Leitartikel

80. Bayerischer Ärztetag, Blick zurück und nach vorne

Während der Koalitionsverhandlungen im Bund fand der 80. Bayerische Ärztetag vom 15. bis 17. Oktober in Hof statt. Und so richtete sich der Blick der Delegierten nicht nur zurück auf das vergangene Jahr der Pandemie. Im Zentrum standen vor allem Herausforderungen für die Zukunft: Klimaschutz, Digitalisierung und Kommerzialisierung im Gesundheitswesen.
80. Bayerischer Ärztetag in Hof, Blick zurück und nach vorne
80. Bayerischer Ärztetag in Hof, Blick zurück und nach vorne

 

Hof war während der Coronakrise einer der Hotspots. Daran erinnerte Bürgermeisterin Eva Döhla bei der Eröffnungsveranstaltung. Dass nun gerade diese Stadt Schauplatz einer Präsenzveranstaltung mit mehreren hundert Ärztinnen und Ärzten sein konnte, sei den Anwesenden und den vielen anderen engagierten Ärzt*innen Bayerns zu verdanken, sagte Döhla.

Der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek lobte in seiner Rede die regelmäßige Zusammenarbeit mit der Ärzteschaft und warb für deren Fortsetzung. Er forderte aber auch den „Mut zur Veränderung“. „Wir brauchen eine Revolution in der Pflege“, sagte Holetschek. Pflegende dürften nicht ausbrennen.

Auch in der Digitalisierung sei Veränderung angesagt. Man komme nicht an ihr vorbei, müsse sie aber zu einem Mehrwert machen. In seiner Rede streifte er auch die Themen MVZ, Medizinstudium, Approbationsordnung und Landärzt*innen. DRGs müssten „weiterentwickelt“, wenn nicht in eine andere Richtung gedacht werden, die Themen Klimaschutz und Green Hospitals angegangen werden. „Wir können alle besser werden“, war sein Fazit. „Es gibt viel zu tun, bleiben wir in Kontakt“.

In das gleiche Horn stieß der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. Gerald Quitterer. Er warnte insbesondere vor einer Digitalisierung ohne Ärzt*innen. Natürlich sei die Digitalisierung sinnvoll – insbesondere da, wo es um eine digital unterstützte Bildübertragung und eine digitale Kommunikation gehe. Er warnte aber vor dem Zukunftsszenario einer digitalen Sprechstunde ohne Arzt oder Ärztin. Leistung müsse sich für die Beschäftigten im Gesundheitswesen weiterhin lohnen. Ärzt*innen hätten einen großen Anteil an unserem leistungsfähigen Gesundheitssystem. Sie dürften daher nicht zu einem Wertschöpfungssubjekt gemacht und durch Kapitalgesellschaften ausgenutzt werden. Vielmehr gehe es darum, Bewährtes zu erhalten und weniger Gutes zu verbessern. Von der künftigen Regierung forderte Quitterer unter anderem die Stärkung des ambulanten Bereichs, den Abbau des Investitionsstaus in den Krankenhäusern, eine Reformierung der DRGs, mehr Studienplätze in der Humanmedizin und eine Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdiensts. In Zeiten des Klimawandels brauche es mehr Gesundheitsschutz, die Prävention müsse grundsätzlich gestärkt werden. Im Hinblick auf künftige Herausforderungen gelte es, die Versorgung nach dem Motto „Choosing wisely“ anzupassen.

„Choosing wisely“ war auch das Thema des Mediziners und Theologen Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Eckhard Nagel vom Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth mit dem Titel „Priorisierung orientiert sich an Schutzbedürftigkeit“. Nagel warb dafür, die in der Pandemie oft als Horrorvorstellung an die Wand gemalte Priorisierung als ureigenste ärztliche Tätigkeit anzunehmen. Die Blaupause für ein solches Vorgehen liefere die Bibel mit ihrem Gleichnis vom barmherzigen Samariter, der sich um einen besonders Schutzbedürftigen gekümmert habe.

Als Gastprofessor habe er schon in Wuhan hautnah erlebt, wie überfallsartig sich die Erkrankung dort ausgebreitet habe. Natürlich mache die Vorstellung Angst, durch eine Priorisierung womöglich selbst nicht adäquat behandelt zu werden. Priorisierung gehöre aber schon seit langem zum ärztlichen Alltag, etwa in der Transplantationsmedizin. Überall dort, wo es im Gesundheitssystem knappe Güter gebe, etwa bei Organen, müsse priorisiert werden. „Die Diskussion um Priorisierung wird uns begleiten. Wir müssen sie gestalten, wenn nicht andere sie gestalten sollen“, rief Nagel die anwesenden Kolleg*innen auf. Wie in der Transplantationsmedizin gelte es, dafür vernünftige Kriterien zu definieren – darunter auch das der Schutzbedürftigkeit. Entscheidend seien dabei Transparenz und Rechtssicherheit. Dann könne Priorisierung auch zu einer moralischen Entlastung der Ärzteschaft führen, die Arzt-Patienten-Beziehung schützen und qualitätssteigernd wirken.

Die Covid-19-Pandemie kam auch im Plenum zur Sprache. Die Delegierten setzten sich unter anderem für eine Durchsetzung der 3-G-Regeln für Beschäftigte im Gesundheitswesen ein. Auch Erzieher*innen sollten diesen unterliegen, um Kinder unter zwölf Jahren besser zu schützen. Die Impfquoten in Bayern müssten insgesamt höher werden, Impfstoffe endlich auch in Einzel-Vials erhältlich sein, damit kein Impfstoff vergeudet werde. Die wichtige Rolle der Medizinischen Fachkräfte (MFA) in der Pandemiebewältigung betonten die Delegierten in einem anderen Antrag: Nachweislich seien 80 Prozent der Bürger*innen in den Arztpraxen behandelt worden. Dies müsse ideell und finanziell gewürdigt werden – durch einen unbürokratisch bewilligten Corona-Bonus. Die berechtigte Lohnerhöhung der MFA in Tarifverträgen müsse auch in EBM und GOÄ berücksichtigt werden.

Gleichzeitig riefen die Delegierten die Bayerische Staatsregierung dazu auf, mehr finanzielle Mittel für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen in den Kommunen bereitzustellen: Im Lockdown sei eine erhebliche Zunahme von Entwicklungsstörungen sowie die Verschlechterung von psychischen und körperlichen Erkrankungen zu verzeichnen gewesen. Damit diese nicht chronifizieren, brauche es während der nächsten zwei Jahre mehr Zuwendungen. Prävention forderten die Anwesenden auch beim kindlichen Übergewicht. Die Kennzeichnung von Lebensmitteln durch den „Nutri-Score“ dürfe nicht freiwillig bleiben.

Der Klimawandel und seine Folgen für die Gesundheit bildeten einen zweiten wichtigen Themenkomplex im Hinblick auf die Zukunft. Die Delegierten forderten, das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens unbedingt einzuhalten. In ihren Anträgen schlossen sie sich den zehn Empfehlungen der WHO im COP26 Special Report on Climate Chance an und forderten deren globale Umsetzung. Auch die neuen Luftqualitätsleitlinien der WHO müsse die Politik einhalten, etwa durch eine Tempobegrenzung auf Bundes-, Land- und Ortsstraßen. Zudem brauche es einen verbindlichen Hitzeaktionsplan der bayerischen Staatsregierung zur Prävention hitzebedingter Erkrankungen und Todesfälle sowie einen Sonderfonds zum klimafreundlichen Umbau bayerischer Krankenhäuser.

Selbstkritische Forderungen nach einer nachhaltigen Ressourcennutzung und klimaverträglichen Lebensweise richteten sich auch an die Ärzteschaft selbst – an Gesundheitseinrichtungen, ärztliche Körperschaften und an jede*n Einzelne*n. Träger von Gesundheitseinrichtungen müssten eigene Katastrophenschutzpläne im Hinblick auf Extremwetterereignisse überprüfen, Narkosegase, wo möglich, vermieden werden. Auch Maßnahmen zur Hygiene müssten im Hinblick auf Klimaschutz überprüft werden. Die Kliniken und Körperschaften rief das Plenum zu einem sparsamen und effizienten Umgang mit Energie in den Gebäuden und einer umweltschonenden Organisation auf. Alle Akteure müssten Möglichkeiten aufzeigen, wie Ärztinnen und Ärzte ihre Praxen umweltgerecht betreiben könnten. Die Bayerische Landesärztekammer solle daher regelmäßige Fortbildungen zum Thema „Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“ für alle anbieten.

Mit der Kommerzialisierung im Gesundheitswesen beschäftigte sich das Plenum ebenfalls. Angesichts einer immer stärkeren Übernahme von Medizinischen Versorgungszentren durch „Private Equity“- Gesellschaften warnten die Delegierten vor deren marktbeherrschender Stellung. Die ärztliche Freiberuflichkeit müsse unbedingt gestärkt werden. Um Besitzverhältnisse transparent zu machen, brauche es ein spezielles MVZ-Transparenzregister. Zulassungsausschüsse müssten prüfen, ob potentielle Inhaber überhaupt dazu geeignet seien. Die Träger müssten auf den Praxisschildern klar genannt werden, detaillierte Infos über die Webseite ersichtlich sein.

Digitalisierung darf laut Forderung des Bayerischen Ärztetags kein Selbstzweck sein. Zwar befürworteten die Anwesenden ihre Beschleunigung. Sie müsse sich aber immer an einem klaren Nutzen für die Patient*innen sowie Ärztinnen und Ärzte orientieren. Der Digitalisierungsprozess dürfe nicht „top down“ ablaufen, Überzeugung statt Zwang müsse das Motto sein. Um ständige Nachbesserungen zu verhindern brauche es verpflichtende Flächentests über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten. Die gesetzlichen Fristen für elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und vertragsärztliche Verordnungen müssten angepasst werden.

Längere Diskussionen gab es um die Frage, ob die Zusatzbezeichnung Homöopathie Bestandteil der ärztlichen Weiterbildungsordnung bleiben soll, oder nicht. Während Befürworter der Homöopathie ins Feld führten, man dürfe diese nicht Heilpraktiker*innen überlassen, argumentierten die Gegner damit, dass es keinen Nachweis eines Nutzens in Studien gebe, der über den reinen Placebo-Effekt hinausgehe. Dies wiederum bezweifelten die Befürworter, die auf neue Studien und den teilweise erfolgreichen Einsatz bei kleinen Kindern und Haustieren verwiesen. Schließlich wurde die neue Weiterbildungsverordnung ohne die Zusatzbezeichnung verabschiedet. Inhaber*innen dürfen diese weiterführen. Nach einer Übergangsfrist wird die BLÄK aber keine weiteren Zusatzbezeichnungen Homöopathie vergeben. Insgesamt war die Erleichterung der Ärzteschaft über die schließliche Verabschiedung der neuen Weiterbildungsordnung nach vielen Jahren Arbeit spürbar. Die WBO soll sich künftig eher an Kompetenzen als an Zahlen orientiert und mehr Planbarkeit sowie Transparenz ermöglichen. Angestrebt wird künftig eine neue Zusatz-Weiterbildung „Neuropsychologie“.

Weitere Themen waren unter anderem Studium und Approbationsordnung, die Versorgung von Flüchtlingen, Drogensubstitution und das Notarztwesen: Der Telenotarzt könne allenfalls eine Ergänzung in der Versorgung darstellen, es würden nach wie vor Notärzt*innen vor Ort benötigt. Der Psychiater Prof. Dr. Michael von Cranach erhielt bei der Eröffnungsfeier die Paracelsus-Medaille für die Erforschung der Geschichte der Psychiatrie in der Nazi-Diktatur.

Stephanie Hügler

MÄA Nr. 23 vom 05.11.2021