräte angeschafft werden. Es war beeindruckend zu sehen, in welch kurzer Zeit das gelungen ist. Das für die Zukunft zu wissen, ist Gold wert.

Einige Kollegen warnen davor, dass wegen der Corona-Maßnahmen schließlich mehr Menschen Schaden erleiden könnten als wegen der Erkrankung an sich.

Bogner-Flatz: Statistiken aus den Notaufnahmen zeigen, dass tatsächlich viel weniger Patienten sich selbst eingewiesen haben. Auch bei schweren Diagnosen wie Myokardinfarkt oder Schlaganfall sah man einen Rückgang der Zahlen, wenn auch in München anhand der Rettungsdienstzahlen keinen eklatanten. Ich kann mir allerdings schon vorstellen, dass einige Patienten einen Nachteil davontragen werden, weil sie in dieser Zeit keinen Arzt aufgesucht haben. Die Folgen davon und von der Verschiebung medizinischer Maßnahmen wird man aber erst in einiger Zeit sehen.

Hinzmann: Ich meine, dass sich die Patienten tendenziell in einem schlechteren Zustand befanden als sonst, wenn sie in die Klinik kamen. Womöglich hat die Bevölkerung später die 112 angerufen, weil sie Angst hatte, sich sozusagen „in die Höhle des Löwen“ zu begeben. Aber das ist nur ein Bauchgefühl.

Bogner-Flatz: Ein weiterer Faktor könnte sein, dass die „innerfamiliäre soziale Kontrolle“ weggefallen ist, weil erwachsene Kinder ihre älteren Eltern nicht mehr besucht und sie dadurch nicht dazu ermuntert haben, zum Arzt zu gehen.

Wie einfach oder schwer war die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärzten?

Hinzmann: Die Niedergelassenen waren die stützende Säule des Systems. Die Kliniken wären kollabiert, wenn das Praxissystem zusammengebrochen wäre. Ich fand es extrem wertvoll, die Allgemeinmediziner Dr. Abbushi und Dr. Vorderwülbecke als Versorgungsärzte an unserer Seite zu haben (s. Interview in den MÄA 11/2020), weil sie besser verstehen, welche Bedürfnisse Praxen haben. Alle sind zusammengestanden.

Welche Lehren ziehen Sie insgesamt aus der Coronakrise?

Bogner-Flatz: In den Kliniken haben wir quer durch alle Bevölkerungs-, Vorerkrankungs- und Altersschichten teilweise schwerste Verläufe gesehen, auch bei jungen, nicht vorerkrankten Patienten. Daher sehen wir Demos gegen die Maßnahmen mit Sorge. Sollte eine zweite Welle kommen, müssen wir uns allerdings aus meiner Sicht Modifikationen überlegen. Derart krasse Maßnahmen können nicht Teil unseres Alltags werden. Das wird eine große Herausforderung für die Zukunft.

Das Gespräch führte Stephanie Hügler Stand: 18. Juni 2020