128. Deutscher Ärztetag in Mainz, Zwischen Pluralismus und Einigkeit
Foto: Stephanie Hügler
Vor dem Hintergrund lauter, feindseliger rechter Kräfte und von Angriffen auf Politiker*innen setzten die Delegierten mit der Resolution „Nie wieder ist jetzt!“ ein gemeinsames Zeichen gegen Hass, Hetze und Gewalt. Und auch die Botschaft der viertägigen Plenumssitzung war: Gewaltfreier Meinungsaustausch und Toleranz gegenüber anderen Meinungen gehören in einer demokratischen Versammlung der bundesdeutschen Ärzteschaft
dazu. Bereits bei der Eröffnung fehlte der im letzten Jahr teilweise heftige Schlagabtausch zwischen dem Präsidenten der Bundesärztekammer (BÄK). Dr. Klaus Reinhardt und Bundesgesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach. „Wir können es uns nicht leisten, nicht miteinander zu reden", sagte Lauterbach stattdessen.
Auch Reinhardt gab sich dieses Mal überwiegend versöhnlich und lobte den guten Umgang miteinander in der Kommunikation. Mit Verweis auf das Genfer Gelöbnis stellte er klar: Die Ärzteschaft sieht sich deren ethischen Prinzipien verpflichtet, alle Patient*innen unabhängig von "Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer
Stellung oder jeglicher anderer Faktoren“ zu behandeln.
Mit Blick auf die „doppelte demographische Herausforderung“ von immer älter werdenden Patient*innen einerseits und immer mehr Ärzt*innen an der Schwelle zum Ruhestand andererseits forderte Reinhardt aber dennoch vehement einen die Ressorts übergreifenden Ansatz, einen stetigen Dialog mit der Regierung und einen Gesundheitsgipfel im Kanzleramt. Es sei nicht einzusehen, warum es Autogipfel und Chemiegipfel gebe,
aber keinen Gesundheitsgipfel. „Schon heute ist fast jeder vierte berufstätige Arzt 60 Jahre oder älter",
warnte er. Gleichzeitig habe die Zahl der ambulant ärztlichen Bahandlungsfälle mit 729 Millionen im Jahr
2022 ein neues Allzeithoch erreicht.
Um den demographischen Herausforderungen dennoch gerecht zu werden, passen die BÄK und die Landesärztekammern die Weiterbildungsordnungen ständig an, sagte der BÄK-Präsident. Eine Quotierung der Weiterbildungsplätze, wie sie zuletzt der neue Sachverständigenrat Gesundheit gefordert hatte, brauche es daher nicht. Der Vorschlag des Sachverständigenrats sei „indiskutabel, weil er dem Gedanken der ärztlichen Weiterbildung in einem freien Beruf eklatant widerspricht, weil er auf eine Lenkung der Weiterbildung durch Staat und unter Umständen am Ende sogar der Kostenträger hinauslaufen würde“, sagte Reinhardt. Statt „sozialistisches Verteilungsdenken“ einzuführen gelte es, aktuell weniger attraktive Versorgungsbereiche attraktiver zu machen.
Mit Blick auf den anwesenden Gesundheitsminister, der mit 16 neuen Gesetzesinitiativen in seiner Amtszeit prahlte, betonte der BÄK-Präsident: „Binden Sie bitte schon bei der Konzeption Ihrer Reformen frühzeitig diejenigen ein, die den Sachverstand aus der täglichen Arbeit in der Patientenversorgung mitbringen".
Im Hinblick auf die noch immer nicht neu verabschiedete Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) warf er nicht nur der Ampelregierung „Staatsversagen“ vor. „Seien Sie der Minister, der liegengebliebene Reformen anpackt – auch diese. Dann sind wir an Ihrer Seite!“, lautete das klare Angebot an Lauterbach.
Man erkenne an, dass der Minister vor Kurzem nach Vorschlägen für bürokratieentlastende Maßnahmen gefragt habe, habe schnell reagiert und ihm eine 30-seitige Liste mit 150 Einzelmaßnahmen zugeschickt.
„Schaffen Sie mehr Raum für ärztliche Arbeit, Herr Kollege Lauterbach!“, rief Reinhardt dem Minister zu, und: „Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten an der Leistungsgrenze." Es brauche endlich mehr „Zeit für Zuwendung statt Medizin im Minutentakt“. Und es brauche mehr Wertschätzung gegenüber
Ärztinnen und Ärzten. Bei den Patient*innen müsse Gesundheitskompetenz und mehr Wissen über die Strukturen des Gesundheitswesens gefördert werden. „Und zwar so früh wie möglich, denn Prävention fängt im Kindesalter
an." Dazu müssten sich die Gesundheits- und Kultusminister*innen der Länder an einen Tisch setzen.
Zur Sicherung der Fachkräfte im Gesundheitswesen brauche es neben guten Rahmenbedingungen auch eine aktive Nachwuchsförderung. Beides bedinge einander: Es gelte, endlich die „dringend benötigte Reform des Medizinstudiums“ umsetzen und gleichzeitig dem „Brain Drain“ der Babyboomer-Generation etwas entgegenzusetzen: durch attraktive Arbeitsbedingungen und steuerliche Anreize für diejenigen, die auch nach
Rentenbeginn noch in Teilzeit weiterarbeiten möchten.
Zum geplanten, aber zum Zeitpunkt des Ärztetags noch nicht beschlossenen, Krankenhausverbesserungsgesetz
äußerte sich Reinhardt kritisch: Er glaube kaum, dass dies zu Verbesserungen bei Personalausstattung,
Arbeitsbedingungen oder Nachwuchsgewinnung führen werde. Fragen der Personalausstattung und der ärztlichen Weiterbildung würden trotz guter Ansätze noch immer zu wenig berücksichtigt. Die Weiterbildung müsse endlich sektorenverbindend gestärkt und angemessen refinanziert werden – über ein verbindliches Personalbemessungssystem, etwas das ärztliche Personalbemessungssystem der (ÄPS-BÄK).
Für im Krankenhaus Tätige und Nieder- gelassene brauche es faire Rahmenbedingungen.
Die im Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz vorgesehene Entbudgetierung hausärztlicher Leistungen begrüßte Reinhardt ausdrücklich und forderte dies auch für die Fachärzt*innen. Gleichzeitig bemängelte er, dass investorengetragene Medizinische Versorgungszentren noch immer nicht reguliert würden: „Wenn Profitgier vor dem Patientenwohl steht, untergräbt dies das Vertrauen der Menschen in unser Gesundheitswesen". Wir haben die Arbeit für Die bereits erledigt, Herr Minister!", rief Reinhardt Lauterbach zu - auch beim Thema der längst überfälligen neuen GOÄ.
ImPlenum befasste sich der Deutsche Ärztetag ebenfalls stark mit dem Thema Fachkräftesicherung und Überlastung der Ärzteschaft. Andere gesundheitspolitische Themen wie eine Änderung oder Abschaffung des Paragraphen 218 wurden auf das Ende des Ärztetags am Freitag vertagt und fielen schließlich der allgemeinen Aufbruchstimmung zum Opfer. Das Thema soll nun im nächsten Jahr einen eigenen Tagesordnungspunkt
erhalten.
Einen launigen Vortrag zum ernsten Thema steigende Gesundheitsausgaben bei wachsendem Versorgungsbedarf und Fachkräftemangel hielt der unparteiische Vorsitzende des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), Prof. Josef Hecken. Um die aktuellen Probleme zu lösen, müsse man die Patient*innen beeser steuern.
Nur so könne man einen unstrukturierten Zugang und eine unkoordinierte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen etwa in Praxen und Notaufnahmen der Krankenhäuser verhindern. Für seine Worte erhielt Hecken stehende Ovationen von den Delegierten. Im Nachgang, als Hecken bereits abgereist war, fielen allerdings auch einige kritische Worte über den G-BA und seinen Vorsitzenden.
Dennoch schloss sich das Plenum seinen Forderungen an, Ressourcen so einzusetzen, dass sie „dem tat- sächlichen Behandlungsbedarf gerecht“ werden. Zu viele Patient*innen suchten derzeit mehrere Hausarztpraxen auf. Künftig sollten sie eine Arztpraxis verbindlich wählen, die ihre weitere Versorgung koordiniere. Bei chronischen Krankheiten könne dies auch eine geeignete Facharztpraxis übernehmen.
Lediglich der unmittelbare Zugang zur gynäkologischen und augenärztlichen Versorgung müsse erhalten bleiben. Der Zugang zur Notfallversorgung müsse ebenfalls besser gesteuert werden, etwa durch eine gemeinsame Leitstelle aus ärztlichem Bereitschaftsdienst (116117) und Rettungsdienst (112).
Haus- und Facharztpraxen müssen sich je nach regionalen Erfordernissen flexibel mit Krankenhäusern, Pflegediensten und Sozialdiensten vernetzen können, beschlossen die Delegierten. Digitale Lösungen
könnten dabei helfen, die Übergänge zwischen den Sektoren effektiv und bürokratiearm zu regeln,
etwa beim Einweisungs- und Entlassmanagement. Bei komplexem Versorgungsbedarf oder anderen Schwierigkeiten könnten auch speziell fortgebildete Medizinische Fachangestellte oder Pflegefachkräfte
eine Rolle als Begleiter*innen durch das Gesundheitssystem übernehmen. Keinesfalls aber dürften künftige „Level li-Kliniken“ ohne Arzt oder Ärztin nur unter pflegerischer Leitung als Krankenhäuser geführt werden,
denn Pflegekräfte könnten dieser Rolle nicht gerecht werden.
Das leistungsfähige System von Facharztpraxen in Deutschland sei „Ausweis und Garant einer qualitativ hochwertigen, bedarfsgerechten und patientenorientierten Gesundheitsversorgung“ und keineswegs eine Doppelstruktur, stellten die Delegierten klar. Facharztpraxen abzuschaffen und gleichzeitig Krankenhäuser mit einer ambulanten Versorgung zu beauftragen, wie von der Regierungskommission gefordert, sei keine Alternative, sondern verunsichere eher junge niederlassungswillige Ärztinnen und Ärzte.
Im haus- und fachärztlichen Bereich brauche es bei der zum 15. Januar 2025 geplanten „ePA für alle“ Nachbesserungen: Noch gebe es dort keine Volltextsuche und keinen Virenscanner. Es fehle außerdem die Möglichkeit, kritische Befunde erst nach einem Gespräch mit den Patient*innen einzupflegen oder zu prüfen, welche Inhalte sie für ihre Ärzt*innen gesperrt hätten. Erneut forderte der Ärztetag, die Telematikinfastruktur (TI) nur nach einem Test unter realen Bedingungen ein- zuführen, damit diese auch zu Stoßzeiten effizient, sicher und stabil funktioniere und es keinen Konnektorenaustausch brauche. Schließlich müsse die TI dann auch zügig im Öffentlichen Gesundheitsdienst und in den Kliniken Einzug halten.
Einen wichtigen Schwerpunkt legte der Deutsche Ärztetag beim Thema Klimaschutz: Die Delegierten forderten eine Reduzierung des eigenen CO2-Fußabdrucks in allen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens. Dazu müsse der Klimaschutz in die Unternehmensziele und -kultur Eingang finden. Bund und Länder müssten die erforderlichen Finanzen bereitstellen, etwa über einen Sonderfonds zum klimafreundlichen Umbau der Krankenhäuser, damit diese ein Umweltzertifikat erwerben könnten. Den bundesweit hohen Zahlen von Tausenden Hitzetoten müssten die Länder mit Hitzeaktionsplänen und das Bundesarbeitsministerium mit mehr Hitze- und UV-Schutz bei Arbeit im Freien entgegenwirken.
Angesichts der vielen Kriege riefen die Delegierten die Bundesregierung dazu auf, den Sanitätsdienst der Bundeswehr zu stärken und weiterzuentwickeln statt ihn in einem neuen Unterstützungsbereich aufgehen zu lassen. Außerdem forderte das Plenum vor dem Hintergrund einer in 2022 gegenüber dem Vorjahr um fast zehn
Prozent gestiegen Suizidrate von mittlerweile 12,1 je 100.000 Einwohner*innen ein Bundesgesetz zur Suizidprävention.
Weitere Forderungen des Ärztetags galten unter anderem der Verankerung der multimodalen Schmerzmedizin in der
Klinikreform, einer Regulierung investorenbetriebener MVZ, einem Werbeverbot für Suchtmittel sowie berufsbegleitenden Sprachkursen für neuapprobierte Ärztinnen und Ärzte. Die Delegierten wünschten sich
vom Staat kostenfreie Verhütungsmittel zur Verhinderung von Abtreibungen und eine Abgabe von Hormontherapien an Minderjährige mit Geschlechtsdysphorie ausschließlich im Rahmen von wissenschaftlichen Untersuchungen.
Die Homöopathie dürfe künftig nicht mehr als Kassenleistung abgerechnet werden, Qualitätssicherung müsse bürokratiearm umgestaltet werden und ausschließlich evidenz- basiert und nutzenorientiert erfolgen. Die mobile Rehabilitation schließlich müsse so weiter entwickelt werden, dass sie indikations-*übergreifend auch bei nicht geriatrischen Patient*innen möglich sei. Durch eine Vermeidung von Pflegebedürftigkeit
und das weitere Wohnen zu Hause ließen sich nicht nur Kosten sparen, sondern auch mehr Teilhabe garantieren. Frührehabilitation müsse in allen Krankenhäusern bei komplexen Fällen möglich sein.
Stephanie Hügler
MÄA 12/2024 vom 01.06.2024