Inzidenz in der Coronapandemie, Sind die Kinder an allem schuld?
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Herr Prof. Kauermann, seit wann beobachten Sie die Zahlen und Statistiken zur Coronapandemie?
Im März 2020 haben wir mit der Arbeit begonnen. Wir wussten von Anfang an: Dies ist eine Pandemie der Zahlen. Daher haben wir uns als Statistiker*innen quasi „dienstverpflichtet“ gefühlt, unser Expertenwissen zur Verfügung zu stellen. Seit Oktober 2020 geben wir alle zwei Wochen einen Bericht mit sehr fokussierten Analysen aktueller Daten heraus, etwa zum Einfluss von Kindern auf die Pandemie oder zur Übersterblichkeit. Viele Daten sind öffentlich über das RKI oder das DIVI-Intensivregister der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin verfügbar. Über eine Kooperation mit dem Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) erhalten wir weitere detaillierte, nicht öffentlich zugängliche Zahlen, etwa zu Infektionsclustern.
Prof. Antes hat bei einem Interview mit uns im Dezember (s. MÄA 01/2021) beklagt, dass es in dieser Pandemie zu wenige Daten gibt.
Die Datenlage ist dünn, da hat der Kollege Antes komplett recht. Durch die Daten des LGL aber können wir die Infektionsketten zumindest teilweise verfolgen. Wir sehen, wenn mindestens zwei Infektionen epidemiologisch als Ausbruch miteinander verknüpft sind und können dann auch klassifizieren, wo dieser Ausbruch stattgefunden hat – in der Familie, bei der Arbeit, in einer Bildungseinrichtung.
Sind Kinder aus Ihrer Sicht derzeit die Infektionstreiber?
Die Kinder sind natürlich am Infektionsgeschehen beteiligt. Wenn die Inzidenzen im Rest der Bevölkerung hoch sind, sind sie dies auch bei den Kindern. Wir haben in unseren Datenanalysen aber keinen Hinweis darauf gefunden, dass die Infektionen von ihnen ausgehen. Aus unserer Sicht beginnen die meisten Ausbrüche bei den 25- bis 65-Jährigen, also bei der arbeitenden Bevölkerung, die in Zeiten des Lockdowns ab dem 16. Dezember bis Weihnachten und in den Januarwochen die einzigen Infektionstreiber waren. Anhand der Infektionsketten des LGL sehen wir, dass die Ausbrüche auch heute oft an Arbeitsplätzen starten und in den Familien enden. Durch die Kontaktbeschränkungen können die Infektionen also im Haushalt gestoppt werden. Die Frage ist aber: Ist es die effizienteste Maßnahme, die Infektionsketten am Ende zu stoppen? Oder wäre es besser, ihren Anfang ganz zu vermeiden?
Das veränderte Infektionsschutzgesetz sieht eine Schließung der Schulen ab einer Inzidenz von 165 vor. Wie sehen Sie das?
Zwar gingen die Inzidenzen in den Landkreisen, wo die Kinder direkt nach den Osterferien noch zur Schule gegangen sind, stark nach oben – teilweise um das Zwei- bis Dreifache gegenüber den Landkreisen mit Distanzunterricht. Das lag aber nicht an den Ansteckungen in der Schule, denn die Inkubationszeit beträgt ja mehrere Tage. Stattdessen haben wir einfach mehr infizierte Kinder gefunden und konnten durch die verpflichtenden Testungen die Dunkelziffer reduzieren. Die dabei herausgefilterten positiv getesteten Kinder konnten keine anderen Kinder und/oder ihre Eltern mehr anstecken. Man könnte also sagen, dass die bayrischen Schulen als Testzentrum mit Volltestung aller Kinder zwischen 6 und 15 Jahren fungieren. Wenn wir Schulen schließen, so schließen wir damit diese Testzentren. Der Nutzen der Schule als Volltestzentrum überwiegt statistisch gesehen bei Weitem das Risiko, dass ein falsch negativ getestetes Kind unbemerkt andere Kinder an der Schule anstecken könnte. Das Gleiche gilt für Betriebe, in denen regelmäßig getestet wird. Aus meiner Sicht könnten wir mit einer flächendeckenden Testpflicht und mehr Hygiene in den Arbeitsstätten wesentlich mehr erreichen als mit privaten Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren in der Nacht und Schulschließungen ab Inzidenzwert 165.
Zurück zu den Zahlen an sich: Wie gut ist aus Ihrer Sicht die Inzidenz als Kennzahl geeignet, das derzeitige Infektionsgeschehen abzubilden?
Es ist immer schwierig, eine Pandemie auf eine einzige Kenngröße zu reduzieren und daraus einen politischen Maßnahmenkatalog abzuleiten. Das pandemische Geschehen ist multidimensional. Der sture Blick auf die Inzidenzen war aber schon im November falsch. Wir haben damals gezeigt, dass die Inzidenzen durch den „Lockdown light“ zwar aus dem exponentiellen Wachstum herausgekommen sind und sich auf einem relativ hohen Niveau eingependelt haben. Die Infektionen bei den Hochbetagten wuchsen aber weiter exponentiell. Jetzt haben wir ein anders gelagertes Problem: Die aktuell steigenden Inzidenzen sind zumindest zum Teil auf die höheren Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen zurückzuführen, was wiederum stark vom Testgeschehen beeinflusst ist. Unsere Analysen zeigen: Dies ist nicht nur ein Effekt der neuen Mutanten wie B.1.1.7.
Statt der Inzidenz schlagen Sie die Neuaufnahmen auf der Intensivstation als derzeit geeignetere Kennzahl vor.
Man sollte zumindest die altersspezifischen Inzidenzen besser in den Blick nehmen. In Bezug auf alternative Kennzahlen sollte man sich fragen: Was ist das aktuelle Ziel der Pandemiebekämpfung? Im Oktober, November und Dezember 2020 ging es darum, die Zahl der Todesfälle durch die Pandemie möglichst gering zu halten und die hochbetagte Bevölkerung zu schützen. Leider ist das nur eingeschränkt gelungen: Die meisten Toten waren in Alten- und Pflegeheimen zu beklagen. Aktuell haben wir in Deutschland eine Untersterblichkeit von 10 bis 15 Prozent. Auf Populationslevel sind die Todesfälle derzeit also kein Problem, obwohl natürlich jeder Todesfall ein Individualschicksal ist. Wir denken, es geht derzeit vor allem darum, den Druck auf die Intensivstationen unter Kontrolle zu halten. Dafür sind die Neuaufnahmen auf den Intensivstationen als zu beobachtende Kenngröße besser geeignet als die reinen Inzidenzen.
Man könnte einwenden: Wenn die Menschen erst einmal auf der Intensivstation sind, ist es zu spät...
Wie schnell sind wir bei steigenden Fallzahlen in der Lage zu reagieren? Aus statistischer Sicht sind wir auch bei stärkerer Berücksichtigung der Neueinweisungen schnell genug. Wir können die Dynamik der Neueinweisungen und Vorhersagemodelle zum Druck auf die Intensivstationen betrachten und Sicherheitsmargen wie einen Schwellenwert an Betten einbauen, damit die Intensivstationen nicht überfüllt werden. Die derzeitige „dritte Welle“ hat außerdem eine deutlich geringere Dynamik als die „zweite Welle“ rund um Weihnachten. Aktuell haben wir auf keinen Fall ein exponentielles Wachstum, sondern es sieht derzeit eher danach aus, als ob das Wachstum langsam nachlässt und die Zahlen sich auf einem, wenn auch hohen, Niveau stabilisieren.
Haben wir grundsätzlich die richtigen Zahlen für die Bekämpfung der Pandemie?
Heute verfügen wir über deutlich mehr Zahlen als früher. Bezüglich der Abschätzung der Dunkelziffer hinken wir aber noch immer anderen Ländern wie zum Beispiel Großbritannien hinterher, wo bereits seit April 2020 im Rahmen der REACT-Studie (Realtime Assessment of Community Transmission Study) regelmäßig zufällig ausgewählte Menschen getestet wurden, um einen Überblick über die wirklichen Inzidenzen zu bekommen. Dabei zeigte sich: Diese lagen in der Bevölkerung teilweise bei über 1.000 pro 100.000 Einwohner*innen! Viele Daten zu den Infektionsketten existieren bei den Gesundheitsämtern schon. Offenbar fehlt aber die Kapazität, diese auszuwerten. Für mich ist das größere Problem allerdings die Unzuverlässigkeit der Datenübertragung, Stichwort: Meldeinzidenzen nach Ostern. Dass die Meldeketten der Gesundheitsämter zum RKI immer noch tageweise Verzug haben und die Zahlen nicht stimmig sind ist ein Jahr nach Beginn der Pandemie aus meiner Sicht nicht mehr entschuldbar.
Viele Intensivmediziner*innen berichten, dass sich die Liegedauern derzeit verlängern. Müssen wir bald mit einer Überlastung der Kliniken rechnen?
Dass sich die Liegedauern verlängern sehen wir derzeit leider nur anhand der auf nationaler Ebene erhobenen Daten des DIVI-Registers zu den Zu- und Abgängen. Derzeit (Stand: 20.4.) haben wir eine mittlere Liegedauer von ca. 13 Tagen. Ein genaueres, lokales Modell zur Abschätzung der Liegedauer wäre aus unserer Sicht sehr wünschenswert. Die Daten sind in allen Kliniken vorhanden und Liegedauern wären relativ schnell schätzbar und den Alterskategorien zuzuordnen. Wahrscheinlich fehlt dort derzeit aber das Personal zur Umsetzung. Vielleicht spielt auch der Datenschutz eine Rolle, wobei man die Daten leicht anonymisieren könnte. Aus meiner Sicht ist momentan aber nicht der Zeitpunkt, in Panik zu verfallen. Das sage ich hier als Statistiker, nicht als Intensivmediziner. Dass die Mediziner*innen und Pfleger*innen in den Kliniken derzeit eine hohe Arbeitslast tragen, dass ihnen langsam die Puste ausgeht und womöglich durch Personalmangel zusätzliche Probleme auftreten, möchte ich nicht bestreiten.
Im Januar und Februar ging durch die Presse, es habe im Jahr 2020 eine massive Übersterblichkeit gegeben. Wie sehen Sie das und wie sieht es aktuell aus?
Das Statistische Bundesamt hat für 2020 eine um fünf Prozent höhere Sterblichkeit errechnet als 2019. Aus meiner Sicht gab es altersadjustiert aber keine nennenswerte Übersterblichkeit: Im Jahr 2019 ist die Grippewelle sehr schwach ausgefallen. Die Sterbezahlen waren damals um zwei Prozent geringer als sonst. Außerdem steigen die Sterbezahlen allein durch die Alterung der Bevölkerung jährlich um ca. zwei Prozent. Weil 2020 ein Schaltjahr war gab es zudem einen zusätzlichen Todestag, der für ein weiteres Drittel Prozent an Toten verantwortlich war. Zusammengerechnet ergibt dies eine Abweichung von 4,33 Prozent zum Jahr 2019. Wenn es also überhaupt eine Übersterblichkeit in 2020 gab, so lag diese, wenn man es altersadjustiert betrachtet, nicht einmal bei einem Prozent. Lokal und wochenweise betrachtet gab es vor allem im Monat Dezember jedoch durchaus Übersterblichkeiten. In Sachsen starben damals im Dezember 2020 fast doppelt so viele Menschen wie im gleichen Zeitraum 2019, in Thüringen war es ähnlich. Auch Bayern und Baden-Württemberg waren stark betroffen. Erfreulicherweise ging die extrem steile Kurve im neuen Jahr genauso steil wieder zurück. In Thüringen und Sachsen haben die Todeszahlen heute ein normales Niveau erreicht, in Baden-Württemberg und Bayern gibt es, wie gesagt, derzeit sogar eine Untersterblichkeit.
MÄA Heft Nr. 10 vom 07.05.2021
Das Gespräch führte Stephanie Hügler