Leitartikel

141. Delegierten-Versammlung zum Post-/Long-Covid Syndrom, Licht am Ende des Tunnels?

Der lange, düstere Covid-Winter liegt hinter uns. Doch für manche Patient*- innen mit Post-/ oder Long-Covid-Syndrom ist das Leben noch immer trübe. Ihnen und ihren behandelnden Ärzt*innen machten die Referentinnen der 141. Delegiertenversammung mit ihren Vorträgen Hoffnung.
141. Delegierten-Versammlung zum  Post-/Long-Covid Syndrom, Licht am Ende des Tunnels?
141. Delegierten-Versammlung zum Post-/Long-Covid Syndrom, Licht am Ende des Tunnels?

Foto: shutterstock

 

Wie mit den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion umgehen? Von ihren Erfahrungen mit Patient*innen mit Post-/ Long-Covid-Syndrom berichtete Dr. Dr. Elham Khatamzas, mittlerweile Oberärztin der Infektiologie in der Abteilung Tropen- und Infektionsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg, die lange am LMU-Klinikum tätig war. Sie hielt den Eröffnungsvortrag bei der Delegiertenversammlung am 24. Juni mit dem Titel „Ein Licht am Ende des Tunnels“. Erstmals wurde die Veranstaltung live auf YouTube gestreamt (Link s. Kasten).

Schwierigkeiten mache zunächst die uneinheitliche Definition der beiden Phänomene. Khatamzas definierte persistierende Symptomen ohne andere Erklärungen vier Wochen nach einer akuten Infektion als Post-Covid-Erkrankung, 12 Wochen später als Long-Covid. Die Therapiemöglichkeiten bei diesen Patient*innen seien begrenzt, die Prognose unsicher. Einiges lasse sich aber womöglich aus den langjährigen Erfahrungen mit anderen postviralen Symptomen ableiten, etwa nach einer Epstein-Barr-Virus-Infektion oder nach SARS-CoV-1.

Daten zur Epidemiologie gebe es vor allem aus Großbritannien, wo unter anderem das Office for National Statistics (ONS) prospektive Daten zu Symptomen erfasst, darunter auch Realtime-Daten. Demnach leiden dort mehr als 300.000 Menschen mehr als ein Jahr nach der Infektion noch an Symptomen wie Fatigue, Kurzatmigkeit, Muskelschmerzen, Kopf- oder Brustschmerzen, verminderte Konzentrationsfähigkeit. Besonders gefährdet sind laut ONS Frauen mittleren Alters (35 bis 69 Jahre) mit sozialer Deprivation, einer chronischen Erkrankung oder Behinderung. Auch die Arbeit im Gesundheits- oder Sozialwesen gilt als Risikofaktor.

Die Pathogenese der Erkrankungen sei noch unklar. Eine Hypothese besagt, dass das Virus ein Reservoir in bestimmten Organen bildet und dort Veränderungen, z.B. Entzündungen, auslöst oder sich dort evtl. auch repliziert. Noch lange nach der Infektion seien bei manchen Patient*innen Viruspartikel in der Nase gefunden worden. Eine zweite Theorie geht von einer überschießenden Immunantwort aus, die zu den zwei Hauptclustern Fatigue und respiratorische Probleme führen könnte.

Bei der Behandlung dieser Symptome sei eine individuelle Therapie wichtig, genauso wie die interdisziplinäre Zusammenarbeit sowie die Schaffung objektiver Scores zur Evaluation, sagte Khatamzas. Medikamentös könne beispielsweise antiobstruktiv und antiinflammatorisch mit Steroiden behandelt werden. Bedeutend seien auch supportive Therapien, eine frühzeitige stationäre und ambulante Reha, Physiotherapie, Atemtherapie, Yoga, psychologische Betreuung, Selbsthilfegruppen, Riechtraining sowie teilweise auch eine Ernährungsumstellung.

Insgesamt machte Khatamzas den Betroffenen und ihren Behandelnden Hoffnung: Häufig besserten sich die Symptome nach ein paar Wochen bzw. Monaten. Dies beschreibt z.B. der betroffene Infektiologe Paul Garner von der Liverpool School of Medicine in seinem Blog auf der Website des British Medical Journal. Es gebe auch Hinweise, dass eine Impfung nach Infektion die Symptome lindern könne.

Eine psychiatrische Perspektive bot PD Dr. Kristina Adorjan, stellvertretende Leiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am LMU Klinikum. Anhand einer Befragung von 38 psychiatrischen Kliniken bundesweit zeigte sie, dass die Behandlungskapazitäten bundesweit in der ersten Welle um etwa 40 Prozent reduziert waren. Besonders in Tageskliniken und bei ambulanten Behandlungen habe es massive Versorgungslücken gegeben. Die Psychiatrie habe dennoch auch an Covid-erkrankte Patient*innen in Spezialbereichen und zu Hause versorgt, z.B. über telemedizinische Angebote, Mitarbeiter- und Patientenhotlines, durch psychosoziale Unterstützung, auch von Angehörigen, und eine Anpassung der Therapieinhalte.

Insgesamt sei es bei einigen psychisch Erkrankten etwa mit Schizophrenie zu einer Verschlechterung der psychiatrischen Symptomatik, verstärkt durch Isolation und Kontaktbeschränkungen, Vereinsamung und Einkommensverluste gekommen. Bestimmte antipsychotische Medikamente hätten außerdem unerwünschte Nebenwirkungen, z.B. im Hinblick auf ein metabolisches Syndrom. Bei einer Covid-19-Infektion brächten sie ein erhöhtes Risiko mit sich. Als besonders gefährdet nannte Adorjan auch Patient*innen mit Demenz, die rund ein Sechstel aller Covid-19-assoziierten Todesfälle ausgemacht hätten, bei denen aber auch durch die Isolation häufig eine Verschlechterung des Allgemeinzustands und ein hypoaktives Delir aufgetreten sei. Bei Patient*innen mit Suchterkrankungen sei es zu einer moderaten Zunahme des Konsums gekommen, auch riskante Konsumformen wie das Nutzen von Fentanyl-Pflastern seien verstärkt aufgetreten, weil andere, illegale Drogen weniger verfügbar waren.

Bei den Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen zeichnete die Referentin insgesamt ein eher positives Bild: Rund 84 Prozent aller Menschen könnten laut der Resilienz-Studie LORA mit Stressituationen umgehen, weitere ca. 8 Prozent sich nach einer gewissen Zeit adaptieren. Etwa acht Prozent aber seien dadurch sehr stark belastet und bräuchten Hilfe. Eine Studie der LMU fand rund sechs Prozent durch die Pandemie stark belastete Mitarbeiter*innen. Für sie gebe es Angebote etwa für eine präventive ambulante Psychotherapie, Achtsamkeitsübungen per Smartphone und telefonische Sprechstunden.

Als mögliche Ursachen für psychiatrische Post-/ Long-Covid-Folgen nannte Adorjan das neuroinvasive und neuroinflammatorische Potential von Coronaviren sowie die zusätzliche psychosoziale Belastung. Dies könne unter anderem zu Angst, Depressionen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Fatigue, neurokognitiven Defiziten, Palpitationen und in manchen Fällen sogar Suizidalität führen. Die Ausprägung der Symptome sei offenbar mit der Erkrankungsschwere assoziiert.

Zusammenfassend forderte die Referentin, neuropsychiatrische Erkrankungen nicht zu vernachlässigen. Langfristig müsse man die Versorgungsstrukturen an Long-Covid anpassen, vulnerable Gruppen besonders beobachten, Prädiktionsmodelle entwickeln und mehr wissenschaftliche Studien durchführen.

Long-Covid bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen war das Thema des Referats von Prof. Dr. Uta Behrends, Leiterin des MRI Chronische Fatigue Centrums für junge Menschen (MCFC) der TU München und der Kinderklinik Schwabing in Kooperation mit dem Helmholtz Zentrum. Habe man anfangs das Problem eher unterschätzt, weil Kinder sehr selten schwer erkrankten, so hätten die Anfragen an das Institut seit Januar 2021 stark zugenommen. „Das Problem kommt zunehmend auf uns zu“, sagte Behrends.

Nicht jedes Kind oder jede/r Jugendliche könne mit Post-Covid diagnostiziert werden. Bei Kindern fielen Seropositive aber seltener auf. Da durch die Pandemie auch vermehrt psychische Störungen bei Kindern aufträten, sei die Differentialdiagnose schwierig und häufig viel anamnestische Recherche nötig. In Großbritannien seien laut einer Studie etwa zehn Prozent der jungen Patient*innen noch nach fünf Wochen symptomatisch. Sie persönlich rechne jedoch mit etwa fünf Prozent von Post-/ Long-Covid-Betroffenen im Kindes- und Jugendalter.

Das Problem chronische Fatigue bzw. ME/CFS sei bisher zu oft ignoriert und zu wenig erforscht worden. Beim Leitsymptom chronische Fatigue falle insbesondere die Belastungsintoleranz (post-exertionelle Malaise / PEM) auf. Die betroffenen Personen könne man in Diagnostik und Therapie nicht einfach „durchschleusen“, da sie häufig am Tag nach einer erzwungenen starken Belastung in ein noch stärkeres Leistungsloch fielen. Als weitere Symptome nannte Behrends Reizüberempfindlichkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Hitze- und Kälteintoleranz, Kreislauf- und Darmprobleme, Grippe- und Krankheitsgefühl, Schlafstörungen sowie Kopf-, Muskel- und Halsschmerzen.

Aus der Forschung zum Epstein-Barr-Virus sei chronische Fatigue bereits bekannt. Daraus könne man für Long Covid lernen. Verantwortlich für den Ausbruch der Erkrankung sei offenbar eine Kombination aus Infektion, genetischen Faktoren und Stress. Die Erkrankung sei in etwa so häufig die Multiple Sklerose (MS), jedoch in der Bevölkerung viel weniger bekannt. Um eine Stigmatisierung der Betroffenen, darunter vor allem junge Frauen, zu verhindern, sei es wichtig, darüber zu sprechen.

Bei Kindern und Jugendlichen gelte die chronische Fatigue als der häufigste Grund für lange Schulfehlzeiten ohne Diagnose. Die Betroffenen bewerteten ihre Lebensqualität als schlechter als etwa Patient*innen mit Multiple Sklerose (MS) oder Mukoviszidose. „Wer nicht versorgt wird, ist suizidgefährdet“, warnte Behrends. Trotzdem machte sie auch Hoffnung: Die Prognose sei mit etwa fünf bis zehn Jahren Krankheitsdauer im Vergleich zu MS und Mukosviszidose gut. Es sei aber wichtig, die weitere Ausbildung und soziale Integration der Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit zu garantieren. Gleichzeitig gelte es, eine achtsame Behandlung durchzuführen: Man dürfe die Patient*innen nicht „scheuchen“, sondern müsse über ein „Pacing“ mit den Betroffenen Schritt halten. Das Erlernen von Coping-Strategien über psychologische Unterstützung sei ebenso wichtig wie praktische Hilfen, etwa Rollstühle zur Energieeinsparung oder ein Schulroboter, der in der Schule auf den Platz des Kindes gestellt wird und damit die Kommunikation nach Hause ermöglicht. „Viele Kinder profitieren von der digitalen Schule“, sagte Behrends.

In einem letzten Kurz-Referat berichtete die Delegierte Dr. Petra Sobanski, Leitende Oberärztin an der Schwabinger Kinderklinik, von ihren Erfahrungen. Sie warnte vor immensen Veränderungen bei der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch die Pandemie. Eine höhere Zahl von Depression und Suizidalität, Angst-Sucht- und Essstörungen sowie Medienabhängigkeit sei sichtbar. Dabei gebe es zu wenige Behandlungsplätze. Sobanski warnte Kolleg*innen vor dem Ausstellen zu lang andauernder Atteste nach einer Erkrankung. Ein verpasster Schulbesuch von drei Monaten führe im Erwachsenenalter nachweislich zu einem Einkommensverlust. Es gelte, die Kinder und Jugendlichen wieder zurück in die Schulen und sozialen Gruppen zu holen und aus dem digitalen Denken rauszukommen.

Mehrere ÄKBV- Delegierte forderten anschließend, erneute Schulschließungen im Herbst unbedingt zu vermeiden. Ein Kinderarzt sagte, die befürchtete Triage habe am Ende nicht auf den Intensivstationen, sondern in der Kinder- und Jugendpsychiatrie stattgefunden.

 

Stephanie Hügler

MÄA Nr. 15 vom 16.07.2021