127. Deutscher Ärztetag in Essen, Auf Augenhöhe mit der Politik
Foto: Stephanie Hügler
In der Pandemie war die Ärzteschaft eine gefragte Partnerin der Politik. Doch ist sie das heute auch noch? Bereits in seiner Eröffnungsrede zum Deutschen Ärztetag zweifelte Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt daran. Statt auf Augenhöhe mit der ärztlichen Selbstverwaltung zusammen zu arbeiten werde von der Politik noch immer zu oft ohne ärztlichen Sachverstand entschieden. Angesichts der vielen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Krisen forderte der BÄK-Präsident daher mehr Strategien und gemeinsame politische Konzepte. Gesundheit müsse entsprechend der Maxime „Health in all Policies“ in allen Politikbereichen im Mittelpunkt stehen.
„Man kommt schneller zu gemeinsamen Lösungen, wenn man versucht, mit den Augen des anderen zu sehen, mit den Ohren des anderen zu hören und auch mal mit dem Kopf des anderen zu denken!“ Dieses Zitat des österreichischen Psychotherapeuten Alfred Adler nutzte Reinhardt auch als Botschaft an den anwesenden Bundesgesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach: Mehr Partnerschaftlichkeit im Umgang mit der Ärzteschaft sei dringend nötig.
„Wir haben uns pragmatisch eingebracht, täglich, verlässlich, ohne Alarmismus und ohne Panikmache“, sagte Reinhardt im Rückblick auf die Pandemie. Von Anfang an sei die Ärzteschaft in die Ad-hoc-Maßnahmen zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes eingebunden gewesen. Gesetzes- und Verordnungsentwürfe seien teilweise in Stundenfrist gegengelesen, ergänzt und korrigiert worden. Man habe Helfer*innen in den Testzentren angeworben, einen ärztlichen Pandemierat eingerichtet, gemeinsam am Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst gearbeitet und schwere ethische Entscheidungen getroffen. „Wir“..haben..“ bewiesen, dass es einen echten Mehrwert hat, wenn die Ärzteschaft eng in die wichtigen, die Gesundheit der Menschen betreffenden Entscheidungen einbezogen wird“, sagte Reinhardt. Auch im Ukraine-Krieg hätten Ärzt*innen mit angepackt, indem sie ehrenamtlich geholfen und medizinische Hilfe in Deutschland und in der Ukraine geleistet hätten.
Die Herausforderungen der vielen Krisen unserer Zeit seien „so komplex, dass wir nur im vernetzten Denken umfassend analysieren und darauf aufbauend tragfähige Konzepte entwickeln können“, sagte Reinhardt. Neben der älter werdenden Gesellschaft mit ihrem erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf nannte er auch die Erosion von Gemeinschaftsstrukturen wie Sportvereinen und der „gängigen Familienstrukturen“. Die Versorgung von immer mehr Geflüchteten, die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels und der extreme Fachkräftemangel im Gesundheitswesen könnten nur gemeinsam geschultert werden.
In einem politischen Rundumschlag befasste sich Reinhardt unter anderem mit den Themen Opt-out-Regelung bei der ePA, Krankenhausreform, iMVZ, Nachwuchsprobleme und GKV-Konsolidierung. In all diesen Bereichen forderte Reinhardt die Bundesregierung dazu auf, die Ärzteschaft in Gesprächen einzubeziehen statt sie, wie etwa bei der Gematik geplant, aus Gremien auszugrenzen. „Natürlich ist der Einbezug der Selbstverwaltung für die Politik manchmal unbequem. Aber er ist notwendig“, sagte er. Bei der geplanten Neuordnung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) forderte er die politischen Entscheidungsträger*innen dazu auf, endlich ihre Hausaufgaben zu nicht Wochen in Anspruch – nicht nur wenige Stunden. Eine „pro-forma-Beteiligung des Parlaments und der organisierten Zivilgesellschaft“ bezeichnete Reinhardt als „demokratiegefährdend“. Expertenanhörungen und Stellungnahmen zu Verordnungs- und Gesetzgebungsprozessen seien nicht ohne Grund gesetzlich vorgesehen. Ärztinnen und Ärzte als Lobbyorganisationen zu diskreditieren und daher an Reformvorhaben nicht zu beteiligen sei „billig, aber nicht Recht“.
Das Plenum am Nachmittag griff die Themen aus seiner Rede auf und fasste sie im Beschluss „Partizipation vor Planung – Praxischeck vor jeder Reform“ zusammen. „Deutschland braucht eine ganzheitliche und nachhaltig ausgerichtete Gesundheitspolitik, in deren konzeptionelle Ausgestaltung der medizinisch-fachliche Sachverstand und das Versorgungswissen der Ärzteschaft einbezogen werden müssen“, formulierte der Deutsche Ärztetag.
Die Abgeordneten stimmten für einen Deutschen Gesundheitsrat, die Umsetzung der Maxime „Health in all Policies“ und ein stimmiges Gesamtkonzept zur sektorenverbindenden Versorgung besonders im Akut-und Notfallbereich. „Statt einer ausschließlich auf den Krankenhausbereich fokussierten Reform brauchen wir eine umfassende Gesundheitsreform, die überfällige Neuregelungen auch in anderen Versorgungsbereichen beinhaltet und dem Prinzip ‚ambulant vor stationär’ folgt“, lautete das klare Statement der Delegierten.
Die ambulante Versorgung müsse gestärkt, der Einfluss von Fremdinvestoren in Medizinischen Versorgungszentren begrenzt werden. Für die Digitalisierung brauche es eine Umsetzungsstrategie durch eine gemeinsam entwickelte „Roadmap“ mit der Gematik. Die Zahl der Medizinstudienplätze müsse bundesweit um 6.000 erhöht werden. Gesundheitsschädliche Lebensstilmuster als Folge der Pandemie müssten durch langfristige Gesundheitsförderung und Prävention strategisch bekämpft werden.
Die fehlende Gesundheitskompetenz bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen war anschließend Thema mehrerer Reden und Vorträge: Reinhardt, die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Dorothee Feller und der Spezialist für Health Literacy, Prof. Dr. Orkan Okan von der TU München, machten deutlich: Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat in der Pandemie durch soziale und psychische Folgen von Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen stark gelitten. Bewegungsmangel, Drogenkonsum, Sucht, Adipositas und Essstörungen haben zugenommen.
Das Plenum forderte daher eine fächerübergreifend und bundesweit abgestimmte Strategie: Kitas und Schulen müssten den Heranwachsenden mehr Wissen über und Kompetenzen für eine gesunde Lebensführung vermitteln. Gesunde Ernährung solle fächerübergreifend überall auf dem Stundenplan stehen. Ihren im Koalitionsvertrag vereinbarten Präventionsplan müsse die Bundesregierung schnell und konkret umsetzen. Auch viele bayerische Delegierte setzten sich für mehr Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen sowie für die Prävention und Behandlung von schädlichem Mediennutzungsverhalten ein. Es gelte, die Medienkompetenz von Kindern, Jugendlichen, ihrer Eltern, Erzieher*innen und anderer Pädagog*innen zu steigern. Eltern und Pädagog*innen müssten für die Problematik sensibilisiert werden, um einen gesunden Umgang mit Medien zu begleiten, zu steuern und zu entwickeln.
In einem weiteren Vortrag referierte Peter Müller, Richter des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht, über Freiheit und Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten und die Notwendigkeit der ärztlichen Selbstverwaltung. „Rahmenbedingungen, die eine freie Berufsausübung sicherstellen“ zu schaffen forderten die Abgeordneten anschließend in der „Essener Resolution“. Den Patient*innen gegenüber übernehme die Ärzteschaft eine persönliche Verantwortung. Fehlende finanzielle und personelle Ressourcen, die Kommerzialisierung der Medizin, staatsdirigistische Eingriffe in die Selbstverwaltung und permanente Kontrollbürokratie führten jedoch immer wieder zu Arbeitsverdichtung und Überlastung der Gesundheitsberufe.
„Die individuelle Behandlung nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfordert Rahmenbedingungen, die eine freie Berufsausübung sicherstellen,“ stellte der Deutsche Ärztetag klar. „Freiheit und Verantwortung bilden eine Einheit". Zur Beratung und Unterstützung von Ärztinnen und Ärzten in abhängigen Arbeitsverhältnissen forderten mehrere Münchner Delegierte die Einrichtung einer Ombudsstelle zur Abwehr von nicht der Berufsordnung widersprechenden Einflussnahmen von Arbeitgebern auf medizinische Entscheidungen. Der Antrag wurde zur Entscheidung an den Vorstand überwiesen.
Angesichts immer häufiger fehlender Arzneimittel riefen die Delegierten die Bundesregierung dazu auf, die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Medikamenten und Impfstoffen sicherzustellen. Dazu brauche es eine nationale Arzneimittelreserve, Anreize für die Produktion in europäischen Ländern, eine Überprüfung und Diversifizierung der Lieferketten und EU-weite Lösungen. Pharmazeutische Unternehmen müssten unter Strafandrohung verpflichtet werden, drohende oder manifeste Lieferengpässe zu melden. Das Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln (ALBVVG) greife viel zu kurz. Regresse gegen Ärztinnen und Ärzte wegen ‚unwirtschaftlicher Verordnung‘ von Arzneimitteln müssten gesetzlich ausgeschlossen werden.
Als Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Klimawandel“ referierten der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. Gerald Quitterer, und der Präsident der Berliner Ärztekammer, PD Dr. Peter Bobbert, über erste Ergebnisse und Fortbildungsmöglichkeiten. Alle Entscheidungsträger*innen müssten das Erreichen der Klimaneutralität im Gesundheitswesen in Angriff nehmen, forderte anschließend das Plenum: „Unsere Verantwortung ist Verpflichtung zugleich - Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“. Ein wichtiger Baustein dafür ist laut einem Antrag mehrerer Delegierter aus Bayern eine pflanzenbasierte und fleischarme Ernährung für Patient*innen und und Mitarbeitende in Kliniken – unter Berücksichtigung regionaler und ökologisch arbeitender Anbieter sowie der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung.
Weitere Themen auf dem Ärztetag waren unter anderem die geplante Cannabis-Legalisierung, Digitalisierung und die ärztliche Weiterbildung. Bei der Wahl zum Präsidenten der Deutschen Ärztekammer wurde Dr. Klaus Reinhardt knapp in seinem Amt bestätigt – mit wenigen Stimmen Vorsprung vor der Gegenkandidatin Dr. Susanne Johna. Johna steht Reinhardt künftig als Vizepräsidentin gemeinsam mit Dr. Ellen Lundershausen zur Seite.
Stephanie Hügler
MÄA Nr. 13 vom 17.06.2023