Lebensbedrohliche Einsatzlagen, Warum ist das Thema so wichtig?
Foto: shutterstock
Stellen Sie sich vor, der eigene Sohn oder die eigene Tochter käme bei einer Terrorattacke ums Leben und im Nachhinein stellte sich heraus: Eine einfache Maßnahme hätte ihren Tod verhindert. Wie würden Sie sich fühlen, gerade als Arzt oder Ärztin? Und wie ginge es Ihnen, wenn Sie zufällig vor Ort waren, aber nicht adäquat reagieren konnten, obwohl Sie es eigentlich mal im Studium gelernt hatten?
Viele Ärzt*innen in Paris sind damals sozusagen in die Situation „reingerutscht“, zum Beispiel weil Passant*innen schwer Verletzte in umliegende Arztpraxen gebracht haben. Die dortigen Ärzt*innen und Helfer*innen waren damit überfordert. Dabei hätten nach einer Schulung und mit einem Blick für das Notwendige auch wenig spezialisierte Kolleg*innen und teilweise sogar Laien lebensrettende Maßnahmen ergreifen können. Das nötige Instrumentarium für Tourniquets bei starker Blutung oder eine Nadelpunktion bei einem Spannungspneumothorax kostet nur wenige Euro. Und schon mit einfachen, vor Ort vorhandenen Gegenständen hätte man einiges bewirken können.
Wenn wir ehrlich sind: Auch bei uns wäre es wahrscheinlich so gelaufen wie in Paris. Viele Ärzt*innen kennen sich als Ersthelfer*innen nicht besser aus als Laien, die einen Erste-Hilfe-Kurs besucht haben. Das möchten wir mit diesem Themenheft ändern. Darin geht es nicht nur um eine reine Wissensvermittlung. Wir wollen Ihnen vielmehr ein umfassendes Verständnis von lebensbedrohlichen Einsatzlagen ermöglichen:
Im medizinischen Teil erklären wir die notwendigen Grundlagen für Ihr ärztliches Handeln. Bei der prioritätenorientierten Versorgung von Schwerverletzten geht es zuallererst um Atmung und Blutungen (s. Beiträge von Mayr/ Tassani-Prell und Streckbein auf S. 8 und S. 11). Psychologische Aspekte nimmt Zehentner auf S. 16 unter die Lupe. Zudem schildern wir die Vorgehensweise bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) aus Sicht des Rettungsdiensts (Beitrag von Huppertz S. 18): Wie funktionieren Sichtung und Triage, wenn viele Verletzte, aber nur wenige Hilfskräfte zur Verfügung stehen? Wer ist mein Ansprechpartner vor Ort und wie sieht welcher Verantwortliche aus (gelbe oder weiße Weste?). In einem weiteren Teil erläutert die Polizei München, wie sie bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen vorgeht. Warum lässt sie Verletzte womöglich einfach liegen? Auch Aspekte aus der Klinik (Interview mit Prückner und Kohlmann S. 22) sowie rechtliche Aspekte (Beitrag von Staufer S. 25) kommen nicht zu kurz.
Gleichzeitig möchten wir Ihnen den ÄKBV-Kurs „lebensbedrohliche Einsatzlagen (LbEL)“ ans Herz legen, den ich seit drei Jahren mit Unterstützung durch den ÄKBV-Vorstand anbiete. Das Ziel: Von Profis lernen, worauf es ankommt und praktische Fertigkeiten erwerben, die nicht nur bei einer dramatischen Einsatzlage lebensrettend sind. Die Referenten, darunter Mitstreiter von Polizei und Berufsfeuerwehr, sind mit Leib und Seele dabei, und die Kurse finden große Zustimmung durch die Kolleg*innen. Mittlerweile haben wir Kontakt zu mehreren Gruppen, die sich mit demselben Thema beschäftigen, etwa in England und den USA – darunter zu „Citizen AID“ in England, die beispielsweise eine App-basierte Hilfestellung anbieten.
Viele Länder sind uns mit ihren Konzepten schon einige Jahre voraus. Auch die zuständigen Institutionen in Paris haben in kürzester Zeit aus den Unzulänglichkeiten der Einsätze im Zusammenhang mit den Terroranschlägen rund um Bataclan gelernt, innerhalb weniger Monate ein Schulungskonzept auf die Beine gestellt und damit Hunderte von „Helfer*innen“ geschult.
Bei uns allerdings ist noch einiges zu tun: Obwohl die zuständigen Institutionen momentan mit der Coronapandemie als außergewöhnlicher Schadenslage stark beschäftigt sind, finde ich: Wir müssen zügiger vorankommen. Zum Beispiel, indem wir Ressourcen finden und ausschöpfen. Diese können sich je nach Schadenslage stark unterscheiden, denn neben Terroranschlägen oder Amokläufen können auch Naturkatastrophen oder Unfälle zu lebensbedrohlichen Einsatzlagen werden. In vielen Fällen sind dabei Spezialist*innen genauso gefragt wie Notärzt*innen.
Denken Sie etwa an einen Unfall mit einem stark reizenden Gas. Dabei werden vor allem Augen- und Lungenfachärzt*innen benötigt, um Entscheidungen zur weiteren Therapie zu treffen. Eine Indikation lässt sich für nahezu jede Fachgruppe denken, z. B. für Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen, die helfen können, psychische Spätfolgen zu vermeiden
Mit Hilfe der App „Mobile Retter“ beim Projekt „München rettet Leben“ können sich schon heute verschiedenste Ärzt*innen mit ihrem speziellen Wissen registrieren. Aufgrund bürokratischer und politischer Hindernisse wird diese App allerdings derzeit nicht weiterverfolgt. Hier wünsche ich mir mehr Entschlossenheit und Mut.
Auch die materiellen Ressourcen müssen besser erfasst und ihr genauer Standort in einer Datenbank abgelegt werden. „Krankenhaus Pasing, Aufwachraum, Herrn XYZ anrufen“ – eine Datenbank mit solchen kurzen Angaben könnte weiterhelfen, wenn wie damals beim OEZ-Anschlag Betäubungsmittel für die Notärzt*innen oder Beatmungsmöglichkeiten in großer Zahl gebraucht werden – denkbar etwa bei einer Vergiftung mit Nowitschok in der U-Bahn. Niedergelassene Ärzt*innen müssen zudem unbedingt mit den erforderlichen Rettungsmitteln ausgestattet, öffentliche Defibrillator-Stationen mit Tourniquets und Druckverbänden nachgerüstet werden.
Derzeit entwickeln wir ein Trauma-Kit aus einem Tourniquet, einer einfachen Atemwegshilfe, einer Rettungsfolie, einer Israeli-Bandage und Handschuhen. Idealerweise sollten diese Sets vereinheitlicht und in jedem Rettungswagen, in jedem Polizei- und Rettungsdienst-Fahrzeug in ausreichender Zahl vorhanden sein.
Durch die Coronapandemie finden ein Umdenken und eine Weiterentwicklung bezüglich des Managements von Großschadenslagen in Deutschland statt. Von Ihnen, liebe Leser*innen, wünsche ich mir zu diesem Themenheft viel Input und eine rege Diskussion. Wir sind eine kleine Gruppe von Leuten mit einer großen Idee. Auch wenn es aufgrund des Ressourcenmangels sicher noch Verbesserungsbedarf gibt: Beteiligen Sie sich! Wir müssen unbedingt verhindern, dass uns die Bevölkerung nach einem Großschadensereignis fragt, wo wir gewesen sind und warum wir nicht vorbereitet waren. Schließlich ist es unsere ureigenste Aufgabe, Menschen in Not zu helfen – als Bürger*innen, Menschen und erst recht als Ärzt*innen.
Dr. Christoph Schmitt-Hausser, Chefarzt der Anästhesie an der iatros Klinik München
MÄA Nr. 11 vom 21.06.2021