151. Delegiertenversammlung, Notfall, Notfallversorgung
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Mangelnde Planungssicherheit und erste Insolvenzen führten aktuell zu einer Notsituation an vielen Orten, beschrieb der 2. Vorsitzende des ÄKBV, Dr. Andreas Schießl die prekäre Lage. Dr. Sebastian Streckbein stellte eine Umfrage unter den Delegierten zum Thema vor – sowohl aus Perspektive der Niedergelassen wie auch der Notärzt*innen, Klinikärzt*innen. Haus- und Fachärztinnen oder -ärzte bemängelten darin unter anderem fehlende Ansprechpartner in anderen Praxen oder Kliniken genauso wie eine gravierende Knappheit bei Transport-, Betten- und allgemein Notfallkapazitäten für Erwachsene und Kinder. Sie beklagten unklare Zuständigkeiten in der kleinen Wundversorgung sowie unzureichende Kenntnisse der Notfallmedizin und ihrer Strukturen bei den Patient*innen. Kontrolltermine und Wiedereinbestellungen führten zu knappen Ressourcen bei Neu- oder Notfallpatient*innen.
Mitarbeiter*innen im ärztlichen Bereitschaftsdienst machen sich Sorgen wegen zu wenig zeitnahen Terminen und zu wenig Hausbesuchen bei den Niedergelassenen. Einige beklagen die sehr unterschiedlichen notfallmedizinischen Qualifikationen bei ihren Kolleg*innen im Bereitschaftsdienst und das teilweise Fehlen einer adäquaten technischen Ausstattung wie EKG oder BGA. In manchen Fällen müssten Patient*innen nur wegen eines EKGs in die zentrale Notaufnahme. Auch eine Rückführung ins hausärztliche System sei oft schwierig, weil eine gemeinsame elektronische Patientenakte fehle.
Die unzureichende klinische Patientensteuerung ist der Hauptkritikpunkt vieler Kliniker*innen. Weil sie zu wenig über die Strukturen und Zuständigkeiten im ambulanten Bereich wüssten, kämen viele Patient*innen zu Fuß direkt in die Notaufnahmen. In den Bereitschaftspraxen wiederum würden sie oft zu großzügig in Kliniken eingewiesen – teilweise sogar ohne vorherigen direkten Arztkontakt, weil dort oft nur „die Jüngsten“ ohne Erfahrung eingesetzt würden. Der aktuelle Personalmangel im Ärztlichen Dienst und in der Verwaltung halte den Klinikbetrieb genauso auf wie absurde Vorgaben zu Dokumentation und Digitalisierung oder Schwierigkeiten bei der Abverlegung etwa von älteren Patientinnen und Patienten. Weil gerontopsychiatrische Strukturen bei internistischen Problemen fehlten, landeten Demenzkranke und Weglaufgefährdete zu oft nur wegen einer nötigen Antibiose auf der Intensivstation.
All diese Probleme und dass Nachtdienste auch bei über 55-Jährigen noch immer an der Tagesordnung sind, führten dazu, dass immer mehr erfahrene, qualifizierte Mitarbeiter*innen die Kliniken verließen.
„Jeder Blödsinn ist ein RD/NA-Einsatz“, beklagte hingegen ein Delegierter aus der Notfallmedizin in der Umfrage – trotz Vernetzung mit der 116117. Lückenhafte Patientenakten, Datenerfassung und Dokumentation mit bis zu drei Rettungsdienstprotokollen machten die Arbeit in den Notaufnahmen schwer. Zu häufig müsse zwangsbelegt werden, weil ein adäquates Klinikbett nicht verfügbar sei. Allgemein mangele es an Ressourcen. Gleichzeitig führe die präklinische Notfallmedizin ein Stiefmütterchendasein, mit einer unterdurchschnittlichen Vergütung, Nachwuchs- und Qualitätsproblemen und einer unklaren politischen Perspektive. Trotzdem lasse die KV in einigen Fällen motivierte Notärztinnen und Notärzte nicht fahren, weil die Abläufe zu schwierig seien.
Ein Beispiel, wie man vieles anders organisieren kann, präsentierte mit viel österreichischem Humor Christof Constantin Chwojka, aktuell Geschäftsführer bei der Björn Steiger Stiftung, früher beim Notruf Niederösterreich. Seine Erfahrungen bei der Gesundheitsleitstelle Notruf Niederösterreich schilderte er per Zoom: Pro Tag würden dort rund 800 Rettungsfahrzeuge disponiert. Damit versorge eine einzige Leitstelle insgesamt vier Standorte – Mödling, St. Pölten, Stockerau und Zwettl. Früher habe man in Österreich mit Ehrfurcht nach Deutschland geblickt. Doch heute frage man sich dort: „wo ist Deutschland falsch abgebogen?“. „Das deutsche System fährt gegen die Wand. Die Frage ist nur, ob man angeschnallt ist“, prophezeite der Referent. Hierzulande sei aktuell der Rettungsdienst der einzige 24-7-Dienstleister. Der aufwändig parallel betriebene kassenärztliche Notdienst sei keine Leitstelle, sodass man bei Anruf über die 112 meist nur den Rettungsdienst schicken könne. Dieser verfüge jedoch über beschränkte Kompetenzen und Materialien und sei zu„transportorientiert“, was zu unnötigen Krankenhauskontakten führe.
Aus diesem Grund habe man sich in Niederösterreich ein anderes System überlegt – weg von der reinen Leitstelle hin zu Beratung und Telemedizin: „Der Patient soll kriegen, was er braucht, am best Point of Service“, erläuterte Chwojka. Gleichzeitig funktioniere der Notruf Niederösterreich als Gatekeeper: Dort, wo zunächst eine Selbstbehandlung möglich sei, werde diese von erfahrenen Ärztinnen und Ärzten am Telefon angeraten. Im Gespräch werde den Menschen zudem erläutert, ob und wann sie einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen sollten: innerhalb von einem Tag, innerhalb der nächsten ein bis drei Tage oder innerhalb der nächsten 14 Tage. Nur wer wirklich ins Krankenhaus müsse, komme schließlich dorthin. Als großes Plus schilderte er die Tatsache, dass beim Notruf Niederösterreich die meisten Mitarbeiter*innen an den Telefonen vom Homeoffice aus arbeiten könnten. Personalmangel herrsche bei ihnen daher nicht.
Auch für die Patient*innen sei diese Form der Beratung zufriedenstellend: Die Ergebnisse der ärztlichen Beratung erhielten sie anschließend auf ihr Handy. Dadurch folgten die meisten Anrufenden den Empfehlungen. Sie schätzten den Kundenservice, denn die Antwortzeit auf einen Anruf betrage durchschnittlich nur 4,3 Sekunden. Chwojka betonte, es sei wichtig, die Zugänge für die Patient*innen an deren bevorzugte Kommunikationswege anzupassen und etwa auch Social Media wie Instagram, Facebook, WhatsApp oder iMessages zu nutzen.
An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen neben Chwojka teil: Prof. Dr. Victoria Bogner-Flatz und Dr. Dominik Hinzmann, jeweils Ärztliche Leiter*innen Rettungsdienst München, Dr. Sebastian Helber, Chefarzt der München Klinik Neuperlach und Dr. Christian Pfeiffer, 1. Vorsitzender des Vorstands der KVB.
Pfeiffer zeichnete ein weniger dramatisches Bild der bayerischen Notfallversorgung als Chwojka. So werde derzeit bei der 116117 in vielen Regionen Bayerns die „strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland (SmED)“ eingeführt. Diese bereits 3 Millionen Mal in Bayern getestete und hinsichtlich Patientensicherheit evaluierte Software helfe medizinischem Fachpersonal im Bereitschaftsdienst schon jetzt bei der Triage. Nachdem über die 116117 wichtige Red Flags abgefragt worden seien, würden viele Menschen an eine Bereitschaftspraxis verwiesen, über den Hausbesuchsdienst aufgesucht oder über Videotelefonie behandelt.
In Regensburg teste man derzeit auch ein mit SmED am Tablett ausgestattetes Rettungsfahrzeug. Die Sanitäter*innen könnten damit direkt vor Ort eine Ersteinschätzung vornehmen und die Patient*innen entweder direkt behandeln oder an eine Hausarztpraxis weiter verweisen. Dadurch müsse nur etwa ein Viertel aller Fälle tatsächlich in die Klinik. Anhand des IVENA-Programms sei es sogar möglich, die Patient*innen in die nächste Praxis mit einem freien Termin oder eben in die Notaufnahme zu leiten.
Am Tresen in der Notaufnahme oder in der Bereitschaftspraxis werde derzeit zudem das System SmED plus eingeführt, das zusätzlich die Kriterien des Manchester-Triage-Systems (MTS) nutze. Dass dies gut funktioniere sei in zwei Studien am Klinikum Rosenheim festgestellt worden. Immerhin rund ein Viertel der Besucher*innen in der Notaufnahme seien so in den ambulanten Bereich zurückgesteuert worden – und auch die Patient*innen seien damit sehr zufrieden. Im neuen Jahr 2024 werde das System „SmED Patient“ zur persönlichen Selbsteinschätzung mit dem Smartphone ausgerollt. Dabei erhielten Patient*innen ein Feedback zu Hausmitteln und dazu, ob und wann es Zeit sei, die 112 oder die 116117 anzurufen bzw. die Hausarztpraxis aufzusuchen.
Die technische Vernetzung der 116117 und der 112 sei bereits in mehreren Regionen in Pilotprojekten getestet worden und ab Dezember 2023 bayernweit möglich. Wer bei der 116117 anrufe, könne per Knopfdruck mit der 112 verbunden werden – und umgekehrt. Daten und Anamnese würden mitgeliefert. „Vieles, was wir eben beim Vortrag gesehen haben, geht auch bei uns. Es ist nur die Frage, wieweit man den Service ausbaut“, sagte Pfeiffer. Derzeit werde alles von der KVB selbst finanziert. Bei der Einbeziehung von Sozialdiensten und der Nutzung in großem Stil sei dies nicht mehr möglich und müsse von der Politik mitfinanziert werden.
Auch Chwojka bescheinigte dem SmED-System gute Noten. Er riet aber zu noch mehr „Points of Service“. Noch fehlten zu oft Alternativen zum Rettungsdienst 112. Helber lobte das niederösterreichische System als „sehr charmant“, weil es damit möglich sei, die Patient*innen sehr niederschwellig und schnell aufzuklären. Er sprach sich für eine bessere Steuerung des Zugangs zu den Notaufnahmen aus. Wenn Patient*innen nach längerer Zeit in der Warteschleife bei der 116117 niemanden erreichten, hängten verständlicherweise viele ein und gingen lieber direkt in die Klinik. Bogner-Flatz lobte das SmED-System und die Möglichkeit, damit immerhin fast ein Viertel der Patient*innen aus den Notaufnahmen abzuleiten als „sensationell“ – auch, weil die Patient*innen damit zufriedener seien. Wer sitze schon gern mehrere Stunden in der Notaufnahme, um auf die Triage zu warten. Zur Treffsicherheit in der Anamnese beim niederösterreichischen System konnte Chwojka keine Studienergebnisse nennen.
Hinzmann hinterfragte die standardisierte Notrufabfrage beim Telefonkontakt. Untersuchungen in Nürnberg hätten ergeben, dass eine Standardisierung zu mehr, nicht weniger, Notarzteinsätzen geführt habe. Erste Berichte über die Verwendung des SmED-Systems in Rettungsfahrzeugen seien allerdings extrem gut. Chwojka betonte, in Niederösterreich werde eine international anerkannte und qualitätsgesicherte Standardisierung angewendet, die in Deutschland nur an sehr wenigen Standorten verwendet werde. Leider gebe es am Markt auch weniger gute Standardisierungsprogramme. Dass ein Notruf von verschiedenen Menschen unterschiedlich beantwortet werde oder dass die Antwort davon abhänge, ob die Person am Telefon gerade gute oder schlechte Laune habe, dürfe nicht sein.
Ein Delegierter wollte wissen, wie das Thema Datenschutz beim Notruf Niederösterreich angesichts der Verwendung sozialer Medien gelöst werde. „Deutschland hat den unfassbaren Drang, aus jeder Lösung ein Problem zu machen“, war Chwojkas lakonische Antwort. Datenschutz sei europäisches Recht, aber nur in Deutschland würden noch Faxgeräte zum Datenschutz eingesetzt. Die europäische Datenschutzgrundverordnung erlaube die Speicherung von Daten grundsätzlich immer, wenn es einen Grund dafür gebe, und diesen gebe es hier. Natürlich müsse man aber besonders auf Cybersicherheit achten, wenn man Daten in einer Cloud speichere.
Stephanie Hügler
MÄA 01/2024 vom 23.12.2023