Leitartikel

149. Delegiertenversammlung, Long Covid: Leben im Stillstand

Die Pandemie ist offiziell vorbei – doch nicht für alle. Wer nach der Infektion eine Long- oder Post-Covid-Erkrankung entwickelte, hat oft bis heute damit zu kämpfen. Das Gleiche gilt für Menschen mit Post-Vac-Syndrom nach der Corona-Schutzimpfung. Bei der 149. Delegiertenversammlung am 22. Juni riefen Expert*innen dazu auf, beides ernst zu nehmen und eine gute Versorgung zu garantieren.
149. Delegiertenversammlung des ÄKBV, Long Covid: Leben im Stillstand
149. Delegiertenversammlung des ÄKBV, Long Covid: Leben im Stillstand

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Rund 650 Millionen an Covid-19 Erkrankte weltweit, davon ca. 65 Millionen mit Long Covid – das ist die erschreckende Bilanz nach der Pandemie. Expert*innen gehen davon aus, dass rund 10 Prozent der Infizierten mit Corona-Langzeitfolgen zu kämpfen haben. Deutschlandweit Foto: Shutterstock wären das etwa 1 Million Menschen. Die Zahl der leicht bis schwer vom Post-Vac-Syndrom Betroffenen schätzte das Paul-Ehrlich-Institut im April dieses Jahres laut Berliner Morgenpost auf 70.000 bis 100.000 Menschen deutschlandweit. Auch wenn die Zahl geringer ist, leiden auch diese Menschen teilweise sehr und brauchen eine gute Versorgung.

Zum Thema sprachen bei der 149. Delegiertenversammlung drei Expert*innen: Prof. Dr. Jörg Schelling, niedergelassener Hausarzt in Martinsried, PD Dr. Martin Alberer, acharzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie Allgemeinmediziner und Prof. Dr. Uta Behrends, Kinderhämatoonkologin und Leiterin des MRI Chronische Fatigue Centrums für junge Menschen (MCFC) der Kinderpoliklinik des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München.

Noch immer gebe es bei Long oder Post Covid eine große diagnostische Unsicherheit, kein eindeutiges Erklärungsmodell und keine spezialisierten Therapieansätze, fasste Prof. Dr. Schelling den derzeitigen Wissensstand zusammen. Betroffene litten oft an einer ausgeprägten psychischen Komorbidität und somatopsychischen Interaktionen. Schelling riet daher entsprechend der aktuellen AWMF-Leitlinie vom August 2022, den Kranken die in der Regel gute Prognose zu kommunizieren, etwa mit dem Satz: „Ich bin mir sicher, dass es Ihnen in ein paar Monaten wieder besser gehen wird“. Bei einer symptomorientierten Therapie und guter psychosozialer Betreuung gehe es den Meisten tatsächlich nach einigen Monaten wieder gut. Reha-Maßnahmen und gute Absprachen mit Physio- und Ergotherapeut*innen sowie Logopäd*innen seien sehr wichtig. Das Budget dafür sei in diesen Fällen unbegrenzt, im Gegensatz zur Labordiagnostik, die bei manchen Parametern schwierig werden könne.

Schelling bedauerte, dass viele Betroffene entweder ausschließlich in der hausärztlichen Primärversorgung oder in Spezialambulanzen behandelt würden. Obwohl die Erkrankung viele Fachbereiche betreffe, die Pneumologie genauso wie die Kardiologie oder die Gastroenterologie, sei die fachärztliche Betreuung auch wegen der ungeklärten Vergütung oft nicht gewährleistet. Besonders ausgeprägt sei der Mangel an psychotherapeutischer Behandlung. Dabei müsse die psychosoziale und psychosomatische Intervention mit im Vordergrund stehen. Wichtig sei nach wie vor die Vorbeugung: „Der beste Schutz vor Long Covid ist die Impfung“, sagte Schelling. Aus seiner nun seit rund 2,5 Jahren bestehenden Long-Covid-Sprechstunde berichtete PD Dr. Alberer. Long bzw. Post-Covid sei, wie Covid-19 selbst, eine Multisystemerkrankung, unter der die Betroffenen massiv litten. Viele Patient*innen seien weiblich, zwischen Mitte 20 und Mitte 40 und hätten oft nur leichte akute Erkrankungssymptome gehabt. Bei vielen handele es sich um „Over-Achiever“, sportliche Menschen, die vorher beruflich und privat viel geleistet hätten. Nach der vermeintlich überstandenen Infektion gingen viele bald wieder zur Arbeit – seien aber nach wenigen Wochen so erschöpft, dass dies nicht mehr möglich sei. Eine Abgrenzung etwa zur Depression sei möglich, weil viele eigentlich genügend Antrieb hätten: „Die Leute wollen alles machen, schaffen es aber nicht“, sagte Alberer.

Als besonders häufige Symptome nannte der Referent chronische Erschöpfung und post-exertionelle Malaise, Atemnot bei Treppensteigen, Herzrasen, Schmerzen aller Art wie Kopf-, Muskel- oder Gliederschmerzen. Hinzu kommen u.a. gastrointestinale Symptome, Schlafstörungen bzw. nicht erholsamer Schlaf sowie neurokognitive Symptome mit Merkfähigkeits-, Konzentrations- und Wortfindungsstörungen – häufig alles zusammen. Viele litten auch unter einer hohen Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Die Pathophysiologie sei ungeklärt, es gebe aber Hinweise auf Entzündungen im Hirnstamm und eine Unterfunktion im limbischen System. Auch Geruchs- und Geschmacksstörungen seien sehr belastend, etwa wenn die Betroffenen bestimmte Gerüche nicht mehr ertragen könnten, weil sie unangenehm geworden seien. Alles zusammen habe einen hohen Einfluss auf die Lebensqualität. Einige könnten nicht mehr lesen oder vergäßen es, wenn sie einen Topf auf den Herd gestellt hätten. „Bei einem betroffenen Arzt würde dies die Berufsunfähigkeit bedeuten“, sagte Alberer.

Um den Patient*innen bei der Bewältigung der Krankheit zu helfen, müssten diese das „Pacing“ lernen, also eine optimale Balance zwischen Schonung und Aktivierung. Indem sie Pausen einhielten und ihre Grenzen respektierten ließen sich akute Verschlimmerungen und eine post-exertionelle Malaise häufig vermeiden. Auch Verhaltenstherapie, Yoga, Entspannungstechniken und Atemphysiotherapie könnten helfen. Wichtig sei, vom Post-Vac-Syndrom Betroffenen ebenfalls ein offenes Ohr zu schenken, denn auch diese hätten es oft schwer, angemessen behandelt zu werden.

Von ihrer Erfahrung mit betroffenen Kindern und Jugendlichen berichtete Prof. Dr. Uta Behrends. „Nach drei Jahren Pandemie sind noch viele Fragen offen“, sagte die Expertin für postvirale Symptome und Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS), die sich jahrelang mit möglichen Folgen von Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus beschäftigt hat. Zum Glück gebe es gute epidemiologische Daten aus Großbritannien. Doch noch seien Längsschnittstudien rar, die Auskunft darüber geben, wer wie lange mit welchem Schweregrad erkranke. Bei Kindern und Jugendlichen sei dies noch schwerer zu beantworten als bei Erwachsenen.

Dabei seien Kinder und Jugendliche mit Post-Covid noch vulnerabler als Erwachsene: „Bei den Kindern und Jugendlichen tickt die Uhr schneller“, sagte Behrends. Wer einige Wochen oder gar Monate in der Schule gefehlt habe, könne teilweise keinen Schulabschluss mehr machen oder verliere seine Peer Group.

Behrends bestätigte die Beobachtung Alberers, dass es große Schwankungen und Rückfälle gebe und dass oft „High Performer“ betroffen seien. „Viele denken, es geht schon wieder, überanstrengen sich und werden davon noch kränker“. Dabei würden Exazerbationen von Grunderkrankungen wie Migräne oder Asthma gar nicht unter dem Begriff Post-Covid gefasst. Auch eine multiple Traumatisierung nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation wegen Covid-19 würde nicht darunter subsumiert. Wichtig sei, dass es sich um eine Multisystemerkrankung handle: Insgesamt seien mehr als 200 Symptome bekannt, darunter die chronische Erschöpfung (Fatigue), die bei vielen betroffenen Kindern und Jugendlichen auftrete.

Inzwischen zeigten einige kontrollierte Studien eine niedrige Prävalenz bei kleineren Kindern. Schwerer betroffen seien Jugendliche und junge Erwachsene, überwiegend Mädchen. Trotzdem zeigten auch Kinder manchmal eine ausgeprägte postexertionelle Malaise nach alltäglichen Anstrengungen, oft um ein bis zwei Stunden versetzt, manchmal sogar Tage später, für Tage oder Wochen. Hinzu kämen bei Betroffenen mit ME/CFS die bereits von Alberer genannten Symptome wie schlechter Schlaf, Schmerzen, neurokognitive Symptome, Reizüberempfindlichkeit und Kreislaufprobleme. Einige Betroffene zeigen im 10-Minuten-Stehtest ein Posturales Tachykardie-Syndrom (PoTS), was den Alltag in aufrechter Position erheblich erschweren kann. Die Prävalenz von ME/CFS habe sich seit Beginn der Covid-19-Pandemie etwa verdoppelt bis verdreifacht. „Es besteht politischer Handlungsbedarf!“, sagte Behrends. Die Versorgungsbedarfe müssten besser gedeckt werden.

Auch Behrends empfahl ein gutes Selbstmanagement mit Pacing, Schlafhygiene und Atem- und Kreislaufübungen. In schweren Fällen müsse auch ein angemessener Grad der Behinderung oder ein passender Pflegegrad festgestellt werden. Digitale, sektorenübergreifende Konsile könnten bei der Betreuung und einer individualisierten Behandlungsstrategie helfen. Eine Herausforderung sei nach wie vor die Abgrenzung zu psychischen Erkrankungen. Man müsse sich immer fragen, ob die Symptome nicht auch eine Folge von psychosozialen Belastungen durch die soziale Distanzierung während der Pandemie sein könnten. Die Schulschließungen seien definitiv ein Fehler gewesen.

Nach den Vorträgen entspann sich eine rege Diskussion mit den Delegierten. Wie man Eltern davon überzeugen könne, ihre Kinder endlich impfen zu lassen, fragte ein Delegierter. Grundsätzlich hänge die Indikation von der Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe auf die zirkulierenden Virusstämme ab, die STIKO-Empfehlungen sind deshalb im Fluss. Be ausreichender Wirksamkeit würde sie adoleszenten Mädchen zur Impfung raten, antwortete Behrends. Es brauche insgesamt unbedingt mehr Versorgungsforschung, und um auch das Screening zu Long und Post-Covid zu verbessern. Wichtig sei es, auch Schulberatungsstellen aufzuklären.

Wie das Risiko bei Re-Infektionen sei wollte ein Delegierter wissen. Es gebe zu wenig Daten, antwortete Alberer, aber vieles deute darauf hin, dass eine Re-Infektion zu einer Verschlechterung führen könne. Unabhängig vom Impfstatus gebe es dabei oft ein höheres Risiko für Addon-Komplikationen. Oft definiere das Ausmaß der Erstinfektion das Ausmaß der Zweitinfektion.

Eine Delegierte bemängelte das Fehlen von Physiotherapeut*innen, die zum Hausbesuch kommen. In den Reha-Einrichtungen sei bei Post-Covid häufig nur Dyspnoe als Symptom bekannt, nicht aber Fatigue. Sie schilderte konkret den Fall eines Patienten mit Post-Vac-Syndrom, dem es aktuell sehr schlecht gehe und der kaum aus dem Bett komme, sogar gefüttert werden müsse. Eine App könne vielen Patient*innen beim Pacing helfen.

Ob jemand, der sich im Herbst erneut zum dritten oder vierten Mal impfen lasse vom Post-Vac-Syndrom gefährdet sei, fragte ein Delegierter. Schelling antwortete, dass wer bis jetzt kein Post-Vac-Syndrom habe dies vermutlich auch jetzt nicht entwickeln werde. In der künftigen Impfsaison werde man aber wahrscheinlich gezielter Risikogruppen impfen. Bei Personen mit Post-Vac-Syndrom vermutete Alberer, dass sie womöglich auch nach einer Covid-19 ein Post-Covid-Syndrom entwickelt hätten, sagte Alberer. Offenbar gebe es Menschen, die aufgrund ihrer immunologischen Ausstattung besser nie mit dem SARS-Cov2-Virus in Kontakt kommen sollten.

Im weiteren Verlauf der Delegiertenversammlung wurde unter anderem auch über eine Beitragserhöhung für den ÄKBV abgestimmt. Lesen Sie dazu den Artikel der 1. Vorsitzenden, Dr. Irmgard Pfaffinger, auf S. 8.

Stephanie Hügler

MÄA Nr. 15 vom 15.07.2023