Leitartikel

Multiple Sklerose bei Älteren, keine Pille zuviel

Durch den medizinischen Fortschritt kommen immer mehr Patient*innen mit fortschreitenden Erkrankungen in die Jahre. Doch nicht jede in jungen Jahren sinnvolle Therapie taugt auch im Alter. Die MÄA sprachen mit Dr. Mario Paulig über Polypharmazie und Absetzversuche bei älteren Menschen mit MS.
Multiple Sklerose bei Älteren, keine Pille zuviel
Multiple Sklerose bei Älteren, keine Pille zuviel

Foto: Shutterstock

Herr Doktor Paulig, wie viele Menschen in Deutschland sind an Multipler Sklerose (MS) erkrankt? Wer erkrankt am häufigsten?

Die MS ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen überhaupt. Schätzungen in Deutschland gehen von rund 200.000 Betroffenen und wahrscheinlich sogar mehr aus. Von 100.000 Einwohner*innen sind ungefähr dreihundert betroffen. Allerdings ist interessanterweise die Prävalenz in Skandinavien oder Kanada deutlich höher, und je näher man dem Äquator kommt, desto geringer wird sie. Es gibt schon lange die Theorie, dass dies mit der Sonnenexposition und dem Vitamin D zu tun haben könnte. Wahrscheinlich spielen aber auch genetische Faktoren bzw. Migrationswege eine Rolle. Frauen sind etwa zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Männer. Bei der MS, die sich erst im Alter manifestiert, oder auch bei chronischen MS-Verläufen ist diese Diskrepanz allerdings nicht mehr so ausgeprägt. Die Wirksamkeit von Hormonen hat vermutlich eher mit der entzündlichen Seite der MS zu tun, und nicht so sehr mit der chronischen.

Weiß man, wie es zur MS kommt?

Wahrscheinlich gibt es nicht eine einzige Ursache, sondern es spielen verschiedene genetische Faktoren und Umweltfaktoren zusammen. Bei den Umweltfaktoren wird derzeit die Wirkung des Epstein-Barr-Virus diskutiert. Vor wenigen Jahren gab es dazu eine große amerikanische Studie, die zeigte, dass vor dem Beginn einer MS immer auch eine Sero-Konversion des Epstein-Barr-Virus (EBV) stattfand: 100 Prozent der Menschen mit MS haben positive Titer für EBV. Doch das allein kann es nicht sein, weil etwa 90 Prozent aller Menschen einen positiven Titer haben. Vermutlich machen vor allem bestimmte Risikogene aus dem HLA- System, die für das Immunsystem verantwortlich sind, die Betroffenen zusätzlich für die Erkrankung anfällig. Laut paläogenetischen Untersuchungen kamen diese Genvarianten wahrscheinlich vor mehreren tau- send Jahren aus der kaukasischen Steppe und waren irgendwann von Vorteil. Neben diesen beiden Faktoren sind schon länger Lifestyle-Risiken bekannt.

Was kann man zur Prävention tun?

Man weiß, dass Rauchen ein Risikofaktor ist, genauso wie Übergewicht. Mit der Darmflora scheint es ebenfalls einen gewissen Zusammenhang zu geben. Mediterrane Kost, nicht rauchen und körperliche Aktivität tragen zur Prävention genauso bei wie eventuell Vitamin-D-Substitution. Es gibt allerdings keine Studien, die einen großen Effekt des Vitamin D zeigen. Für die Ernährung gilt das Gleiche. Trotzdem gibt es einzelne Betroffene, die auf eine bestimmte MS-Diät schwören und gut damit zurechtkommen.

In welchem Lebensalter tritt MS in der Regel auf?

Am häufigsten beginnt sie zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr – sehr selten auch bereits in der Kindheit. Wenn sie sich erstmals nach dem 50. Lebensjahr manifestiert, spricht man von einer Late-Onset-Multiple-Sclerosis. Schätzungen zufolge betrifft dies etwa 5 bis 10 Prozent der Patient*innen. Jüngere haben meistens einen schubförmig remittierenden Verlauf, der später häufig sekundär progredient wird. Bei den Late-Onset-Patient*innen überwiegen von Anfang an progrediente Verläufe.

Laut epidemiologischen Studien nimmt die Zahl der Menschen mit MS im höheren Lebensalter zu. Rund 30 Prozent der Betroffenen ist inzwischen älter als 50. Die Dekade zwischen dem 55. und 65. Lebensjahr ist amerikanischen Studien zufolge heute am meisten von MS betroffen. Das hat sicher mit der besseren Behandlung und demografischen Veränderungen zu tun.

Wie entsteht eine MS und was kann man dagegen tun?

In der Pathophysiologie gibt es einerseits die akute Entzündung, die vermutlich außerhalb des Gehirns beginnt – im Immunsystem, wo die Lymphozyten sozusagen „scharf gestellt“ werden und dann gegen eigenes Gewebe autoreaktiv werden. Im zweiten Schritt kommt es zu einer Störung der Blut-Hirn-Schranke und zu einem lokalen Entzündungsprozess im Gehirn oder Rückenmark. Dies korreliert mit Schüben und ihrer Rückbildung. Durch Remyelinisierung kann das Gehirn bei jüngeren Menschen potenziell wieder repariert werden. Es kann aber auch eine Narbe bleiben, die man dann in der Kernspintomographie sieht.

Progrediente Verläufe und die Akkumulation von Behinderung haben offenbar etwas mit einem zweiten Prozess, einer chronischen Entzündung und Neurodegeneration im zentralen Nervensystem zu tun. Die sogenannten „smoldering lesions“, langsam ablaufende „schwelende Läsionen“, gehen mit einer vermehrten und im Kernspintomogramm sichtbaren Eisenablagerung einher.

Was sollte man bei der Therapie beachten?

Alle derzeit zugelassenen Immunmodulatoren zur Beeinflussung des Krankheitsverlaufs wirken im Wesentlichen nur auf den akut entzündlichen Bereich im äußeren Kompartiment außerhalb des Gehirns.
Chronisch progrediente Verläufe werden wahrscheinlich nicht direkt von unseren gegenwärtigen Medikamenten beeinflusst. Die meisten Fachleute befürworten daher, früh und in der schubförmig remittieren- den, akuten Phase zu behandeln, um chronische Entzündungen auszubremsen. Wie effektiv das wirklich gelingt, bleibt noch ein wenig offen.

Und die Frage ist auch: Wie sehr gilt das im Alter? Laut den Behandlungs-Leitlinien ist Alter zwar kein Grund, Menschen mit MS eine Immuntherapie vorzuenthalten. Es gibt aber keine klaren Empfehlungen zur Auswahl bestimmter Immuntherapien. Bei älteren Menschen altert auch das Immunsystem – ein komplexer Vorgang, der als Immunoseneszenz bezeichnet wird. Überdies funktionieren Reparaturvorgänge nicht mehr so gut. Außerdem haben viele ältere Betroffene Komorbiditäten wie vaskuläre Hirnerkrankungen oder neurodegenerative Erkrankungen. Die Frage ist also: Soll ich im fortgeschrittenen Alter bei einer Neuerkrankung im Sinne einer Late-Onset-MS mit Immunmodulatoren behandeln? Wann kann ich bei stabilem Verlauf im Alter die Immunmodulatoren absetzen? Bei schubförmiger Late-Onset-MS sollte die Entscheidung für Immunmodulatoren mit kritischem Blick auf die Komorbiditäten und Nebenwirkungen des älteren Menschen erfolgen.

Was besagt die Studienlage?

Leider gibt es dazu noch zu wenig Daten, weil in Zulassungsstudien meistens nur Teilnehmer*innen bis zum 50 oder 55. Lebensjahr eingeschlossen wurden. Laut ein paar aktuellen Post-Hoc-Subgruppen-Analysen von über 50-Jährigen sind die Medikamente im Alter tatsächlich weniger wirksam und haben mehr Nebenwirkungen. Die vielfach zitierte DISCOMS-Studie im letzten Jahr untersuchte Betroffene über 55, die über fünf Jahre hinweg keine Schübe und über drei Jahre keine Veränderung im Kernspin zeigten. Bei einer Gruppe hat man die Immuntherapie abgesetzt, bei der anderen nicht. Nach zwei Jahren war in der „abgesetzten“ Gruppe tatsächlich im Kernspin etwas mehr Aktivität zu sehen – allerdings nicht unbedingt eine Progression von Behinderung. Fast kontraintuitiv waren unerwünschte Ereignisse wie Infektionen in der Absetzgruppe sogar etwas häufiger. Laut den Leitlinien ist nach fünf Jahren Stabilität das Absetzen nach Aufklärung der Betroffenen möglich. Es braucht aber regelmäßige Kernspintaufnahmen und klinische Kontrollen, ob sich nicht doch noch eine Aktivität einstellt. Im Einzelfall kann es auch bei längerem stabilem Verlauf im Alter nach Absetzen der Immuntherapie zu erneuter Krankheitsaktivität kommen.

Sind neue Medikamente oder Verfahren absehbar?

Beispielsweise die Bruton-Tyrosinkinase-Inhibitoren. Das Enzym Bruton- Tyrosinkinase ist besonders ausgeprägt in B-Lymphozyten und Gliazellen. Beim akuten entzündlichen Prozess spielen B-Lymphozyten eine große Rolle, bei den Smoldering Lesions die Gliazellen. Die Bruton- Tyrosinkinase-Inhibitoren können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und sind deshalb potenziell auch auf den chronischen Prozess immunmodulierend wirksam. Derzeit laufen mehrere Phase-3-Studien. Aber auch hier müssen wir abwarten, wie es mit dem Nebenwirkungsprofil aussieht.

Stichwort Polypharmazie: viele Ältere nehmen sowieso zu viele Medikamente.

Das ist ein Riesenthema. Trotz Immunmodulatoren sind viele Menschen mit MS mit alltagsrelevanten Symptomen und Behinderungen konfrontiert und nehmen zahlreiche symptomorientierte Medikamente ein. Bei Älteren kommen dann noch die Komorbiditäten hinzu. Interaktionen sind oft schwer durchschaubar – etwa bei Kombinationen von Antispastika, Schmerzmitteln, Cannabis, Antidepressiva, oder Stimulanzien bei der Fatigue-Symptomatik. Gerade Nebenwirkungen auf die Kognition sind im Alter besonders zu beachten. Man sollte sich immer überlegen: Gibt es eine plausible medizinische Indikation für dieses Medikament? Hat der Mensch einen anhaltenden Benefit? Hat das Medikament ein vertretbares Nebenwirkungsprofil und möglichst wenig Risiken? Bei „nein“ ist ein Reduktions- oder Auslassversuch gerechtfertigt.

Haben Sie Tipps für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte bei MS im Alter?

Bei denen, die MS schon länger haben, sollte man sich immer fragen, ob die Medikamente noch Sinn haben. Kann man etwas reduzieren oder absetzen? Das gilt im symptomorientierten Bereich und unter Zuhilfenahme von Kernspintomographie, zumal bei chronischen Verläufen, auch für die Immunmodulation. Eigenaktivität, unterstützt durch aktivierende Therapien, ist immer gut. Bei unklaren Verschlechterungen sollte man differenzialdiagnostisch
z.B. an vaskuläre oder neurodegenerative Komorbiditäten denken.

Was ist Ihre Hoffnung für die Zukunft?

Die Gegenwart ist schon gar nicht so schlecht. Bei der MS haben wir eine Vielzahl von Medikamenten, die den Krankheitsverlauf beeinflussen können. Vergleichsweise trifft dies für Parkinson gegenwärtig gar nicht und für Alzheimer nur beginnend zu. Künftig könnten gezielt Medikamente entwickelt werden, die in den pathophysiologischen Prozess der chronischen Progression eingreifen. Wir möchten noch spezifischer verstehen, wie die MS bezüglich Genetik und Umweltfaktoren zustande kommt. Dies könnte sogar primär präventive Maßnahmen ermöglichen.

Stephanie Hügler

MÄA 14/2024 vom 29.06.2024