Psychiatrie in der Corona-Krise, Balanceakt Psyche
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Herr Prof. Brieger, wie ist die Lage derzeit bei Ihnen im Klinikum?
In den Pandemie-Monaten ist die psychische Grundbelastung in der Gesellschaft gestiegen – das spüren wir alle, besonders aber vulnerable Menschen. Dies birgt grundsätzlich eine höhere Gefahr psychiatrischer Krisen. Stationär haben wir über längere Zeit aber weniger Patient*innen als sonst behandeln können – zwangsläufig, weil wir die Stationen aufgrund der Hygienekonzepte nicht voll bzw. überbelegen dürfen und nach wie vor für Quarantäne und infektionsbedingte Isolationen teilweise Einzelzimmer brauchen.
Werden aktuell mehr oder andere Patient*innen mit Behandlungsbedarf in die Psychiatrie überwiesen?
Wie andere Kliniken auch beobachteten wir vor allem zu Beginn der Pandemie bei vielen Menschen eine größere Zurückhaltung, ins Krankenhaus zu gehen bzw. dort zu bleiben. Dafür haben wir die ambulante Versorgung ausgebaut. Videosprechstunden oder andere digitale Formate helfen uns dabei. Es ist in vielen Fällen auch klüger, die Menschen zu Hause zu behandeln, zum Beispiel über die stationsäquivalente Behandlung StäB (s. MÄA 08/2019), weil die Infektionsgefahr dort geringer ist. Allerdings haben wir dort natürlich nur begrenzte Kapazitäten, und schwer kranke Patient*innen müssen einfach in Kliniken versorgt werden. Die StäB ist nicht für alle Menschen eine Alternative. Auch in den Tageskliniken konnten wir wegen der strengen Abstandsregelungen lange Zeit nicht so viele Menschen behandeln wie zuvor.
Zum Glück sind die Infektionen nach der Impfung insbesondere bei den älteren Altersgruppen deutlich zurückgegangen, sodass zu hoffen ist, dass diese Patient*innen wieder eher zu uns kommen. Weil bei leichteren Erkrankungen die Schwelle höher geworden ist, ins Krankenhaus zu gehen, sehen wir auf unseren Stationen insgesamt eine Tendenz zu schwereren Erkrankungen. Bis jetzt sind aber z.B. die Zahlen von Suiziden oder schweren Suizidversuchen offenbar nicht gestiegen. Man kennt das aus früheren Krisenzeiten, etwa aus Kriegen, in denen die Menschen anfangs trotz gestiegener Belastungen auch eher „durchgehalten“ haben.
Mussten Sie in der Coronakrise mehr Menschen abweisen als sonst?
In der sogenannten „ersten Welle“ gab es vorübergehend die staatliche Vorgabe, alle elektiven Behandlungen zu unterlassen. Dies hatte zum Beispiel Auswirkungen auf psychosomatische Behandlungen, weil diese zum Teil unter diese Regelung fielen. Hinzu kamen die bereits erwähnte Schwelle bei den Patient*innen, ins Krankenhaus zu gehen sowie unsere Schwierigkeiten bei der Vernetzung mit der Gemeindepsychiatrie. Alle Mitarbeiter*innen dort machen einen wirklich extrem guten Job, aber fast alle sind auf einen Schichtbetrieb oder digitale Formate umgestiegen. Sich dort einfach mal persönlich vorzustellen oder ein Kooperationstreffen in der Klinik zu organisieren, ist sehr schwierig. Und viele für die Psychiatriekoordination zuständige Abteilungen im öffentlichen Gesundheitsdienst sind in der Corona-Kontaktnachverfolgung aufgegangen. Das macht sich nach über einem Jahr durchaus bemerkbar.
Wie wirkt sich Corona auf den Klinik-Alltag aus?
Durch die Infektionen und Schutzmaßnahmen davor hatten und haben wir einen erhöhten Hygiene-und Organisationsaufwand. Therapeutische Gruppenaktivitäten, Besuche und Belastungserprobungen sind erschwert. Hinzu kamen und kommen ständig neue Vorschriften, Allgemeinverordnungen vom Gesundheitsministerium, die gerne mal um 23 Uhr am Freitag mit Gültigkeit ab Samstag veröffentlicht werden. Im Großen und Ganzen macht die Politik schon alles gut, aber unser Aufwand ist enorm. Infektionen bei den Mitarbeiter*innen haben uns in den vergangenen Monaten mindestens so stark beschäftigt wie bei den Patient*innen. Wenn sich jemand zum Beispiel am Wochenende in der Familie infiziert hatte, zog dies oft Kreise bei den Mitarbeiter*innen, sodass wir immer wieder Stationen sperren mussten. Durch die Impfungen ist die Lage zum Glück besser geworden.
Wie hoch ist die Impfquote bei den Mitarbeiter*innen? Wie lassen sich Infektionen ansonsten verhindern?
Ähnlich wie in den anderen Kliniken im Münchner Umfeld sind inzwischen deutlich über 70 Prozent der Mitarbeiter*innen geimpft. Daher hat dieses Problem etwas nachgelassen. Ansonsten haben wir noch immer sehr strenge Besuchs- und Ausgangskonzepte für unsere Patient*innen, wie fast alle Münchner Kliniken. Wir versuchen nach wie vor, die Kontakte nach Außen zu reduzieren und keine Infektionen in die Häuser zu bringen. Die Patient*innen arrangieren sich damit überwiegend auch. Es ist dies allerdings eine weitere Belastung für alle Beteiligten, da unsere Aufgabe ja eigentlich darin besteht, die Menschen im Sinne einer gemeindenahen Psychiatrie wieder in ihr soziales Umfeld zu bringen, was zur Zeit erschwert ist.
Wie häufig sind bei Ihnen Fälle von Post-Covid-Erkrankungen? Und wie funktioniert die Behandlung bei an Covid-19 Erkrankten?
Mit Post-Covid-Erkrankungen haben wir bis jetzt noch wenig Erfahrung, aber wir haben viel Erfahrung mit der psychiatrischen Behandlung von akut Infizierten. Eine normale Therapie bei Infizierten durchzuführen ist nahezu unmöglich. Vieles, was wir sonst machen, ist in diesem Fall schwierig oder sehr aufwändig, zum Beispiel psychotherapeutische Behandlungen oder Ergotherapie, bei denen wir zwei FFP2-Masken, Schutzkleidung etc. tragen müssen. Viele unserer SARS-CoV-2-infizierten Patient*innen sind nicht schwer erkrankt. Wenn jemand beatmungspflichtig wurde, mussten wir ihn oder sie an ein anderes Krankenhaus überweisen, z.B. nach Neuperlach oder auf unsere eigene Intensivstation der Neurologie hier am Ort. Ansonsten entscheiden die Gesundheitsämter, ab wann Personen aus der Isolation entlassen werden.
Wie häufig sind mit SARS-CoV-2 Infizierte von psychischen Erkrankungen betroffen?
Eine Infektion erhöht den psychischen Stress und damit auch das Risiko für psychiatrische Krankheitsbilder: Menschen mit einer Coronainfektion haben ein höheres Risiko u.a. für Depressionen und Angst. Wenn ich keine Luft mehr kriege, löst das unter anderem Angst aus. Gleichzeitig wissen wir, dass Menschen mit einer psychiatrischen Erkrankung auch ein höheres Risiko haben, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren bzw. schwer zu erkranken. Dazu gibt es unter anderem eine gute englische Studie. Auch für andere Infektionen haben psychiatrische Patient*innen ein höheres Risiko. Das hängt zum einen manchmal mit einem schwächeren Sozialstatus der Betroffenen zusammen. Zum anderen führt etwa eine Depression aber auch immer zu einer chronischen Suppression der Kortisol-Achse, wodurch die allgemeine Infektionsanfälligkeit steigt. Chronischer Stress schwächt das Immunsystem und erleichtert es einem Virus, in den Körper einzudringen.
Gab es Patientengruppen, die durch den Verlust ihrer Sozialkontakte besonders anfällig für psychische Erkrankungen wurden, z.B. Singles oder jüngere Menschen?
Davon gehe ich aus. Es gibt natürlich Menschen, die von sich sagen, dass sie keine körperlichen Berührungen oder sozialen Kontakt brauchen. Aber das sind die Wenigsten. Den Meisten fehlen Berührungen und spontane Begegnungen genauso wie die verschiedenen Möglichkeiten der Lebensgestaltung, die derzeit noch reduziert sind. Wir wissen auch noch nicht, welche langfristigen Folgen das haben wird. Bei unseren jüngeren Patient*innen sehen wir ganz deutlich, dass diese noch stärker unter den Einschränkungen leiden als ältere, weil für sie der subjektive Verlust der aktiven Lebensgestaltung sehr viel größer ist. Auch objektiv haben sich die Vorgänge etwa beim Schulbesuch, bei der Praktikumsplatz-, Ausbildungs- oder Studienplatzsuche verändert. Die Generation der jungen Adoleszenten ist also besonders stark belastet.
Haben Sie im Hinblick auf die psychiatrische Versorgung einen Rat an die Politik?
Wir müssen zum Einen klarmachen, dass wir eine gute psychiatrische Versorgung von Menschen mit SARS Cov-2-Infektionen und von Verdachtsfällen brauchen. Dafür haben wir hier auch eine zentrale Struktur. Dabei dürfen wir die anderen Patient*innen aber nicht vergessen. In den letzten 15 Monaten haben wir ca. 1.000 psychisch erkrankte Menschen mit Covid oder Covid-Verdacht behandelt. Dem gegenüber standen ca. 15.000 Aufnahmen von Patient*innen, die kein Covid hatten. Die Versorgung der einen darf die Versorgung der anderen nicht komplett dominieren.
Was können zuweisende Kolleg*innen tun?
Eine gute Kommunikation ist das A und O. Es ist entscheidend, dass die niedergelassenen hausärztlichen Kolleg*innen mittlerweile impfen können. Ansonsten ist es wichtig, gemeinsam zu einem guten Behandlungsplan zu kommen. Die Schnittstelle zwischen Klinik, Vertragsärzt*innen, Ambulanzen und niedergelassenen Kolleg*innen muss gut funktionieren, und man sollte sich wechselseitig informieren. Was wünschen Sie sich von der Politik und den Gesundheitsämtern? Vor allem, dass weiterhin und zunehmend rasch und effektiv geimpft wird. Ich habe großen Respekt davor, was die Kolleg*innen im öffentlichen Gesundheitsdienst derzeit leisten – das ist fachlich und hinsichtlich ihres Engagements beeindruckend. Ich wünsche ihnen, dass sie durchhalten und die Belastung geringer wird. Gleichzeitig wünsche ich mir insgesamt in Gesellschaft und Politik mehr Kenntnis und Respekt vor den besonderen Belangen psychisch kranker Menschen, weil diese oft andere Bedürfnisse und Lebenslagen haben. Die Idee, man könnte psychiatrische Kliniken einfach zu „Ablegekrankenhäusern“ für die Somatik umfunktionieren, ist zum Beispiel völlig abwegig. Aber jetzt in dieser Zeit der abklingenden Pandemie bin ich persönlich in vielerlei Hinsicht verhalten optimistisch: Jetzt geht es wieder um Normalisierung und Öffnung bei Berücksichtigung der fortbestehenden Risiken.
Das Gespräch führte Stephanie Hügler
MÄA Nr. 12, Erscheinungsdatum 05.06.2021